Das Böse ist schon besiegt
Klaus Straßburg | 23/03/2022
Die abgebildete Skulptur begegnete mir überraschend in der Fußgängerzone von Kiel. Sie steht direkt vor einem alten Gotteshaus aus roten Backsteinen, der Nikolaikirche. Ich habe die Figur mit dem Schwert sofort als den Erzengel Michael gedeutet. Der Erzengel führt nach Offb 12,7-12 zusammen mit seinen Engeln im Himmel Krieg gegen den Teufel und seine Engel. Der Teufel wird als Drache bezeichnet. Michael und seine Engel besiegen den Teufel und seine Engel und werfen sie alle aus dem Himmel heraus auf die Erde, wo sie noch eine kurze Frist haben, sich auszutoben. So die Erzählung in der Offenbarung.
Das klingt alles sehr mythologisch. Doch dazu später mehr. An der Kirchenwand neben der Skulptur war eine Info-Tafel angebracht, aus der hervorging, dass die Bronzeplastik von Ernst Barlach (1870-1938) stammt, der in Schleswig-Holstein geboren wurde. Sie wurde im Jahr 1928 zunächst an anderer Stelle in Kiel aufgestellt, und zwar ohne feierliche Zeremonie, weil das Kunstwerk vom Großteil der Bevölkerung abgelehnt wurde. Die Kieler nannten die namenlose Skulptur Geistkämpfer, und der Künstler übernahm diese Bezeichnung. Von den Nazis wurde die Skulptur 1937 als „entartete Kunst" entfernt, und sie konnte nur mit knapper Not vor dem Einschmelzen gerettet werden.
Ernst Barlach schuf ca. 450 Plastiken, von denen etliche auch einen christlichen Hintergrund haben und in Kirchen ihren Platz fanden. Er wird zu den Expressionisten gezählt. Durch die Unterstützung des Kunsthistorikers Michael Kröger kann ich einige charakteristische Merkmale des Expressionismus benennen:
Die expressionistischen Künstlerinnen und Künstler wollten ihr subjektives Erleben und Fühlen darstellen. Zu diesem Zweck verzichteten sie auf überflüssige Details und reduzierten ihre Figuren auf das Wesentliche: Sie nutzten die Stilmittel der Vereinfachung und Abstraktion, um den Wesensgehalt einer Figur zum Vorschein zu bringen. Das Motiv wurde also nicht naturgetreu dargestellt, sondern übersteigert und auf das Wesentliche konzentriert. Im Zentrum des künstlerischen Schaffens stand der Mensch mit seinen Erfahrungen, Gefühlen und seinem ganzen Seelen- und Geistesleben.
Auch Ernst Barlach bildet in der Skulptur Geistkämpfer die Gefühle des Engels und des Tieres ab, vor allem durch die Gestaltung der Köpfe. Nebensächliche Details interessieren ihn nicht, sondern das, was in den Figuren vorgeht. Schon als ich die Skulptur in Kiel anschaute, stellte ich fest, dass der Engel gar nicht triumphierend aussieht, sondern traurig.

Freut sich der Engel nicht über den Sieg? Vielleicht ist er deshalb traurig, weil das Tier, Symbol des Bösen, noch nicht erlegt ist. Das Schwert ist zwar schon wie zum Schlag erhoben, aber der Schlag noch nicht ausgeführt. Eigentlich ist die tödliche Schwertspitze am weitesten vom Tier entfernt. Der Engel hat zwar schon die Macht über das Tier – er steht ja auf ihm –, aber er kann sein Fauchen und Zähnefletschen noch nicht verhindern.
So blickt der Engel auch nicht auf das Tier, wie es im Kampf sein müsste. Denn der Kampf ist schon entschieden; das Schicksal des Tieres ist besiegelt. Sondern der Engel blickt den Betrachter an. Es macht ihn traurig, wenn er uns Menschen sieht, die wir an ihm und dem Tier vorbeilaufen und noch immer unter dem Wüten des Tieres leiden.
Dieser Deutung entspricht auch die Darstellung des Tieres. Es zeigt seine Zähne, aber das Maul ist nur halb geöffnet und die Augen sind ebenfalls halb geschlossen. Der Kopf sieht eher leidend und schmerzverzerrt aus als kämpfend oder jagend.

Offenbar weiß das Tier, dass es den Kampf bereits verloren hat. Es setzt nicht etwa zum Sprung an, um sein Opfer zu töten, sondern steht fest auf seinen vier Beinen, hat es doch die Last des Engels zu tragen. Der Schwanz ist eingezogen, und eigentlich kann das Tier, so wie es dort steht und sich nicht von der Stelle bewegen kann, niemandem mehr etwas zu Leide tun. Es knurrt die Betrachtenden geradezu wütend an, aber zu mehr ist es nicht in der Lage.
Auf der Info-Tafel neben der Skulptur stand noch der Satz:
In dem schwerttragenden Engel auf dem wolfsähnlichen Wesen ist der Sieg des Guten über das Böse dargestellt.
Ganz ähnlich fand ich im Internet folgende Interpretation des Kunstwerks:
Der Künstler gestaltet einen Engel, der ein langes Schwert nach oben streckt, während er auf dem Rücken eines grimmigen Tieres steht. Der Engel dominiert damit das wilde Tier, ohne es zu vernichten. Damit steht er symbolisch für die Kraft des Geistigen und der Kultur, die stärker sind als die dunklen Triebe.
Das ist nun eine rein weltliche Deutung des Kunstwerks. Es wird damit gesagt, dass die im Menschen liegenden Kräfte des Guten stärker sind als die des Bösen. Das, was der Mensch durch seinen Geist hervorbringt und was sich in der zivilisierten Kultur niederschlägt, hat angeblich mehr Macht als das Dunkle, das auch im Menschen ist.
Ich kann das, nicht nur angesichts des Kriegs in der Ukraine, nicht glauben. Mir scheint im Gegenteil die Zerstörungswut des Menschen größer zu sein als die guten Kräfte in ihm. Man kann beobachten, dass der Mensch überall dort, wo er nicht durch eine ihn bändigende Macht in Schach gehalten wird, seine „dunklen Triebe" hemmungslos auslebt. Die Hass- und Gewaltausbrüche in der Anonymität des Internets mögen ein Beispiel dafür sein. Oder der Verlust jeglicher Hemmungen im Krieg, wenn es keine staatliche Gewalt mehr gibt. Mir scheint, dass der Mensch dort, wo er keinen Nachteil für sich selbst mehr fürchten muss, zu einem zerstörerischen Wesen wird.
Gegenüber einer rein weltlichen Deutung der Barlach-Skulptur erscheint die Geschichte vom Kampf des Erzengels Michael gegen den Teufel geradezu wie aus einer anderen Welt. Die Offenbarung schildert ein Geschehen nicht auf der Erde, sondern im Himmel. Damit wird das Geschehen zu einem Mythos. Denn ein Mythos ist eine Geschichte, die Vorgänge zwischen Göttern, Halbgöttern und Dämonen erzählt. Er will damit etwas ausdrücken über den Ursprung und das Wesen der Welt, des Menschen sowie irdischer Verhältnisse und moralischer Normen. Ein Mythos will das, was jetzt existiert, als Auswirkung eines übernatürlichen, himmlischen Geschehens erklären.
Was will nun das biblische Buch der Offenbarung uns damit sagen, dass der Erzengel Michael mit seinem Gefolge den Teufel mit seinen Dämonen im Himmel besiegt und auf die Erde wirft? Diese Geschichte will zum Ausdruck bringen, dass der Teufel im Himmel, im Herrschaftsbereich Gottes, keinen Platz mehr hat. Im Himmel ist das Böse schon besiegt – ein für allemal.
Auf der Erde jedoch, wo die Gottlosigkeit noch Raum hat, ist ihm „noch eine kurze Zeit" (Offb 12,12) gegeben. In dieser Zeit leben wir. Es ist die Zeit zwischen der Kreuzigung und Auferstehung Jesu Christi und dem von Gott bestimmten Ende der Welt. In dieser Zeit ist die Macht des Bösen bereits gebrochen. Es tobt sich zwar noch aus, aber es ist das Toben und Zappeln des schon tödlich Getroffenen. Der Kampf ist bereits entschieden: Christus ist Sieger - auch wenn es uns oft anders vorkommt. Aber unsere Zeit ist auch die Zeit derer, die glauben, dass sie trotz alles Bösen in der Welt nichts mehr von Gottes Liebe trennen kann. Und es ist die Zeit, in der die Glaubenden diesen Glauben vor aller Welt bezeugen sollen. Freilich ist es auch die Zeit, in der es für die Glaubenden darum geht, Widerstand und Verfolgung leidend zu überwinden (Verse 10f). Darum ist auch die Erde vom Jubel über die Besiegung des Bösen ausgenommen; gejubelt wird vorerst nur im Himmel (Vers 12).
Das erinnert mich wieder an den Geistkämpfer. Ich sprach schon von seiner Traurigkeit. Von Jubel ist auf seinem Gesicht keine Spur. Etwas freudiger könnte er meiner Meinung nach schon aussehen. Immerhin dominiert er ja das wilde Tier sehr deutlich. Die Christenheit jedenfalls empfand immer die Freude darüber, dass das Böse bereits besiegt und es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis es endgültig abgeschafft sein wird: dann nämlich, wenn Gott einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen wird. Davon weiß auch die Offenbarung zu erzählen (siehe Offb 21,1-8).
Ob Ernst Barlach den Erzengel Gabriel darstellen wollte oder „die Kraft des Geistigen und der Kultur", ist mir nicht bekannt. Ich jedenfalls halte mich lieber an die Kraft Gottes. Sie vermag allemal mehr als der Mensch, und sei er geistig und kulturell noch so hochstehend. Was in einer geistig und kulturell hochstehenden Gesellschaft möglich ist, zeigt uns ja gerade der Krieg in der Ukraine.
Merkwürdig finde ich nur, dass viele Menschen völlig überrascht und entgeistert darüber sind, dass so etwas in Europa noch passieren kann. Als ob der Mensch jemals anders gewesen sei. Oder als ob er sich immer weiter zum Guten hin fortentwickelt hätte. Ich halte diesen Fortschrittsglauben für eine Illusion.
Darum setze ich nicht auf menschliche Kräfte, sondern auf Gottes Kraft. Auch im Ukraine-Krieg. Der Geistkämpfer symbolisiert für mich nicht den Sieg des Menschen, sondern den Sieg Gottes über das Böse. Und der Geist ist nicht menschlicher Geist, sondern der gute Geist Gottes; der Geist, den Gott ausgießen kann, so dass Menschen von innen her verändert – nein: erneuert werden. Die Veränderung ist so radikal, dass sie sozusagen neue Menschen werden. „Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden" (2Kor 5,17) – auch wenn das Alte aufgrund unserer Unvollkommenheit immer wieder auftaucht und sein Unwesen treibt.
Gott kann übrigens nicht nur die Glaubenden, sondern auch die anderen verändern. Er kann den Mächtigen Gedanken des Friedens ins Herz geben, auch wenn sie dann nicht gleich zu gläubigen Christen werden.
Dass diejenigen, die über den Ukraine-Krieg entscheiden, Gedanken des Friedens ins Herz bekommen, darum können wir nur bitten. Und solange noch Krieg herrscht, müssen die davon Betroffenen, wie die Offenbarung sagt, das Böse leidend überwinden (Offb 2,7; 21,7). Leidend, aber nicht ohne Hoffnung. Das mag ein schwerer Weg sein. Aber es ist ein Weg, mit dem Leid zu leben und es dennoch nicht als die größte und letzte Macht zu betrachten.
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du schreibst in deiner höchst aktuellen Interpretation von Barlachs "Geistkämpfer" sehr zu Recht: "Christus ist Sieger - auch wenn es uns anders vorkommt." Und weiter: "Der Geistkämpfer symbolisiert den Sieg Gottes über das Böse." Jedoch empfinde ich den Gesichtsausdruck des Erzengels Michael nicht als traurig, sondern vielleicht eher als Ausdruck einer Art inneren Zuversicht - gerade so als würde er sich, etwas verschämt, nicht zutrauen versteckt zu lächeln. So wie dieser Engel zwischen Himmel und Erde steht, so lebt er vielleicht auch in einem unbekannten, inneren Niemandsland: zwischen der Trauer über das, was er - nicht nur heute - mitansehen muss und der festen Zuversicht, dass alles noch ganz anders kommen möge ...
vielen Dank für deine interessante Deutung. Der Gesichtsausdruck des Engels hat tatsächlich etwas nach innen Gekehrtes. Dass er sich zwischen Traurigkeit und Zuversicht bewegt, kann ich gut nachvollziehen. Die Traurigkeit besteht dann gerade darin, dass das, was eigentlich möglich wäre, durch menschliches Versagen noch nicht geschieht. Und die Zuversicht ist die Gewissheit, dass das, was jetzt noch fehlt, unvermeidbar kommen wird. So gesehen hat der Gesichtsausdruck etwas Kontemplatives, Spirituelles: Im Glauben wird schon das vorweggenommen, was noch nicht ist, zugleich aber die gegenwärtig-unvollkommene Wirklichkeit nicht abgewertet, sondern als Vorraum des Kommenden ernst genommen.
die Skulptur finde ich großartig und überlege, ob ich mich mal nach einer kleinen Replika davon umsehe. Der starke, aber auch empathiefähige Engel, darunter ein Wolf (eine Wölfin ((Assoziation: Römische Wölfin)), die ihm unterlegen und unterworfen ist. Mich wundert es überhaupt nicht, dass sich die Nazis, deren Führer sich gern 'Wolf' genannt hat (vgl. 'Wolfsburg', 'Wolfsschanze') sich davon provoziert gefühlt haben.
"Die Herren dieser Welt gehen, unser Herr kommt!"
Gustav Heinemann.
Viele Grüße
Thomas
https://bildhauerei-in-berlin.de/bildwerk/geistkaempfer-4597/
danke für deine Ergänzungen. Ist ja interessant, dass es in Berlin eine Replik der Skulptur gibt. Ja, das Tier erinnert an die römische Wölfin. Interessant finde ich auch deine Bezugnahme auf den Nazi-Führer. Gustav Heinemanns Wort klingt wie eine treffende Interpretation der Skulptur.
Viele Grüße
Klaus