Das Leben genießen – in Hingabe oder Distanz?
Klaus Straßburg | 04/08/2021
Was bedeutet es eigentlich, konsequent auf Gott zu vertrauen? Müsste es nicht bedeuten, in einer gewissen Distanz zur Welt und ihren Freuden zu leben? Oder ermöglicht uns das Vertrauen zu Gott gerade, das, was Gott zu unserer Freude geschaffen hat, uneingeschränkt zu genießen? Sollen wir uns den weltlichen Freuden hingeben oder die Distanz zu ihnen wahren?
Der jüdische Dichter Jehuda Halevi (1074-1141) hat dies in einem seiner Gedichte zum Thema gemacht. Er gilt als der bedeutendste hebräische Dichter des Mittelalters [1].
Der Jude Franz Rosenzweig (1886-1929) hat Nachdichtungen der Hymnen und Gedichte Halevis geschaffen. Dabei handelt es sich um Übertragungen aus dem Hebräischen, welche die ursprünglichen Texte in neu geschaffenen Gedichten wiedergeben.
Franz Rosenzweig ist einer der bedeutendsten jüdischen Denker des 20. Jahrhunderts. Er wurde als Sohn liberaler jüdischer Eltern in Kassel geboren, studierte zunächst Medizin und wechselte dann zu Geschichte und Philosophie [2]. Bekannt wurde vor allem seine Zusammenarbeit mit Martin Buber bei der Übersetzung des Alten Testaments ins Deutsche. Sein Hauptwerk ist aber das Buch Der Stern der Erlösung, dessen Glaubensaussagen in vielen Punkten dem christlichen Glauben nahestehen.
Rosenzweig zog ernsthaft in Erwägung, zum christlichen Glauben überzutreten. Wichtig war eine Begegnung mit dem zum Christentum übergetretenen Eugen Rosenstock-Huessy am 7. Juli 1913 in Leipzig. In einem nächtlichen Gespräch tauschten sich beide über ihren jeweiligen Glauben aus und über die Frage, ob man als Jude zum Christentum übertreten sollte. Nach diesem aufrüttelnden Gespräch dachte Rosenzweig gründlich über diese Frage nach und entschied sich schließlich, Jude zu bleiben. Er meinte, auch als Jude ein entschiedenes Leben im Glauben führen zu können, so wie er es bei seinen christlichen Freunden erlebt hatte.
1922 erkrankte Rosenzweig schwer an einer Schädigung der Nervenzellen, die zu Muskelschwund führt (auch ALS genannt). Die Krankheit ist unheilbar und führt innerhalb von drei bis fünf Jahren zum Tod [3]. In dieser Zeit entstanden auch die Nachdichtungen der Hymnen und Gedichte des Jehuda Halevi. Es ist überliefert, dass Rosenzweig seiner Frau zuletzt nur noch mit den Augenlidern diktieren konnte.
Eine dieser Nachdichtungen möchte ich euch heute vorstellen.
Des Jehuda Halevi
Sechsundneunzigstes Gedicht [4]
1 Wenn deinem Gott allein du harrst entgegen,
2 wie könnte dich der Tand der Welt erregen!
3 Wenn du in Wahrheit auf den Namen Gottes traust,
4 so sorg nicht, jauchze nicht des Weltlaufs wegen.
5 Doch so ists nicht! nein, wohnend in der Lüste Grab
6 verweigerst Zucht du, willst nicht überlegen!
7 Im Dunkeln wohnst du, siehst des Lichtes Ort nicht – wie
8 willst Gut und Bös du auseinanderhegen?
9 Nah ist dein Flug von hinnen! Wähl der Wahrheit Pfad.
10 Was schweifst du rechts und links zu Seitenwegen!
11 Die Tage trügen dich! eh noch ihr Trug gelang,
12 betrüge sie! So bist du überlegen.
13 Such Erbe für dich selbst, das ewig du ererbst,
14 lass, was dir nur erwirkt des Erben Segen.
Das alte Wort „Tand" (Zeile 2) bedeutet laut Duden Herkunftswörterbuch „leeres Geschwätz, wertlose Gegenstände" [5]. Im hebräischen Text steht ein Wort, das „das wechselvoll-zufällige Geschehen" bezeichnet [6].
Der Tand der Welt ist also das unberechenbare und wechselvolle Weltgeschehen, in dem nichts bleibt, wie es ist, und all unsere Wünsche, Pläne und Werke schnell dahin sein können. Insofern kommt ihnen eine gewisse Leere zu, und man kann sich mit Recht fragen, welchen Wert denn unser Planen und Schaffen eigentlich hat. Das Weltgeschehen und unser eigenes Schaffen sollten uns also nicht allzu sehr erregen, sollten nicht allzu große Bedeutung gewinnen. Nicht dass von vornherein all das völlig unbedeutend wäre, aber es soll uns nicht „erregen", sondern wir können ihm gelassen begegnen. Und zwar deshalb, weil das Entscheidende das ist, was Gott für uns bestimmt hat. Ihm allein sollen wir darum „entgegenharren" (Zeile 1).
Ich verstehe das so, dass auch das Weltgeschehen gerade dem Menschen wichtig wird, der Gottes Wirken darin erwartet – und auf Gottes Wirken wartet. Diesem Wirken sollen wir nicht vorgreifen, sondern ihm sozusagen folgen, wenn wir Gottes Wirken in der Welt erkannt haben.
Die Gefahr besteht darin, dass wir schnell den vielfältigen Verlockungen des Weltgeschehens folgen und Gottes Wirken mit diesem gleichsetzen – eben ohne seinem Wirken geduldig entgegengeharrt zu haben. Wir haben Wünsche, machen Pläne und setzen sie um, und wir gehen davon aus, dass dies alles schon Gottes Wollen und Wirken entsprichen wird – ohne nach seinem Wollen und Wirken ernsthaft gefragt zu haben.
Das Vertrauen auf Gott (Zeile 3) beinhaltet auch ein Harren auf Gott. Und es führt dazu, dass man wegen des Weltlaufs weder in Sorgen versinkt noch sich im Jubel bis an den Himmel erhebt (Zeile 4). Denn der Weltlauf ist, wie bereits festgestellt, wechselhaft, und der Grund von Sorgen und Jubel kann schnell zerbrochen sein.
Ich verstehe das nicht im Sinne einer kompletten Weltverneinung, die am Weltgeschehen gar nicht mehr teilnimmt, sondern sich auf eine innerliche Religiosität zurückzieht. Wir sollen uns schon bemühen, unser Leben und den Weltlauf positiv zu gestalten. Aber wir sollen nicht in Angst und Sorge versinken und depressiv werden. Sieht man sich den Weltlauf an, so gäbe es sicher genug Gründe dazu. Aber wir vertrauen nicht auf den Weltlauf, sondern auf die guten Mächte, die in diesem Weltlauf wirken, wenn ihre Zeit gekommen ist. So sind Unwillen und Freude über das Weltgeschehen durchaus möglich – gerade in dem Bewusstsein, dass auch das Weltgeschehen letztlich in Gottes Hand liegt. Darauf zu vertrauen macht unseren Glauben aus.
Das Neue Testament ruft mehrfach dazu auf, sich keine Sorgen zu machen. Jesus begründet die Sorglosigkeit um die grundlegenden Lebensgüter – Essen, Trinken, Kleidung, Lebenszeit – so: „Euer himmlischer Vater weiß, dass ihr das alles nötig habt" (Mt 6,32). Und Paulus mahnt: „Macht euch in keiner Weise Sorgen! Sprecht vielmehr in allen Angelegenheiten eure Bitten vor Gott aus – im Gebet und im Flehen zugleich mit Dankbarkeit" (Phil 4,6). Dem Bitten entspricht das Harren auf Gott: „Was bist du so bedrückt, meine Seele, und so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihn noch preisen [und] seine Heilstaten" (Ps 42,6).
Ich weiß, wie schwer uns gerade dieser Glaube fällt. Darum die Mahnung des Gedichtes! Sie wäre nicht nötig, wenn der Glaube uns leicht fiele. Es mag sein, dass es eine Mahnung an die eigene Seele ist (wie auch Ps 42). Darauf könnte der Vers hindeuten „Such Erbe für dich selbst" (Zeile 13).
Aber wer ermahnt sich schon selbst? Wir haben gelernt, unsere Freiheit und Selbstbestimmung zu preisen, nicht aber uns zu ermahnen und in Zucht zu nehmen (Zeile 6). So leben wir für kurzfristigen Lustgewinn, für den Kick, den das besondere Erlebnis uns bringt; leben in der Angst, etwas zu versäumen – und merken gar nicht, dass diese Konzentration auf den schnellen Genuss, die immer mehr Genuss fordert, schon den Tod in sich trägt. Sie ist „der Lüste Grab" (Zeile 5), weil die Forderung nach immer mehr zuletzt nicht befriedigt werden kann, sondern wie die Abhängigkeit von einer Droge zum Zusammenbruch führen muss.
Die Forderung nach Lebensfreude wird dann zum Grab des Lebens, wenn es kein Gegengewicht gibt; wenn die Sucht nach Genuss alles andere dominiert und zum einzigen Sinn wird. Die Zucht kann ein Gegengewicht bilden. Zucht ist ein altes, fast vergessenes Wort. Wer denkt schon daran, sich zu züchtigen? Die freie Selbstverwirklichung scheint jeder Selbstverpflichtung den Rang abgelaufen zu haben. Wo das Lustprinzip regiert, gibt es keine Pflichten mehr.
Aber es ist ein Irrtum zu meinen, dass Freiheit und Zucht sich ausschließen. Dietrich Bonhoeffer hat in seinem Gedicht Stationen auf dem Wege zur Freiheit die erste Strophe der Zucht gewidmet [7]:
Ziehst du aus, die Freiheit zu suchen, so lerne vor allem
Zucht der Sinne und deiner Seele, dass die Begierden
und deine Glieder dich nicht bald hierhin, bald dorthin führen.
Keusch sei dein Geist und dein Leib, gänzlich dir selbst unterworfen
und gehorsam, das Ziel zu suchen, das ihm gesetzt ist.
Niemand erfährt das Geheimnis der Freiheit, es sei denn durch Zucht.
Kurz gesagt: Die Freiheit gibt es nur in der Konzentration auf das uns von Gott gesetzte Ziel. Lässt man sich hingegen vom Lustprinzip treiben, so liefert man sich ihm aus und ist in ihm gefangen. Denn schon Friedrich Nietzsche wusste [8]:
O Mensch! Gib Acht!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
Ich schlief, ich schlief –,
Aus tiefem Traum bin ich erwacht: –
Die Welt ist tief,
Und tiefer als der Tag gedacht.
Tief ist ihr Weh –,
Lust – tiefer noch als Herzeleid:
Weh spricht: Vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit –,
– will tiefe, tiefe Ewigkeit!
Diese Ewigkeit aber kann sich die Lust nicht verschaffen; darum kommt sie nicht von sich selbst los, sondern muss sich immer neue Befriedigungen suchen.
Der in seiner Genusssucht gefangene und von ihr getriebene Mensch lebt in der Finsternis des Lustgewinns, die weder Gut noch Böse kennt und sie darum auch nicht voneinander unterscheiden kann (Zeilen 7 und 8); denn es geht ihr einzig und allein um Lustbefriedigung.
Ethik kann deshalb nur in der Freiheit gelingen. Freiheit aber gibt es nur in der Loslösung vom Getrieben-sein. Diese Loslösung erleben diejenigen, die sich darauf verlassen, von Gott alles zu bekommen, was ihr Leben ausmacht, was ihm Sinn gibt und es zum Ziel führt.
Dietrich Bonhoeffer mag als Beispiel dienen. Sein Leben war kurz, wurde von den Nazis ausgelöscht. Man könnte meinen, er hätte von Gott gerade nicht das bekommen, was ein erfülltes Leben ausmacht. Doch die Wirkung seines Lebens, seiner Schriften und seiner Briefe aus der Haft sprechen eine andere Sprache. Hier hat jemand, der früh sterben musste, unvorstellbar viel Gutes bewirkt und wirkt bis heute durch seine Schriften.
Auch Franz Rosenzweig musste früh sterben. Aber auch er wirkt durch seine Schriften bis heute.
Wer sagt uns eigentlich, dass ein kurzes Leben kein erfülltes und sinnvolles sein kann?
Als Rosenzweig seine Nachdichtung verfasste, war er bereits todkrank: „Nah ist dein Flug von hinnen!" (Zeile 9) Das hebräische Wort, das dort steht, meint „das unstet Flüchtige, das Entschwinden, den Flug der Taube, den Tod, der die Seele entfliehen lässt" [6]. Gegen den Tod hilft nur eins: den Weg der Wahrheit zu gehen.
Auf dem Weg der Wahrheit muss man die Tage des Betrugs betrügen (Zeilen 11 und 12). Man darf sich von ihnen, die mit Lüsten locken, nicht abhängig machen. Aber warum muss man sie betrügen? Vielleicht meint Rosenzweig, dass man sich nur scheinbar ganz auf seine Lebenstage einlassen darf. Man lebt in ihnen, man lebt auch die Lust und die Freude, aber man gibt sich ihnen nicht mit Leib und Seele hin. Man wahrt die Distanz zu ihnen. Man liefert sich ihnen nicht aus. So bleibt man "Herr im Haus", so bleibt man dem Betrug überlegen.
Auf dem Weg der Wahrheit betrügen wir den Lustgewinn, indem wir ihn zwar genießen, aber uns ihm nicht ausliefern und von ihm abhängig machen.
Das Ziel ist ein anderes: das ewige Erbe (Zeile 13). Wir lassen zurück, was uns nur irdischen, vorübergehenden Segen bringt (Zeile 14). "Des Erben Segen" ist der Segen dessen, der selbst nur Erbe ist. Wir aber suchen den Segen dessen, der uns das Erbe zuspricht und überlässt. Nur er kann ewigen Segen spenden.
Spricht aus diesen Zeilen Weltflucht und Weltverneinung? Ist die Freude, die sich nicht ganz auf die Welt einlässt, noch Freude? Kann ein Leben aus der Distanz zu Lust und Genuss sich noch ehrlich des Lebens freuen? Es scheint, als müsste man mit Nein antworten. Aber vielleicht besteht der Betrug der Tage gerade darin, uns einzureden, dass es nicht sein kann. Und diesem Betrug muss man mit Betrug antworten, wenn man in der Wahrheit bleiben will.
Paulus schrieb (1Kor 7,29-32a):
Dies sage ich, Brüder [und Schwestern]: Die Zeit ist begrenzt; künftig sollen die, die Frauen haben, sein, als hätten sie keine; und die weinen, als weinten sie nicht; und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die kaufen, als behielten sie es nicht; und die die Welt nutzen, als nutzten sie sie nicht; denn die Gestalt dieser Welt vergeht. Ich will aber, dass ihr sorgenfrei seid.
Der christliche Glaube ist eine Gratwanderung – wie das ganze Leben.
[1] Siehe Wikipedia.
[2] Siehe zum Leben Rosenzweigs Wikipedia.
[3] Siehe Wikipedia.
[4] Ich zitiere das Gedicht nach Michael Brocke: Rosenzweigs Sechsundneunzigstes. In: Zeitschrift „Kalonymos", 15. Jahrgang 2012, Heft 1, Seite 8; im Heftarchiv unter der Nr. 201 zu finden. Zuerst begegnete mir das Gedicht in einer Predigt von Prof. Dr. Klaus Müller, der das Gedicht in den Kontext der aktuellen Lage der katholischen Kirche und der Machtkämpfe innerhalb der römischen Kurie stellt.
[5] Duden Band 7: Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache. 2. Aufl. Mannheim u.a. 1989.
[6] Kalonymos S. 9; siehe oben Anm. 4.
[7] Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Herausgegeben von Eberhard Bethge. 3. Aufl. München 1985. S. 403.
[8] Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. In: Gesammelte Werke. Anaconda Verlag, Köln 2012 (Text nach der dreibändigen, von Karl Schlechta im Hanser Verlag, München 1954-1956 herausgegebenen Werkausgabe). S. 612.
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Wozu also eine enge Bindung an ...
dieses endliche Leben und diese vergängliche Welt?!
Dies aber sage ich zu eurem eigenen Nutzen,
nicht, um euch einzufangen, einzuschränken und gefügig zu machen,
sondern wegen der Ehrenhaftigkeit und der Beständigkeit,
damit ihr beim Herrn bleibt und bleiben könnt,
ohne solche bindenden Ablenkungen.