Das Ende des Schmerzes
Klaus Straßburg | 03/02/2020
Es war keine schöne, künstlerische Schrift, sondern mehr ein Gekritzel an der Wand. Nicht gesprüht, sondern mit schwarzem Stift auf den grauen Untergrund geschrieben. Ein ungelenkes Graffiti unter vielen anderen, ohne ästhetischen Anspruch. Daneben Liebeserklärungen, Hassparolen und Unverständliches. Nichts, was einen aufhorchen ließ. Aber mit diesem Spruch war es anders. Er stand in der Unterführung des kleinen Dorfbahnhofs, den ich oft benutzte, um mit dem Zug in die Stadt zu fahren. Und jedes Mal, wenn ich dort vorbeikam, musste ich auf den Spruch schauen. Er ließ mich nicht mehr los und beschäftigte mich sogar noch, als ich den Bahnhof schon längst verlassen hatte.
„Hold on – pain ends" hatte da jemand auf die Wand geschrieben. „Halte durch – der Schmerz hat ein Ende." Ich weiß nicht, wer es geschrieben hat und was er erlebt hat. Aber er wird aus eigener Erfahrung geschrieben haben. Es muss also ein Mensch gewesen sein, der gelitten hat und der erlebt hat, dass sein Leiden ein Ende nahm. Vielleicht hatte er nicht damit gerechnet, dass es noch einmal ein Ende nehmen würde. Manchmal kommt uns das Leid so nah, ist der Schmerz so groß, dass er alle unsere Gefühle auf sich zieht und wir die Hoffnung verlieren, dass er einmal ein Ende haben wird.
Das Lebensfeindliche in dieser Welt bläht sich immer auf, drängt sich in den Vordergrund und will alle Hoffnung zunichte machen. Es stellt sich als die einzige Wirklichkeit dar und will uns den Blick für alle andere Wirklichkeit verstellen. So werden wir blind für das Gute, das Positive, die Schönheit des Lebens.
Es ist nicht immer leicht, den Blick zu wenden. Was gibt uns dazu Anlass? Sicher, es ist eine Erfahrung, dass viele Leiden, auch große, nach einer Zeit ihre Kraft verlieren. Gott hat uns so geschaffen, dass wir viel Bedrückendes überwinden können. Das ist der Funke Wahrheit an dem Sprichwort: „Die Zeit heilt alle Wunden." Aber es ist nur ein Funke Wahrheit. Denn die Zeit heilt zwar viele Wunden, aber nicht alle.
Ja, es gibt sie, die Selbstheilungskräfte der Seele. Aber es gibt eben auch die anderen Wunden, die nicht verheilen. Die so tief sind, dass wir sie vielleicht nur notdürftig überdecken können. Aber so werden wir sie nicht los. Sie tauchen immer wieder auf aus den Tiefen unserer Seele. Und es gibt auch körperliche Leiden, die kein Ende nehmen.
Ist es also gar nicht wahr: „Halte durch – der Schmerz hat ein Ende"? Ist es nur eine billige Vertröstung, die der Realität nicht standhält? Ein schnell hingeworfener Spruch wie „Kopf hoch!" oder „Alles wird gut"?
Wenn wir auf unser Leben in dieser Welt schauen, können wir sagen: Es hat wirklich jeder Schmerz ein Ende – spätestens mit unserem Tod. Doch dieser Satz entbehrt nicht des Aberwitzes. Als ob nicht der Tod auch ein Schmerz wäre, vielleicht sogar der größte Schmerz unseres Lebens. Wie sollte das Ende unseres Lebens nicht einen Schmerz mit sich bringen? Wie sollte das Nicht-Sein uns in unserem Sein nicht zutiefst irritieren und in Frage stellen?
Für Paulus ist der Tod ein Feind (1Kor 15,26), er hat einen schmerzlichen Stachel (1Kor 15,56). Ist das nicht realistischer als der heroische Gleichmut, mit der manche Menschen dem Tod gegenüberzustehen scheinen? Mir jedenfalls kommt dieser Gleichmut vordergründig vor, vielleicht auch nur gespielt. Für mich stellt das Nicht-Sein unser ganzes Leben in Frage, raubt ihm seinen Sinn.
Darum kann ich auch dem Satz „Halte durch – der Schmerz hat ein Ende" nur dann einen Trost abgewinnen, wenn ich über unser irdische Leben hinausblicke: Es gibt noch ein anderes Leben, von dem die Bibel sagt: „Der Tod wird nicht mehr sein, weder Klage noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein" (Offb 21,4). In diesem neuen Leben wird jeder Schmerz tatsächlich ein Ende haben. Und das Wunderbare ist: Es gibt dieses Leben umsonst, gratis (Offb 21,6b; 22,17b). Gott schenkt es jedem Menschen, der es haben will und ihm sein Leben anvertraut.
Wenn wir darauf vertrauen, dass Gott uns dieses Leben schenken will, müssen wir im Schmerz nicht resignieren: Es gibt ja immer Hoffnung. Wir müssen das Leid auch nicht verherrlichen: Leid ist nichts Gutes, Erstrebenswertes; Gott will es nicht. Wir müssen den Schmerz auch nicht verdrängen: Wir können ihn uns bewusst machen, denn er kann uns nicht ewig belasten. Seine Macht ist vielmehr schon gebrochen, sein Ende beschlossene Sache. Dennoch ist er da und kann sich noch schwer an uns austoben.
Dann heißt es Durchhalten. Aushalten und Ertragen. Wir müssen da durch, ob es uns gefällt oder nicht. Aber Gott verspricht uns: „Wer [das Leid] überwindet, wird dieses [schmerzfreie ewige Leben] empfangen, und ich werde ihm Gott sein, und er wird mir Sohn [oder Tochter] sein" (Offb 21,7).
„Hold on – pain ends." Manchmal ist unser Herzensgekritzel wertvoller und weiser als alles fein Gedruckte und tausendmal Durchdachte.
* * * * *