„Wir sind die Guten!"
Klaus Straßburg | 29/03/2021
Das ist schon etwas Besonderes, dass eine Bundeskanzlerin einen Fehler eingesteht und dafür um Verzeihung bittet. In der Geschichte der Bundesrepublik hat das wohl noch kein Bundeskanzler getan. Das waren ja auch alles Männer. Die tun so etwas nicht, schon gar nicht als Bundeskanzler. Schließlich leben wir auch in einer Zeit der Selbstrechtfertigungen. Da macht man sich nicht selber schlecht. Stattdessen heißt es letztlich immer (wenn auch mit ganz unterschiedlichen Worten): „Wir sind die Guten." Dass wir die Guten sind, heißt aber, dass es irgendwo andere gibt, die die Bösen sind.
In der bei uns herrschenden politischen Meinung geht man bekanntlich davon aus, dass die westlichen Länder mit ihren Werten und ihrem politischen System die Guten sind. Russland und China hingegen sind die Bösen, weil deren System menschenverachtend und weniger leistungsfähig ist. Das ist die Grundvoraussetzung aller westlichen Politik. In Russland und China sieht man das allerdings genau umgekehrt.
Menschenrechtsverletzungen der jeweils anderen Seite eignen sich hervorragend, um das eigene Gutsein zu begründen. Der Westen verweist auf Alexej Navalny. Russische Quellen hingegen zeigen auf Julian Assange. Wer ist jetzt der Gute?
Jedenfalls hat aus der Perspektive Russlands und Chinas der kapitalistische und freiheitliche Westen das weniger leistungsfähige System. Die Chinesen lachen (weil sie höflich sind nur insgeheim) über den Dauerlockdown in den freiheitlichen Demokratien, in denen sich viele plötzlich gar nicht mehr frei fühlen. Über ihre eigene Behandlung der Uiguren lachen die Chinesen nicht. Da gibt's auch nichts zu lachen.
In der Pandemie wollen bei uns natürlich alle, die jetzt ihre Stimme erheben, nur das Beste für unser Land. Die zahllosen Interessenvertreter*innen, die dazu aufrufen, dass endlich ihre spezielle Klientel wieder tätig werden kann, sind nach ihrem eigenen Selbstverständnis diejenigen, die für die wirtschaftliche Existenz der Menschen eintreten, also die Guten. Diejenigen, die aus epidemiologischen Gründen für längere Schließungen eintreten, sind dementsprechend die Existenzvernichter, also die Bösen. Umgekehrt hält der Chor der Epidemiologen, Virologen und anderen -ologen seine eigene Sicht für „wissenschaftlich begründet" (also für gut), die Forderungen von Öffnungen aber für „unverantwortlich" (also für böse).
Aber wir wollen nicht über die Politik herziehen. In der Kirche und unter den Christ*innen ist es auch nicht besser. Die Fundamentalisten sind, so meinen sie, die Guten, weil sie die Bibel wörtlich nehmen und darum allein wissen, was die Wahrheit ist. Alle, die ihnen darin nicht folgen, sind die Bösen, denen Gottes Gericht droht. Die so geschimpften Liberalen hingegen halten sich selbst für gut, weil sie die Bibel in ihren historischen Zusammenhängen auslegen und damit ganz modern sind, auch wenn sie die Bibel gern relativieren. Alle, die das nicht tun, sind (freundlich ausgedrückt) unverständig, zurückgeblieben und in ihrem Bibelverständnis autoritär – also böse.
Irgendwie erinnert das alles an Kindergarten. In allen Lebensbereichen findet sich dasselbe Denkschema: Jeder gibt sich selbst für gut aus, während die anderen böse sind. Es scheint tief im Menschen verankert zu sein, dass er sich selbst rechtfertigen muss, indem er sich als der Gute vom bösen Nachbarn (oder Kindergartenkind) abhebt. Denn nur der Gute hat ein Recht darauf, überhaupt da zu sein.
Tragikomisch wird das Ganze dadurch, dass es eigentlich völlig unnötig ist, dass wir uns ständig selbst rechtfertigen. Wir werden nämlich von außen gerechtfertigt, sozusagen von höchster Stelle: von Gott. „Da wir nun aus Glauben gerechtgesprochen worden sind, haben wir Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesus Christus", schrieb Paulus (Röm 5,1). „Gerechtsprechen" heißt nichts anderes als „rechtfertigen". Das Außergewöhnliche, für uns schier Unglaubliche dabei ist: Wir müssen nicht gut sein, um von Gott gerechtfertigt zu werden. Er rechtfertigt nämlich die Gottlosen (Röm 4,5; 5,6).
Das geht uns nur schwer in den Kopf. Irgendwie hängen wir an dem Gedanken, dass Gott die Frommen rechtfertigt. Also die Guten. Darum müssen wir selbst gut sein. Und um das sein zu können, brauchen wir die Bösen auf der anderen Seite. Schon sind wir wieder im religiösen Kindergarten. Leider ist das ganze Schema ein Irrglaube. Auch unser Glaube rechtfertigt uns übrigens nicht. Der Glaube glaubt nur daran, dass Gott die Gottlosen rechtfertigt.
In diesem Glauben (wenn er denn da ist) hat jede Selbstrechtfertigung ein Ende. Sie ist schlichtweg überflüssig geworden. Wir sind ja bereits gerechtfertigt. Gott behandelt uns als Gute, auch wenn wir objektiv betrachtet zu den Bösen (Gottlosen) gehören. Dass Gott uns als Gute behandelt, meint: Wir sind zwar nicht moralisch gut, aber es ist trotzdem gut, dass wir da sind. Kurz gesagt: Gott findet uns Versager gut. Er liebt nicht unser Versagen, aber uns. Punkt. Ende. Aus. So haben wir Frieden mit Gott und mit uns selbst.
Weil wir uns jetzt geliebt wissen können, so dass es unwiderruflich gut ist, dass wir da sind, müssen wir auch die anderen nicht mehr schlechtmachen. Wir brauchen sie nicht mehr als Ausgeburten des Bösen, damit wir uns selbst für die Guten halten können. Das hat weitreichende Folgen nicht nur für unser Selbstbild, sondern auch für unser Miteinander. Und zwar nicht nur in den Kindergärten von Politik und Kirche, sondern auch im ganz privaten. Im Glauben können wir den Frieden mit den anderen fördern, anstatt sie mit dem Stempel des Bösen zu kennzeichnen.
Unser Zwang zur Selbstrechtfertigung hat also damit zu tun, dass uns der Glaube fehlt, von Gott bereits gerechtfertigt zu sein. Wer nicht glaubt, gerechtfertigt zu sein, muss sich selbst rechtfertigen, indem er den jeweils anderen auf die Seite des Bösen stellt – mit manchmal verheerenden Folgen.
Wer aber glaubt, bereits gerechtfertigt zu sein, entkommt dem einseitigen Gut-Böse-Schema. „Da ist nicht Jude noch Grieche, da ist nicht Sklave noch Freier, da ist nicht Mann noch Frau", schrieb Paulus. Man möchte ergänzen: Da ist nicht Amerikaner noch Chinese, nicht Deutscher noch Russe, nicht Kapitalist noch Kommunist, nicht Fundamentalist noch Liberaler; „denn ihr seid alle einer in Christus Jesus" (Gal 3,28) – ihr seid alle Menschen, von denen gilt: Es ist gut, dass ihr da seid. Denn ihr seid alle durch die Liebe Jesu Christi, welche die Liebe Gottes ist, bedingungslos und für immer geliebt. Das gilt übrigens auch für Männer.
Bleibt nur noch eine Frage: Könnte Angela Merkels einzigartige Bitte um Verzeihung damit zu tun haben, dass sie aus einem Pfarrhaus stammt?
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mir fällt spontan noch eine Ergänzung ein!
Wir Europäer, wir Weißen sind die Guten. Seht, wie tüchtig wir sind! Da sieht man doch, dass Gott uns liebt! Also, lernt von uns! Unsere Kultur, unsere Denkweise ist euch überlegen. Wir zeigen Euch den richtigen Weg, wie man leben soll. Wir sind die Klugen, Tüchtigen, auch die Guten? Also hört auf uns und lernt von uns, damit euer Marktwert steigt! Dann können wir noch effektiver und gewinnbringender eure Resourcen ausnutzen.
Das ist purer, europäischer Hochmut! Hat eine lange Tradition !
Gruß
Ursel
vielen Dank für deine treffende Ergänzung! Daran wird sehr schön deutlich, dass diejenigen, die sich selbst für die Guten halten, eben gerade deshalb keine Guten sind - wegen ihres Hochmuts nämlich. Übrigens hat Karl Barth die Sünde in drei Stichworten beschrieben: Hochmut, Trägheit und Lüge. Bedenkenswert!
Viele Grüße
Klaus