Anmerkungen zu Peter Sloterdijk
Über Zumutungen, Wahrheit, Tod und Gott
Klaus Straßburg | 06/01/2024
Manchmal werfe ich einen Blick über den Tellerrand der Theologie hinaus und lande dabei im Feuilleton der ZEIT. Wie auch vor einigen Wochen, als ich auf einen Artikel über ein Tagebuch des Philosophen Peter Sloterdijk stieß.*
Vor Jahrzehnten kaufte ich mir das frühe zweibändige Werk dieses Philosophen mit dem Titel "Kritik der zynischen Vernunft". Mit Erstaunen stelle ich fest, dass ich tatsächlich den ersten Band durchgelesen hatte und außerdem noch Teile des zweiten Bandes. Noch erstaunlicher ist aber, dass sich die wichtigen Einsichten dieses Buches mir nicht nachhaltig eingeprägt haben. Geblieben ist nur das Bewusstsein, dass da etwas Wichtiges stand. Was dieses Wichtige war, ist den Tiefen des Vergessens anheimgefallen, ich weiß nicht, warum.
Auch heute noch regt mich Sloterdijk an, sonst gäbe es diesen Artikel nicht. Sein besagtes Tagebuch umfasst die Jahre 2013 bis 2016. Der ZEIT-Autor Thomas E. Schmidt klärt mich darüber auf, was in diesen Jahren alles passiert ist: Terrorakte in Paris, Russland annektiert die Krim, in Deutschland gibt es eine "Flüchtlingskrise", in Europa die Euro-Krise und Donald Trump wird Präsident der USA. Ziemlich viel für vier Jahre, denke ich, und wundere mich, dass mir der enge Zeitrahmen dieser Krisen bisher gar nicht bewusst war.
Gott ist das Unübersetzbare. Gerade darumkann man nicht aufhören, es immer aufs Neue zu übersetzen
Dann zitiert Schmidt aus Sloterdijks Tagebuch:
Das Tagebuch: Klagemauer für Leute, die nicht wissen, wo sonst sie die Nachricht deponieren können, der Tag sei wieder eine Zumutung gewesen.
Beim Wort Klagemauer schlägt das Theologenherz höher. Richtig, wir brauchen eine Klagemauer, besonders dann, wenn der Tag eine Zumutung war oder von uns als solche empfunden wurde.
Und so möchte ich Sloterdijk, der ein Tagebuch schreiben muss, weil er keinen anderen Ort hat, an dem er die Nachricht vom zugemuteten Tag, also diesen Tag selbst, abladen kann, deponieren kann wie auf einer Müllkippe – ich möchte ihm zurufen: "Entsorge doch diese betrübliche Nachricht bei ... bei ...". Ja, wo denn? Soll ich wirklich sagen: bei Gott? Soll ich dieses abgegriffene und unendlich oft missbrauchte Wort benutzen, dieses Wort, das suggeriert, wir wüssten, wovon wir reden, wenn wir Gott sagen? Kann dieses Wort dem Philosophen überhaupt etwas sagen? Sagt man, sobald man es in den Mund nimmt, nicht schon zu viel – oder auch zu wenig?
Also, was soll ich einem gebildeten, aber nicht religiösen Menschen sagen, wenn ich von dem reden will, den wir Gott nennen? "Entsorge doch den zugemuteten Tag bei einer guten Macht, die aus allen Zumutungen etwas Gutes entstehen lassen kann"? Er wird sofort merken, dass die "gute Macht" nur eine Umschreibung für Gott ist. "Entsorge doch den zugemuteten Tag im Himmel"? Aber der Himmel ist ebenso abgenutzt wie Gott, nur dass er etwas unpersönlicher und esoterischer wirkt.
Manche schreiben heute G*tt, um die Unbeschreiblichkeit Gottes auszudrücken. Aber dann beschreiben sie ihn doch, auch wenn sie ihn G*tt nennen. Wir kommen ums Beschreiben Gottes nicht herum, es sei denn, wir hörten auf, von ihm zu reden. Doch dann bleibt nur das Tagebuch, um den Tag zu entsorgen.
Ich finde einen treffenden Satz der französischen Philosophin Barbara Cassin, auch ihn entnehme ich dem Feuilleton der ZEIT:
Das Unübersetzbare ist nicht das, was man nicht übersetzen kann, sondern es ist das, was man nie zu übersetzen aufhört, immer aufs Neue.
Das ist wahr, auch wenn sie es wohl nicht auf Gott bezogen hat: Gott ist das oder der Unübersetzbare. Gerade darum kann man nicht aufhören, es oder ihn immer aufs Neue zu übersetzen.
Ich werde also weiter von Gott reden, manchmal auch von guten Mächten, was natürlich von Bonhoeffer entliehen ist. Die Macht, die wir Gott nennen ist auch eine mögliche Umschreibung. Der gute Geist? Aber es gibt viele gute Geister, manche sind sogar Menschen: "Die Mutter war der gute Geist des Hauses." Was wir auch sagen: Es passt alles nicht für den Unübersetzbaren.
Wahrsprecher sind nicht erwünscht.Denn heute haben ja unterschiedslos alle recht
Ich werde also nicht das passende Wort finden, schon gar nicht eins, das Sloterdijk überzeugen würde. Der ist weiter auf der Suche und schreibt in sein Tagebuch:
Blättere in den Feuilletons der letzten Tage, unfähig, mich für das Gelesene und das sich darin verratende Schriftstellerelend zu interessieren.
Da fühle ich mich wieder ganz einig mit ihm. Obwohl: Gerade lese ich über sein Tagebuch im Feuilleton. Also finde ich dort doch Interessantes. Sicher habe ich noch nicht so viele Feuilletons gelesen wie der Philosoph. Vielleicht hat dieser auch etwas übertrieben. Egal, ich kenne auch das Desinteresse an Zeitungen, seien es die politischen Seiten, die Wirtschaftsseiten oder die Feuilletons. Und den Überdruss an Fernsehdiskussionen. Alles dreht sich im Kreis. Die Gedanken überschlagen sich und kommen doch nie ans Ziel.
Auch dazu findet sich offenbar etwas bei Sloterdijk. Sein Rezensent Thomas E. Schmidt beschreibt es so:
Man unterstellte, dass Peter Sloterdijk von seiner Position aus klarer sehe, schon indem er mutiger schien. Heute haben unterschiedslos alle recht, es gibt kein Außen mehr des allkommunizierenden Innen. Wer sich aus den Strömen des Geläufigen ans Ufer rettet, dem gelingt es vielleicht kurzfristig. Das fällt kaum auf, und auch der erfahrenste Taucher wird dafür nicht mehr mit einem Platz auf dem Podium belohnt oder mit einer Charakterrolle als Wahrsprecher im intellektuellen Schwimmzirkus.
Diese Sätze musste ich dreimal lesen, um ihre Bedeutung zu erahnen. "Kein Außen mehr des allkommunizierenden Innen"? Ist gemeint, dass der, der sein Innen nach außen kehrt, der Position bezieht, außerhalb seiner selbst niemanden mehr findet, der ihm wirklich zuhört – und dann auch noch zustimmt? Vielleicht gelingt es, dass ein aus dem Geläufigen ausbrechender Mensch kurzzeitig wahrgenommen wird. Aber es fällt kaum auf und erfährt keine Belohnung. Wahrsprecher sind nicht erwünscht. Denn postmodern haben ja unterschiedslos alle recht.
Schmidt fährt fort:
Die Kapitäne der Talkshows reden sich den Kopf unter Wasser. Wer trotzdem auf seiner eigenen Sicht beharrt, spielt in der Vorstellung vielleicht gar nicht mehr mit, sondern darf nur noch der Beleuchter sein. Der Autor [Sloterdijk] drückt es etwas anders aus: "Es ist an der Zeit, sich von der Laternenanzünder- und Elektriker-Metapher 'Aufklärung' zu verabschieden. Ein besserer Titel wäre jetzt: Deception Studies."
Diese metaphernreiche Sprache liegt mir einfach nicht. Ich muss jedes Mal hin und her überlegen, was eigentlich mit der Metapher gemeint ist. Ich weiß, Metaphern stehen hoch im Kurs, auch in der Theologie. Mir sind sie zu schwammig, zu ungenau. Vielleicht habe ich aber auch zu wenig Gedichte gelesen. Mir erschließt sich mehr die sachliche Sprache.
Dennoch finde ich es toll formuliert. Ja, in den Talkshows reden sie sich "den Kopf unter Wasser". Also blubbern sie nur noch Luftblasen, so dass man sich wünscht, sie hätten lieber geschwiegen. Wer trotzdem bei seinem eigenen Standpunkt bleibt, wer sich des Geläufigen entzieht, darf nicht mehr mitspielen. Und Sloterdijk setzt noch einen drauf: Die Aufklärung sei nicht etwas Lichtbringendes, sondern Deception Studies.
Ich gestehe, dass ich das Wort deception in meinem Langenscheidt Schulwörterbuch nachschlagen musste, das nun schon fast mein ganzes Leben lang geduldig im Regal steht. Dort fand ich die Übersetzungen Täuschung, Irreführung, Betrug. Aufklärung sei also ein Unternehmen der Täuschung und Irreführung, des Betrugs um die Wahrheit. So barsch hätte ich es nicht ausgedrückt. Aber wie begrenzt der Lichtschein der Aufklärung ist, wie schnell er von der Finsternis vereinnahmt wird, ist auch mir klar.
Es tut gut, diesen Satz von einem Philosophen zu hören, der sich nicht als Christ bekennt. Denn wenn ein Christ es sagt, erregt das sofort den Verdacht, er richte hier ein Weltreich der Finsternis auf, um das Licht Jesu und der Glaubenden umso heller leuchten zu lassen (z.B. Joh 1,5). Wenn Sloterdijk es sagt, wird es als tiefe Wahrheit gehört.
Alle stehen in der Gefahr, "ein ziemlich laut tönendes Erzund eine überklug klingende Schelle" zu sein. Auch Theologen.
Aber wie ist es um die Wahrheit bestellt? Der Philosoph notiert in sein Tagebuch, nachdem ihm ein alter Aufsatz aus eigener Feder in die Hände gefallen ist:
Mon dieu [Mein Gott], als ich noch alles wusste, da war ich ein ziemlich laut tönendes Erz und eine überklug klingende Schelle.
Das ist beeindruckende Selbstkritik. Und: Der Mann kennt das Neue Testament (1Kor 13,1):
Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle.
Worauf kommt es an? Auf angehäuftes Wissen? Auf den festen Stand, in dem man meint, immer eine Antwort parat zu haben? Auf die feste Überzeugung, "alles zu wissen"? Sloterdijk weiß um die Überheblichkeit und Selbstüberschätzung, die in solcher Haltung zum Ausdruck kommt. Weiß er auch, was Paulus wusste: dass erst die Liebe allem Wissen seinen Glanz verleiht?
Alle stehen in der Gefahr, "ein ziemlich laut tönendes Erz und eine überklug klingende Schelle" zu sein. Auch Theologen. Sie sogar besonders. Ich nehme mich nicht davon aus. Bescheidung täte ihnen gut. Aber es ist eine Gratwanderung: zwischen Wahrheitswahn und Wahrheitsverlust. Wenn alle unterschiedslos recht haben, gibt es keine Wahrheit mehr. Wenn einer im Unterschied zu allen anderen recht hat, gibt es auch keine Wahrheit mehr. Dann gibt es Diktatur.
Darum bedarf die Wahrheit des fairen Streits um sie. Das gilt auch für die Wahrheit Gottes. Es gibt nicht nur eine Evangeliumsschrift, sondern vier. Es gibt nicht nur die Paulusbriefe, sondern auch andere. Es gibt nicht nur einen Propheten, sondern viele. Es gibt sie, weil einer allein die Wahrheit dessen, den wir Gott oder von mir aus auch G*tt nennen, nicht zum Ausdruck bringen kann. Allein schon dieser Umstand sollte die allzu Bibelbuchstabentreuen davon überzeugen, dass keine Gruppe, keine Gemeinde oder Gemeinschaft allein ausreicht, um die Wahrheit zu bezeugen.
Kein Mensch ist ein Zufallsprodukt,sondern jeder ein Gedanke Gottes
Auch am Tod kommt Sloterdijk nicht vorbei – würde er es, so wäre er kein Philosoph mehr. Ihn zu verdrängen ist eines nachdenklichen Menschen nicht würdig. Denn der Tod (be)trifft jeden.
Beim Tod geht es, wie bei Gott, ums Ganze: um das Ziel unseres Daseins und deshalb auch um seinen Grund. Ziel und Grund aber entscheiden über den Sinn. Schmidt gibt Sloterdijks Gedanken so wieder:
Der Mensch [...] komme heillos zufällig auf die Welt, gewissermaßen ohne Berechtigung, und er könne die Lücke seiner Grundlosigkeit nachträglich nicht schließen. [...] Wenn dieses Leben keine zureichende Legitimation besitzt ("Neues vom nackten Dass: Jeder spürt, es gibt keine Regel, die sein Dasein erklärt. Das Zufällige ist dem Notwendigen immer ein paar Schritte voraus."), fällt dem Einzelnen zwangsläufig eine ungeheure, potenziell auch ruinöse Freiheit zu: "Frei ist, wer nie zum Sklaven des Angeborenen und Vorgefundenen wurde, auch nicht seiner geerbten Eigenschaften." [...] "Die Sprechblase des Jahrzehnts: 'sich selbst neu erfinden'." Es ist die Supersprechblase, die es noch ins folgende Dezennium geschafft hat. Die Runderneuerten machen ihr Ich nicht urbar, sie optimieren es höchstens. Wo Individualität war, ist nun Identität, oft eine Form der Selbstgefälligkeit.
Auch hier muss ich manche Sätze mehrmals lesen. Der Mensch kommt ohne Berechtigung und Grund zur Welt? Da fehlt dem Philosophen, was der Christ glaubt: Ich bin gewollt! Kein Mensch ist ein Zufallsprodukt, sondern jeder ein Gedanke Gottes. Jeder Mensch ein Geschöpf mit in der Welt benötigten Begabungen und liebenswürdigen Anlagen – die wir zu unserem eigenen und der anderen Leidwesen massiv pervertieren und destruieren können. Gedacht jedoch ist jeder Mensch als wunderbares Individuum (Ps 139,13.14a):
Du hast meine Nieren geschaffen,
hast mich gewoben im Mutterleib.
Ich danke dir, dass ich wunderbar gemacht bin.
Das ist der Lobgesang des glaubenden Menschen – nicht auf sich selbst, sondern auf den kreativen Erzeuger. Der hat seine "Nieren" erschaffen – gemeint ist sein durchaus gutes Inneres, seine positiven Gedanken, Empfindungen und Bestrebungen –, und zwar jenseits dessen, was die Welt und er selbst aus ihnen gemacht haben. Das ist die Legitimation jedes Menschenlebens, das es deshalb zu schützen und zu fördern gilt. Und darin – nicht in der fehlenden Legitimation des Menschenlebens – gründet des Menschen Freiheit.
"Frei ist, wer nie zum Sklaven des Angeborenen und Vorgefundenen wurde, auch nicht seiner geerbten Eigenschaften", schreibt Sloterdijk. Aber wer könnte sich schon von alldem wirklich lossagen? Wir tragen alle die Last des Angeborenen, Geerbten und Vorgefundenen in uns. Aber stärker ist die Kraft, die der kreative Erneuerer in uns hineinlegen kann und die das schafft, was uns selbst unmöglich ist: wahrhaft von negativen Einflüssen frei zu werden.
Damit sind wir wieder im Haus der Transzendenz. Wir überschreiten die uns sichtbare Welt und tauchen ein in eine unsichtbare, die zu glauben dem aufgeklärten Menschen, der wir sind, so unendlich schwer fällt. Aber war nicht die Aufklärung im Urteil des Philosophen ein Unternehmen der Täuschung und Irreführung, der Betrugs um die Wahrheit? Könnte also das aufklärerische Licht der Wahrheit, das im Sichtbaren nicht aufgeht, erst vom Unsichtbaren her auf das Sichtbare fallen?
Der Glaube setzt darauf, dass auch im Zugemutetender kreative Erneuerer am Werk ist
Wer allerdings den unsichtbaren und unbeschreibbaren kreativen Erneuerer aus dem Spiel lässt, ist gezwungen, beständig sich selbst neu zu erfinden – in den Worten Sloterdijks: sich zu optimieren, anstatt sich urbar zu machen. "Wo Individualität war, ist nun Identität, oft eine Form der Selbstgefälligkeit", deutet Schmidt. Optimierte Identität: Man ist, der man ist, nur immer besser. Individuelle Urbarmachung: Man wird, der man noch nicht ist, aber sein kann. Das erste gründet in Selbstgefälligkeit, das zweite im Ungenügen an sich selbst. Letzteres bringt unangenehme Gefühle hervor und führt zudem zur oft mühsamen Arbeit an sich selbst. Vielleicht ist es gerade deshalb keine bloße Sprechblase.
Die Theologie kennt einen Imperativ, der im Indikativ gründet: "Werde, der du bist!" Der Indikativ: Du bist der gewollte, begabte und zu freiem, sinnvollen Dasein bestimmte Mensch. Der Imperativ: Werde immer aufs Neue dieser Mensch! Das "Werde!" ist nötig, weil wir in der gefallenen Welt immer wieder unser wahres Sein verfehlen. Darum finden wir unser Sein auf Erden nicht ohne beständiges Neuwerden.
Doch ist dieses Neuwerden und damit der Imperativ der Christin und dem Christen gerade kein mühsames menschliches Unterfangen. Es ist vielmehr das bloße Einwilligen in das Werden, das durch den kreativen Erneuerer bewirkt wird, der uns schon "im Mutterleib gewoben" hat und auch jetzt an uns weiterweben will. Dieses Werden kommt nicht aus uns selbst – es geschieht mit uns. Dann freilich ist es ein Weg, der der Anfechtung nicht entbehren wird: der Anfechtung, den Unsichtbaren und Unbeschreibbaren an sich arbeiten zu lassen, und zwar auch dort, wo wir es möglicherweise gar nicht wollen, und auf eine Weise, die unser Leben scheinbar erschwert.
Dabei wird es Tage geben, die wir als Zumutung empfinden. Doch der Glaube setzt darauf, dass auch im Zugemuteten der kreative Erneuerer am Werk ist. Keine Zumutung ist zu groß, als dass er nicht Beglückendes daraus entstehen lassen kann.
Ist es überheblich, das zu sagen? Ist es zu viel gesagt über den, den wir Gott nennen? Ist, wer so spricht, "ein ziemlich laut klingendes Erz und eine überklug klingende Schelle"? Jeder wird selber entscheiden müssen, ob es für ihn so klingt. Paulus meinte, es dürfe bei allen Worten nicht an der Liebe fehlen. Darum muss das Erste des das Wort ergreifenden Christen sein, dass es seinem Reden nicht an Liebe mangelt.
Daran kann, wer redet, scheitern. Wer aber aus Sorge vor dem Scheitern das Reden einstellt, ist schon gescheitert.
* * * * *
* DIE ZEIT Nr. 47 vom 9.11.23, S. 53. Das Zitat der französischen Philosophin Barbara Cassin auf S. 51. Das Tagebuch von Peter Sloterdijk: Zeilen und Tage III. Notizen 2013-2016. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023.
Foto: Phuong Luu auf Pixabay.
vielen Dank für diesen Beitrag, den ich mittlerweile zum dritten Mal gelesen habe. In dieser Gegenüberstellung erscheint auch der christliche Glaube in einem anderen Licht, selbst wenn seine Probleme, z. B. die Theodizee und das Nichtwissen und der Versuch, es durch umso lautere Verkündigung zu übertönen, bestehen bleiben.
Schade finde ich, dass es in einem Land, dass sich auf sein Dichten und Denken einmal etwas eingebildet hat, anscheinend nicht mehr für notwendig gehalten wird, für den Begriff "deception" etwas in Landessprache zu bilden. Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.
Viele Grüße
Thomas
danke für deine Rückmeldung und den Hinweis auf die bleibenden Glaubensprobleme. Es könnte zukunftsweisend sein, wenn die Verkündigung deutlicher zu ihren offenen Fragen und zu ihrem Nichtwissen stehen würde, anstatt diese "durch umso lautere Verkündigung zu übertönen".
Viele Grüße
Klaus
vielleicht sollte man wieder mal Psalm 82 in Verbindung mit Johannes 10 lesen ... oder besser in umgekehrter Reihenfolge, damit wir unsere unglücklicherweise polarisierenden Bedeutungen und Erklärungen nicht überschätzen, gerade wenn wir so absolutistisch das Wort Gott benutzen. Denn Gott hat so viele göttliche Teilmengen (bekannt aus der Mengenlehre), dass uns schon jede davon als DER GOTT erscheinen bzw. missverstanden wird oder sich selbst als DER GOTT präsentieren kann, weil so übermächtig, obwohl DER nur eine kleine Teilmenge von DEM ALLUMFASSENDEN ist. Aber wer will das immer sofort erkennen ...
"absolutistisch das Wort Gott benutzen" - das ist, finde ich, eine gute Formulierung dafür, dass man mit dem Wort "Gott" Macht und Druck ausüben und Mauern aufrichten kann, so dass man dadurch anderen Menschen die befreiende, froh machende Botschaft vorenthält und ihnen den Zugang zu Gott erschwert.
"Mon dieu [Mein Gott], als ich noch alles wusste, da war ich ein ziemlich laut tönendes Erz und eine überklug klingende Schelle."
Der Abschnitt über Wahrheit ist m. E. typisch für unsere Zeit, die an Philosophen nur noch Diogenes-Gestalten hervorbringt, die für ihr sentimentales im Nicht-Wissen-Schwelgen von der Welt gefeiert werden. Eine der wenigen Ausnahmen Edith Stein, die mehrfach erfolglos versucht hat in Philosophie zu habilitieren.
Der Satz "Wenn einer im Unterschied zu allen anderen recht hat, gibt es auch keine Wahrheit mehr. Dann gibt es Diktatur." ist aussagenlogisch doch völliger Quatsch, sorry. Wenn von 100 Studenten nur ein einziger eine Aufgabe richtig löst, dann kann man ihm nicht absprechen, die Aufgabe richtig gelöst zu haben. Das wäre doch ungerecht, oder etwa nicht?
danke für deine kritische Anmerkung, mit der du im gewissen Sinne recht hast. Ich denke, es kommt immer darauf an, um welche Art von Wahrheit es geht. Ich habe nicht über mathematische Wahrheit geschrieben, sondern über geistige, speziell philosophische und religiöse. Es gibt ja tatsächlich eine religiöse Überheblichkeit, die davon ausgeht, dass ein einzelner oder eine kleine Gruppe allein um die Wahrheit weiß, während alle anderen, die sich ihm bzw. ihr nicht anschließen, im Irrtum sind. Man kann das auch auf theologische Schulen oder religiöse Richtungen beziehen. In sektenartigen Gemeinden führt das dazu, dass sich alle auf Gedeih und Verderb dem Leiter ausliefern und dieser das auch erwartet und verlangt. Aber die Übergänge zu christlichen Gemeinschaften und Gemeinden sind fließend. Auch in Gemeinschaften, die man nicht unbedingt als Sekte bezeichnen würde, kann sich eine solche Struktur herausbilden. Das sind dann tatsächlich totalitäre Verhältnisse, die viel Leid mit sich bringen.
Damit will ich natürlich nicht einer postmodernen Indifferenz das Wort reden. Ich plädiere vielmehr für persönliche Bescheidung und zugleich den engagierten Streit um die Wahrheit. Dass das immer eine Gratwanderung ist, habe ich schon im Artikel erwähnt. Ich denke aber, dass niemand und keine Gruppe beanspruchen sollte, allein im Besitz Wahrheit zu sein, sondern dass wir alle eines Korrektivs bedürfen. Das ist vor allem die Bibel in der Vielfalt ihrer Aussagen, aber das sind auch die Mitchristen, die ja möglicherweise einen Aspekt der Wahrheit erkannt haben, den ich oder meine Gruppe vernachlässigen. Insofern ist jeder gehalten, sich immer aufs Neue ehrlich zu prüfen und dann das, was er als Wahrheit erkannt hat, engagiert zu vertreten, ohne dabei überheblich zu werden. Denn "es ist hier kein Unterschied: Alle haben gesündigt und die Herrlichkeit verloren, die Gott ihnen zugedacht hatte" (Röm 3,22b.23).