Auschwitz und Glaube
Klaus Straßburg | 01/01/2021
Beim Aufräumen fand ich heute einen Artikel der Zeitschrift Publik-Forum aus dem Jahr 1996, den ich mir kopiert hatte. Darin ging es auch um das Thema "Theologie nach Auschwitz". Das hat mich zu folgenden Überlegungen angeregt.
Der Name des Vernichtungslagers Auschwitz steht in der Theologie für die Frage, ob und wie man – angesichts der in Auschwitz vollzogenen menschlichen Grausamkeit – noch von Gott reden könne.
Die einen sagen: Auschwitz hat gezeigt, dass von einem liebenden Gott nicht mehr die Rede sein kann. Wenn man überhaupt noch von Gott reden will, dann so, dass er ein unergründliches, verborgenes Wesen ist.
Andere sagen: Wir können auch nach Auschwitz noch von einem liebenden Gott reden, aber nur so, dass Auschwitz in allen Aussagen über Gott berücksichtigt werden muss.
Einige vertreten einen ganz anderen Standpunkt: Wir sollen die Vergangenheit ruhen lassen und nicht immer wieder von Auschwitz reden.
Ich persönlich denke, dass man Auschwitz keinesfalls verschweigen, aber auch nicht zur Unterstützung eigener Glaubensaussagen instrumentalisieren, benutzen sollte.
Meiner Meinung nach sagt Auschwitz zunächst einmal etwas über den Menschen aus und nicht über Gott. Man sollte deshalb als erstes von der Gattung "Mensch" reden, der das Vernichtungslager mit seinen unbeschreiblichen Grausamkeiten geschaffen hat. Dabei kann man sich auch den Unterschied zum Schaffen Gottes nach 1Mo/Gen 1 vor Augen führen.
Wenn der Mensch zuerst fragt, ob und wie angesichts von Auschwitz noch Rede von Gott möglich sei: Könnte es nicht sein, dass der Mensch dadurch seine Verantwortung für die Grausamkeiten dieser Welt und für die eigene Schuldverfallenheit ganz bequem verdrängt, ja sogar auf Gott abwälzt?
Mir wird jedenfalls beim Gedanken an Auschwitz zuerst die Abgründigkeit dessen deutlich, was wir Menschen wollen und tun. Die Tiefe unserer Schuldverstrickung und die bis ins Detail durchdachte Planung, aber auch die Banalität des Bösen (Hannah Arendt) steht mir vor Augen.
Von daher wird mir die Notwendigkeit von Vergebung und Erlösung klar, die den Menschen nicht auf seine unermessliche Schuld festlegt. Und auch die Notwendigkeit einer radikalen Umkehr wird mir bewusst.
Erst in einem zweiten Schritt sollten wir beim Gedanken an Auschwitz von Gott reden. Und zwar von dem Gott, der in Auschwitz mit seinem erwählten Volk Israel gelitten hat; der das Grauen, das Menschen einander zufügen, ertragen hat und dennoch die Menschheit bis heute erhält. Dann wird mir auch bewusst, wie groß die Gnade dieses Gottes ist, der unser mit ungeheurer Schuld beladenes deutsches Volk trotz Auschwitz reich gesegnet hat.
Kann man nach Auschwitz so vom Menschen und von Gott reden? Oder ist Auschwitz das große Fragezeichen hinter allem christlichen Reden von Gott, so dass Gott nur noch als Frage, als Unbekanntes zur Sprache kommen kann?
* * * * *
dieses Thema habe ich ständig im Hinterkopf, wenn ich Theologen in allgemeiner Form über Gott reden höre. Ich werde deswegen nicht Gott kritisieren , wenn es ihn denn gibt (vgl. Hiob 9,4). Aber ich kritisiere eben am Beispiel Auschwitz das viele offensichtlich Falsche, das Menschen über ihn verbreiten.
Dorothee Sölle sagte 1965 auf dem Kirchentag in Köln: "wie man nach Auschwitz den Gott loben soll, der alles so herrlich regieret, das weiß ich nicht."
Dieser Satz ist sehr bekannt, hat Sölle wohl auch eine Menge Ärger eingebracht, aber wohl keine großen Konsequenzen gehabt.
Im Gesangbuch steht jedenfalls auch weiterhin das Lied "Lobe den Herren" von Joachim Neander, wo es in Vers 2 heißt:
"Lobe den Herren, der alles so herrlich regieret,
der dich auf Adelers Fittichen sicher geführet,
der dich erhält,
wie es dir selber gefällt;
hast du nicht dieses verspüret?"
EG 316
Dieses Lied führt keineswegs eine Randexistenz im Gesangbuch, sondern wird immer noch regelmäßig gesungen, gerade zu festlichen Anlässen.
Viele Grüße
Thomas
vielen Dank für deinen Kommentar, der mich wieder einmal zum weiteren Nachdenken angeregt hat. Mir geht es ebenso, dass ich das Thema des grauenvollen Leids (festgemacht am Namen Auschwitz) immer im Hinterkopf meines theologischen Denkens hatte und habe. Darum kann ich mit manchen Lobeshymnen auf den Zustand der Schöpfung oder mit einer immer lächelnden christlichen Selbstgewissheit nicht viel anfangen.
Eben darum habe ich darauf abgehoben, dass es beim Thema „Auschwitz" nicht nur um ein vergangenes unbeschreibliches Fehlverhalten einzelner oder auch von Massen geht, sondern immer auch um die Schuldverfallenheit aller Menschen. Damit will ich keinesfalls Auschwitz banalisieren. Natürlich ist die Gewalt- und Mordmaschinerie der Nazis unvergleichlich grausam gewesen, und nicht jede/r Heutige ist ein Gewalttäter, Massenmörder oder Mitläufer ähnlichen Grauens. Ich möchte nur daran erinnern, dass die Fähigkeit und Verführbarkeit zu so etwas in jedem Menschen schlummert und in bestimmten Situationen auch durchbrechen kann. Dass Nationalismus, Rassismus und Unbarmherzigkeit gegenüber Migrant*innen (in Lagern) auch heute noch für viele attraktiv sind, erleben wir ja gerade, und zwar nicht nur in Deutschland.
Das „offensichtlich Falsche", das Menschen über Gott verbreiten, ist vielleicht die Nichtberücksichtigung des Leids in Glaubensaussagen; das Fehlen eines Unverständnisses dafür, dass Gott es geschehen lässt; das allzu schnelle und unbedachte Reden über den liebevollen Gott, den man für alles nur loben kann. Man kann ihn eben nicht für alles loben, und für Auschwitz bestimmt nicht.
Woran ich aber dennoch festhalten möchte, ist die Gewissheit, dass GOTT das letzte Wort über die Leidenden und Sterbenden spricht und nicht die Gewalttäter. Damit meine ich, dass auch die Leidenden und Sterbenden niemand aus Gottes Hand reißen kann und dass seine Liebe (von der sie vielleicht absolut nichts spüren) auch ihnen gilt; dass er auch sie seinem Ziel entgegenführen wird. Nur in diesem Glauben ist es möglich, dass Juden in Auschwitz mit einem Lobgesang über den Lippen in die Gaskammern gingen.
In diesem Sinne verstehe ich auch den von dir zitierten Liedvers. Ich glaube nicht, dass Gott Auschwitz und viel anderes Leid wollte und will. Bestenfalls würde ich sagen, dass er es (selber darunter leidend) zugelassen hat – ich weiß nicht, warum. Und das „Regieren" Gottes, das in dem Lied angesprochen ist, interpretiere ich für mich immer als ein Führen durch Leid und Tod hindurch zu Freude und Leben; als ein „Regieren", das sich entgegen dem Regieren der Mächte des Bösen ZULETZT doch durchsetzt. Ob das von Joachim Neander so gemeint war, weiß ich nicht. Der Wortlaut legt diese Interpretation nicht unbedingt nahe, vor allem dann nicht, wenn man die Passage „der dich erhält, wie es dir selber gefällt" hinzunimmt. Er erhält uns ja nicht immer so, wie es uns gefällt. Man müsste schon interpretieren, dass wir das Gefallen daran erst im Nachhinein finden (spätestens nach dem Tod). Ob das aber zu gewagte interpretatorische Klimmzüge sind – dazu müsste man mehr über Neanders Leben und Theologie wissen.
Gerade habe ich mal in einem Lexikon nachgeschaut. Joachim Neander lebte von 1650 bis 1680, wurde also nur 30 Jahre alt. Vielleicht hat er nicht allzu viel Leid erlebt. Andererseits sollen in seinen Liedern auch Leiderfahrungen anklingen, und er wurde einmal wegen des Abhaltens pietistischer Versammlungen verwarnt, was sicher nicht sehr angenehm war. In den im EG enthaltenen Liedern habe ich allerdings keine Leiderfahrungen gefunden, das sind nur Loblieder. Ich denke aber, man kann sagen, dass Loblieder insofern ihre Berechtigung haben, dass sie aus einer beglückten Stimmung heraus geschrieben sind und nicht für alle Tage und Situationen gelten. Sie können sogar den traurig gestimmten Menschen aufmuntern. Es gibt ja auch viele Lobpsalmen, die ebenfalls in einer Lobessstimmung entstanden sein werden, aber nicht das ganze Christenleben ausmachen. Und wenn es nur Klagepsalmen (und Klagelieder) gäbe, wäre das dem christlichen Glauben auch nicht angemessen.
Übrigens hielt sich Neander zeitweise in einer Schlucht bei Düsseldorf auf, die nach ihm um 1800 den Namen „Neandertal" erhielt, so dass der 1856 in einer dortigen Höhle gefundene Menschentyp von Neander seinen Namen bekommen hat.
Jetzt hab ich wieder eine ganze Menge gelernt durch deinen Kommentar.
Viele Grüße
Klaus
es gibt sicher manche Pastoren, die allzu naiv und unreflektiert daherreden, aber dass das für alle gilt, wird man der Gerechtigkeit halber hinterfragen dürfen. Ich will dabei gar nicht meine Zunft verteidigen, an der ich auch Manches zu kritisieren habe. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen habe ich aber so kennengelernt, dass sie dem Leid der Menschen und der täglichen Gewalt einen angemessenen Stellenwert einräumen, auch wenn das nicht ihre zentrale Botschaft ist - und ja auch nicht sein kann. Immerhin ist man als Pastor immer auch mit Leid und Tod konfrontiert und muss dazu Stellung beziehen.
Ich weiß nicht, wann Kästner sein Gedicht geschrieben hat und worauf er sich genau bezieht, kenne auch nicht die Predigten und kirchlichen Äußerungen nach dem 1. Weltkrieg. Sicher ist nach dem Krieg in der Kirche die alte theologische Fusion von Glaube und Kultur fortgesetzt worden. Die Kirche hier in Gesamthaftung zu nehmen, halte ich aber für nicht angemessen. Denn gerade nach dem 1. Weltkrieg, spätestens ab 1922, entwickelte sich DIE Theologie, die sich von einer friedlichen und bequemen Einheit zwischen Glaube und Kultur bzw. Politik verabschiedete und die Kirche selbstkritisch in den Blick nahm. Dass es dann trotzdem zum von den "Deutschen Christen" abgesegneten 2. Weltkrieg kam, ist ein Skandal. Nationalsozialismus und Krieg wurden aber wiederum nicht von "der Kirche" als Ganzer abgesegnet. Nach dem Krieg kam es dann ja auch zum Schuldbekenntnis der ev. Kirche, an dem Gollwitzer maßgeblich beteiligt war.
Dass "die Kirche" heute an Krieg und Unrecht, Leid und Gewalt "plaudernd" vorbeigeht, kann ich nicht beobachten. Eher sind mir die kirchlichen Stellungnahmen manchmal zu stark darauf bezogen, ohne Rückbindung an die Grundlage jeder Ethik, die Frohe Botschaft, die es ja auch noch gibt und die sich gerade angesichts von Leid und Tod zu bewähren hat. Ich bin aber dennoch froh, dass die ev. Kirche in ihren Verlaufbarungen heute nicht mehr von der Soldatenpflicht spricht, sondern diesen Dienst auch kritisch in den Blick nimmt.
Ob der Pastor oder die Pastorin heute noch wie vor Auschwitz zu den Gläubigen redet, hängt sicher auch davon ab, welche Kirche man besucht.
Viele Grüße
Klaus
ich will da ganz bestimmt nichts verallgemeinern und ein Fass zur Generalabrechnung mit der Kirche aufmachen. Barths Paradoxon, von Gott reden zu sollen, obwohl man eigentlich als Mensch nicht von Gott reden kann, ist mir auch bekannt.
Aber vielleicht ist es hilfreich für dich als Pastor oder für euch als Pastoren, auch mal zu erfahren, was bei einem einfachen Gemeindemitglied wie mir im Hintergrund mitläuft, wenn ich Predigten, öffentliche Gebete, Worte zum Sonntag, Morgenandachten usw. höre. Die evangelische Kirche erlebe ich da im Übrigen noch als relativ reflektiert, da sind auch noch ganz andere am Start.
Viele Grüße
Thomas
Einen schönen Gottesdienst morgen!
Klaus