Corona – Strafe oder Lehre?
Klaus Straßburg | 19/02/2021
Es gibt Christinnen und Christen, die behaupten, die Corona-Pandemie sei eine Strafe Gottes. Ich frage mich dann immer: Woher wissen die das? Ist für sie jedes Unheil, das geschieht, eine Strafe Gottes? Und was bedeutet es eigentlich, dass Gott uns straft?
Das Wort „Strafe" weckt bestimmte Assoziationen. Man denkt an die strafenden Eltern und den Staat, der Kriminelle bestraft. Unrecht muss nach unserer Rechtsordnung bestraft werden: Der Täter muss für seine Taten büßen. Strafe muss sein. Und schnell überträgt man diese ganz weltliche Vorstellung von strafenden Autoritäten auf Gott. Er ist dann der allen Menschen übergeordnete Richter, dem nichts entgeht und der jedes Unrecht bestraft.
Aber redet die Bibel wirklich so von Gott? Ist das der Gott, an den Christen glauben?
1. Der rettende Richter
Tatsächlich wird Gott in der Bibel auch als Richter beschrieben, der Gerechtigkeit schafft. Diese Gerechtigkeit besteht nun aber nicht darin, dass Gott Strafen verhängt, weil eben jede böse Tat bestraft werden muss. Es geht vielmehr um zwei Dinge: Zum einen soll der Übeltäter von seinem bösen Weg abgebracht und auf einen guten Weg gerufen werden. Und zum anderen soll der Geschädigte vom Übeltäter und seinen Taten befreit werden (Ps 82,1-4).
Gottes Richten soll also immer Gutes bewirken: Der Übeltäter soll fortan Gutes tun und das Leid des Geschädigten soll ein Ende nehmen. Gottes Richten ist nichts anderes als Retten. Darum auch kann Gottes Richten mit Jubel begrüßt werden (Ps 96,10-13; 98,4-9).
Das klingt ganz anders als die Vorstellung von dem strafenden Gott, oder?
Wir müssen Abschied nehmen von der Vorstellung, dass Gott zwei Seiten habe, eine barmherzige, gnädige einerseits und eine strafende, richtende andererseits. Wir müssen lernen, dass Gottes Richten nichts anderes ist als die Ausübung seiner Barmherzigkeit. Im Gericht begegnet uns kein anderer als der barmherzige Gott, der es gut mit uns meint.
Wenn wir das auf die Corona-Pandemie beziehen, dann ist sie nicht einfach eine Strafe Gottes, vor der man nur erzittern könnte. Sie ist vielmehr etwas, das Gott zwar geschehen lässt, aber nicht, um uns zu quälen, sondern um uns zum Guten zu bewegen und vor dem Bösen zu retten.
Die richtige Frage wäre dann nicht: „Für welche Sünden straft uns Gott?", sondern: „Was können wir aus der Pandemie lernen?"
Die Pandemie soll dadurch nicht verharmlost werden. Sie ist und bleibt eine leidvolle Erfahrung. Aber wir können gerade aus leidvollen Erfahrungen lernen.
Die sogenannte Weisheitstradition des Alten Testaments (vor allem in den Büchern Sprüche, Prediger und Hiob) weiß darum, dass rechtes Handeln auch etwas mit Lernen zu tun hat (z.B. Spr 1,1-7).
Was also können wir aus der Pandemie lernen? Mir sind vier Punkte eingefallen, die bestimmt nicht vollständig sind.
2. Den Tieren ihren Raum lassen
Das Virus ist von Tieren auf den Menschen übergesprungen, wie übrigens schon andere Viren vor ihm. Mit anderen Worten: Wir kommen den Tieren zu nah. Wir dehnen uns immer mehr aus in ihre Räume hinein. Wir Menschen können nicht genug Raum einnehmen und rauben den Tieren ihren Raum. Wir fangen oder töten sie und nehmen sie mit in unseren Lebensbereich, wo wir sie auf dem Markt anbieten. Biologen sagen schon lange, dass wir uns in unserer Gier zu weit in den Bereich der Tiere hineinbegeben.
Wir können also lernen, dass wir den Raum, den der Schöpfer den Tieren gegeben hat, achten und nicht für uns erobern. Es geht nicht darum, keinen Kontakt mehr zu Tieren zu haben. Aber es geht darum, den Lebensraum der Tiere zu respektieren und damit den Willen des Schöpfers ernst zu nehmen. Es geht darum, nicht maßlos zu werden in unserem Drang, alles in der Welt zu beherrschen. Das heißt auch, das Wohlergehen der Tiere, unserer Mitgeschöpfe, zu achten und zu fördern.
3. Das rechte Maß wiederfinden
Durch den heute üblichen weltweiten Reiseverkehr hat sich das Virus schnell in der ganzen Welt verbreitet. In der globalisierten Welt ist es selbstverständlich, dass Konzerne global agieren, Waren weltweit vertrieben werden und Menschen innerhalb von Stunden den Kontinent wechseln. Das alles dient angeblich dem menschlichen Wohlergehen. Doch gibt es nicht wenige Verlierer der Globalisierung, und der weltweite Reise- und Handelsverkehr hat einen erheblichen Anteil an der Klimaerwärmung.
Zwar lässt sich das Rad nicht zurückdrehen, aber die Frage muss erlaubt sein, ob die Grenzen des Nützlichen nicht überschritten sind. Es könnte sein, dass wir auch in dieser Hinsicht das rechte Maß verloren haben. Die negativen Auswirkungen der Globalisierung könnten ihre Vorteile bereits übertroffen haben. Es gibt offensichtlich ein maßloses weltweites Gewinnstreben, das uns nicht guttut. Es gibt ein Verlangen nach fernen Ländern, das uns der Nähe entfremdet. Es gibt die Sehnsucht nach immer neuen und exotischen Eindrücken, die sich nicht zufriedengeben kann mit dem Ort, an den Gott uns gestellt hat.
Was wir wieder lernen können, ist die Entdeckung des Wunderbaren im Alltäglichen. Das Wunderbare, Staunenswerte wartet nicht nur auf fernen Kontinenten. Es ist ganz nah, wir müssen es nur sehen. Das Wunderbare ist schon der Mensch an unserer Seite. Das Verlangen nach dem immer neuen und immer größeren Kick könnte uns die Sinne verschließen für die tiefe Erfahrung des Miteinanders. Wer das Außergewöhnliche braucht, kann nicht mehr über das Alltägliche staunen.
Wir können auch lernen, zwischen Schein und Wahrheit zu unterscheiden. Maßloser Reise- und Handelsverkehr scheint nur zu nützen, doch in Wahrheit schädigt er nicht nur uns selbst, sondern alle Menschen und die ganze Schöpfung. Während er die Länder des globalen Nordens materiell noch reicher macht, sterben schon jetzt Menschen infolge des Klimawandels in den Ländern des globalen Südens. Doch katastrophale Wetterereignisse nehmen auch bei uns zu. Deshalb ist es höchste Zeit, das rechte Maß wiederzufinden.
4. Dankbarkeit leben
Die Einschränkungen, mit denen die Pandemie eingedämmt werden soll, führen uns an unsere Grenzen. Wir spüren, wie sehr wir auf Kontakte und menschliche Nähe angewiesen sind (1Mo/Gen 2,18). Wir sind soziale Wesen, die nicht für das Alleinsein geschaffen sind. Bei manchen stellen sich Depressionen ein, andere belasten ihre Mitmenschen mit ihren eigenen psychischen Problemen. Für manche ist es kaum zu ertragen, und der Schrei nach Aufhebung der Beschränkungen wird immer lauter.
Das führt uns vor Augen, wieviel Gutes wir vor der Pandemie hatten, und wir lernen es neu zu schätzen. Die Menschen an unserer Seite, unsere Freunde, die Treffen mit ihnen, der Besuch im Café und Theater, das zwanglose Miteinander – wie viele Gründe, dankbar zu sein! Wir konnten in einem Europa offener Grenzen mühelos reisen. Wir lebten ohne Krieg, hatten ausreichend zu essen und zu trinken, hatten fast unbegrenzte Möglichkeiten, unser Leben zu leben. Wieviel das wert ist, erfahren wir erst jetzt, wo es uns fehlt. Aber wir können neu lernen, für all das dankbar zu sein.
Dankbarkeit ist nicht einfach ein spontan auftretendes Gefühl; sie will gelebt sein. Nur wer Dankbarkeit lebt, ist wirklich dankbar. Wer auf Erden dankbar ist, muss nicht nach den Sternen greifen. Er muss nicht krampfhaft an dem festhalten, was er hat, sondern kann ein Mensch sein, der für andere da ist. Er kann sich mit dem Kleinen zufriedengeben. Er weiß um die Wohltaten Gottes, die uns so selbstverständlich geworden sind.
So können wir mitten in den Entbehrungen, ja gerade wegen ihnen lernen, dankbar zu sein – für das, was wir hatten und jetzt eine Zeit lang entbehren müssen, und für das, was wir auch jetzt noch haben. Und wir können lernen, Dankbarkeit zu leben: indem wir nicht klagen, schreien und toben, wenn uns etwas genommen wird; indem wir vielmehr nach Kräften helfen, das Virus nicht weiter zu verbreiten; indem wir bereit sind, die zu unterstützen, die unter den Einschränkungen mehr leiden als wir selbst. Dankbarkeit muss nicht nach Wegen suchen, Gutes zu tun; sie tut es einfach.
5. Uns unsere Begrenztheit und Vergänglichkeit bewusst machen
Mit der Pandemie ist uns der Tod auf den Leib gerückt. Wenn wir ehrlich sind, können wir ihn nicht mehr wegschieben. Seine Bedrohung ist allgegenwärtig. Und wenn nicht gleich der Tod, so wird uns doch unsere Verletzlichkeit bewusst. Wir sind nicht das alles beherrschende Wesen, für das wir uns so gerne halten. Nicht einmal über unser eigenes Leben sind wir der Herr.
Wir können lernen, uns als begrenztes Lebewesen zu verstehen. Begrenzt in unserer Lebenszeit, aber auch in unserer Macht und Selbstbestimmung. Das zu akzeptieren ist nicht leicht. Aber es rückt die Dimensionen zurecht. Wir sind Menschen und nicht Götter. Dementsprechend sollten wir leben. Und dementsprechend sollten wir versuchen zu glauben.
Nur wer sich nicht selbst zum Gott erhebt, kann an den Gott glauben, der sich zum Menschen erniedrigt hat. Nur wer keine Hoheit sein muss, kann sich mit der Niedrigkeit abfinden, die Gott für sich gewählt hat. Gerade als diese begrenzten, verletzlichen und sterblichen Menschen sind wir diejenigen, mit denen Gott zu tun haben will. Nicht mit vermeintlichen Göttern will er zusammen sein, sondern mit schwachen Menschen.
6. Fazit
Gott will uns retten – auch vor uns selbst. Vielleicht lernen wir aus der Pandemie etwas zu unserer Rettung. So gesehen ist die Pandemie keine Strafe, sondern eine Einladung.
Das bedeutet nicht, das Leiden unter der Pandemie zu verharmlosen. Menschen erkranken und sterben, andere geraten in wirtschaftliche oder psychische Not. Das schließt aber nicht aus, aus dem Leid zu lernen. Gerade in leidvollen Erfahrungen sind wir offen dafür, unser Leben zu verändern, um neuerliches Leid zu vermeiden. Dazu aber müssen wir lernbereit sein.
Vielleicht lässt sich das, was wir lernen können, zusammenfassen mit der Formulierung „uns selbst zurücknehmen". Zum Leben gehört das Sich-Zurücknehmen. Wir haben uns zwar das Nehmen angewöhnt, aber das Uns-selbst-Zurücknehmen verlernt. Doch weniger ist manchmal mehr. Wer etwas aufgibt, kann dadurch gewinnen (Mt 10,39; 16,25 u.ö.). Wer weniger hat, wird reicher.
Man könnte es auch Demut nennen. Demut kommt von Dien-mut; Mut bezeichnete ursprünglich ein heftiges Verlangen oder Begehren. Demut ist also der Mut oder das Verlangen zu dienen. Das täte uns gut: Mehr Verlangen zu dienen statt hochmütig zusammenzuraffen, was zu kriegen ist. Dienen sollen wir allem, was geschaffen ist, also auch uns selbst. Aber uns dienen können wir nur, wenn wir zugleich allem anderen dienen.
So hat es auch Gott in Jesus Christus getan. Gerade indem er sich zurücknahm und diente, war er Gott (Mk 10,45; Mt 20,28). Und Gott will auch heute nicht anders Gott sein als so, dass er uns dient. Manchmal auch so, dass er uns leiden lässt, aber durch das Leiden zur Umkehr bewegen will.
Ich habe versucht, die Pandemie aus christlicher Perspektive zu deuten: nicht als sinnloses Unheil, auch nicht als „gerechte" Strafe, sondern als Chance, unser Leben zum Besseren zu wenden. Mehr als ein Versuch kann das nicht sein. Es hat sogar immer etwas Spekulatives, geschichtliche Ereignisse zu deuten. Keine Bibelstelle sagt uns, dass die Pandemie eine Lehre für uns ist. Aber wir können versuchen, sie im Licht des Wirkens Gottes zu verstehen. Denn er ist ein Gott, der in unserer Geschichte wirkt. Wenn wir das glauben, können wir vielleicht aus der Pandemie lernen – wie aus allen anderen Ereignissen auch.
Wenn es etwas zu lernen gibt aus der Pandemie, dann sicher noch mehr als das, was ich genannt habe. Du kannst es gern durch deine Gedanken ergänzen – oder auch widersprechen. So können wir gemeinsam versuchen, der Pandemie über das bloße Leid hinaus eine Bedeutung zu geben.
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Ich tue mich etwas schwer, von "Strafe" zu reden, weil damit oft falsche Vorstellungen verbunden werden. "Konsequenzen" ist mir da schon näher: Alles, was wir tun, hat Konsequenzen, und aus den erfahrenen misslichen Konsequenzen unseres Tuns können wir lernen, solche Konsequenzen für die Zukunft möglichst zu vermeiden. Auch von einer "erzieherischen Maßnahme" Gottes würde ich ungern sprechen, weil das Unheil für viele Menschen doch recht groß ist. Hat Gott keine anderen Möglichkeiten, seine geliebten Geschöpfe zu erziehen? Du hast recht: Die Pandemie ist definitiv kein Segen. Kann sie dann aber eine erzieherische Maßnahme sein? Ich würde dann doch lieber von einem Unheil sprechen, aus dem wir lernen können und sollten.