"Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen"
Eine Deutung des Rilke-Gedichtes
Klaus Straßburg | 09/07/2024
Vor ein paar Tagen traf ich während einer Wanderung auf eine Schautafel mit einem Gedicht von Rainer Maria Rilke. Das Gedicht kannte ich schon; ich fand es aber schön, mitten im Wald daran erinnert zu werden. Neben der Schautafel war ein dicker durchgesägter Baumstumpf aufgestellt, auf dem man, passend zum Gedicht, die Jahresringe des Baumes sehen konnte.
Hier das bekannte Rilke-Gedicht:
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.*
Rilke vergleicht das Leben mit den Jahresringen eines Baumes. Ein Ring legt sich um den anderen, und mit jedem Ring wird der Stamm dicker. So baut sich unser Leben auf von kleinen Ringen hin zu immer größeren. Erfahrung reiht sich an Erfahrung, und der Reichtum unserer Erfahrungen wächst mit jedem Lebensjahr.
Die Ringe ziehen sich über die Dinge, sagt Rilke. Versteht man die "Dinge" als die materielle Dimension unseres Lebens, dann werden sie durch die sich darüberlegenden Ringe überdeckt. Nicht das Materielle an sich, also das Dingliche und Sachliche, auch Technische ist das, was uns weiterführt. Den Reichtum unseres Lebens machen vielmehr unsere Erfahrungen aus, unser geistig-seelisches Erleben und Empfinden.
Mir scheint es manchmal, dass viele Menscheneingefangen sind vom Materiellen
Wenn ich durch den Wald wandere, erlebe ich Licht- und Schattenwurf, unendlich viele Grüntöne und andere Farben, nehme das Singen der Vögel wahr, erfahre mich als einen Teil der Schöpfung und empfinde große Dankbarkeit für den Reichtum des göttlichen Schaffens. Ich erlebe die Schöpfung nicht als bloße Natur, als physisches "Ding", das man sezieren und analysieren kann, sondern als Liebesgabe Gottes an mich und von daher mich selbst als geliebtes Geschöpf Gottes.
Wir leben inmitten von Materie und sind selbst Materie. Aber wir sind zugleich unendlich viel mehr als Materie, und wer die Welt und sich selbst auf Materie reduziert, ist ein armer Mensch.
Mir scheint es manchmal, dass viele Menschen so eingefangen sind vom Materiellen, dass sie den Sinn für das echte Leben verloren haben. Man kann so weit kommen, dass man nur noch das Dingliche des Lebens sieht. Dann wird alles zum bloßen Ding, zu einer Sache: Pflanzen, Tiere, die Mitmenschen – und auch ich selbst. Sachlichkeit oder auch Technologie entscheiden dann über Leben und Tod: Die bessere Technologie bringt Gewinne; das sachliche Argument verschafft mir Macht; die Verdinglichung aller Beziehungen vermeidet Leiden und hilft mir, mich durchzusetzen.
Wer das Leben verachtet, muss sich nach dem Tod sehnen
Wirtschaftsleben, Politik, Beziehungen: In all diesen Bereichen gibt es Entfremdung vom Lebendigen, vom Wahrnehmen des Anderen mit seinen Bedürfnissen, vom Mitleiden mit seinen Schmerzen, vom zärtlichen Umgang miteinander. Anstelle des bereichernden Wahrnehmens und Einfühlens regiert das Streben nach Profit, Macht und sezierender Analyse.
Damit soll prinzipiell nichts gegen analytisches Forschen und Handeln gesagt sein; es bringt uns enorme Fortschritte, zum Beispiel im medizinischen Bereich. Aber es birgt auch Gefahren. Das verdinglichende wirtschaftliche und politische Denken und Handeln der Gegenwart scheint mir mehr denn je geprägt zu sein von Härte, Selbstsucht und Lebensverachtung. Wer aber das Leben verachtet, muss sich nach dem Tod sehnen.
Es ist schwer, sich in einer solchen Kultur den Sinn für das Lebendige zu bewahren. Möglicherweise hatte Rilke das im Blick, als er selbstkritisch formulierte, dass er den letzten Ring vielleicht nicht vollbringen werde. Der letzte Ring ist vielleicht nicht einfach der zeitlich letzte, sondern der entscheidende, der letztgültige, der dem Leben eine es erfüllende Richtung gibt und es zu einem gelungenen Abschluss bringt. Was steht als Überschrift über meinem Leben und als Summe an seinem Ende? Werde ich den Sprung in die Freiheit, den Sprung vom rein Materiellen zum Empfinden des Göttlichen geschafft haben?
Man kann ein religiöser Mensch sein und von Gott nichts wissen
Das lyrische Ich des Rilke-Gedichts kreist um Gott, den uralten Turm, und zwar schon Jahrtausende lang. Das galt wohl auch von Rilke selbst. Es ist die Suche nach Gott, die sein ganzes Leben prägte. Er tat damit nichts anderes als das, was Menschen seit Jahrtausenden tun (Apg 17,28).
Ein Turm ist etwas Feststehendes, Herausragendes, Unübersehbares – ein uralter Turm zumal. Gott mit solch einem Turm zu vergleichen, macht mir Schwierigkeiten. Man könnte die Religion als einen uralten Turm bezeichnen. Die Religion ist aber nicht Gott. Religiös sein heißt noch nicht, im christlichen Sinne ein Glaubender zu sein. Darum ist die Gefahr groß, dass wir um die Religion kreisen und nicht um Gott.
Die Religion ist Menschenwerk: menschliche Gedanken und Worte über Gott und über die ihm entsprechenden Handlungen. Man kann sich lange und intensiv mit Religion beschäftigen und dennoch Gott verfehlen. Man kann ein religiöser Mensch sein und von Gott nichts wissen.
Niemand ist davor gefeit. Unser Wissen um Gott ist immer begrenzt und von Religion verstellt. Nur Gott selbst offenbart nach christlichem Verständnis sich selbst durch religiöses Menschenwerk. Darum ist es eine Gnade, durch den Schleier der Religion hindurch etwas von Gott wahrzunehmen.
Wenn Gott ein Gesang ist und ich in sein Singen einstimme,
dann werde ich selbst zum Gesang
Für Rilke steht am Ende das Nichtwissen: Bin ich ein Falke, der den Turm umkreist und an ihm sein Nest baut, dem der Turm also eine vorübergehende Heimat ist? Oder bin ich ein Sturm, der den Turm umweht, ihn auf seine Standfestigkeit erprobt, aber nicht bei ihm bleiben kann, sondern an ihm vorbeizieht, dem nächsten Ziel entgegen? Oder bin ich ein großer Gesang, der den Turm umgarnt, ein Gesang von irgendwoher, klingend und verklingend und wieder aufklingend, vom Winde verweht, schwach, kaum hörbar und dennoch unglaublich schön gerade in seiner leisen Sanftmut und Zerbrechlichkeit?
Für Rilke bleibt die Frage offen. Mich erinnert Rilkes Rede vom großen Gesang an ein anderes Lied. Es ist das Lied Ich glaub' an einen Gott, der singt von Winfried Pilz. Der Refrain und die erste Strophe dieses Liedes lauten:
von dem alles Leben klingt.
Ich glaube, Gott ist Klang,
sein Wesen ist Gesang.
Er singt als schönstes Stück
die Liebe und das Glück.
Wer singt, die Quelle trinkt,
die tief in Gott entspringt,
sein Sehnen wird erfüllt,
das Leben ihm enthüllt.
Dieses Lied hat sicher nicht die lyrische Kraft von Rilkes Gedicht. Aber ich finde, dass es ein ungewohntes und schönes Gleichnis für Gottes Wesen formuliert.
Hier wird Gott als Gesang bezeichnet. Ein singender und klingender Gott. Er singt die Liebe und das Glück. Alles Leben, die ganze Schöpfung, hat ihren Klang von diesem Gott her. Ich erlebe etwas davon, wenn ich durch die Schöpfung wandere. Dann kann sich das Gefühl einstellen, dass mir Gott selbst begegnet – der singende, Liebe und Glück aus sich heraussetzende Gott, der selbst nichts anderes als Gesang ist. So wie er nach dem biblischem Wort nichts anderes als Liebe ist (1Joh 4,8.16).
Die Liebe hat etwas Singendes. Und wenn es im Neuen Testament heißt, dass diejenigen, die von Gottes Geist erfüllt sind, in diesem Geiste Gesänge anstimmen, dann muss Gott selbst, metaphorisch gesprochen, so etwas wie ein Gesang sein (Eph 5,18b.19).
Wer sich diesem Gesang anschließt, wer begnadet ist, sich ihm anschließen zu können, dem erschließt sich, was Leben bedeutet. Das Sehnen hat ein Ende, das Kreisen um den Turm kommt zur Ruhe. Die Frage nach sich selbst findet eine Antwort.
Wenn Gott ein Gesang ist und ich in sein Singen einstimme, dann werde ich selbst zum Gesang – zum Gesang Gottes, zu seinem geliebten Geschöpf. Ich weiß dann um das Nicht-Materielle, das in Wahrheit das Leben ausmacht, auch wenn es kein Leben ohne Materie gibt. Ich lebe, indem ich Gottes Gesang mitsinge, die Liebe und das Glück. Und ich entsage den bloßen harten Fakten, der strikten, alleinherrschenden Sachlichkeit, auf deren Altar die Menschlichkeit geopfert wird. Wenn wir mit Gott sein Lied singen, dann öffnen wir uns für die Welt des Schönen, der Liebe und der Erfüllung.
Dann werden wir zum großen Gesang, aus dem die Liebe zu Gott und zu allen Geschöpfen klingt. In diesem Singen kommen wir endlich zu unserer Bestimmung und zu uns selbst.
* * * * *
* Zitiert aus: Rainer Maria Rilke: Die schönsten Gedichte. Insel Taschenbuch 4053. Insel Verlag, 10. Aufl. Berlin 2020. S. 50.
Zum Lied "Ich glaub' an einen Gott, der singt" siehe auch den Artikel Vom Gesang Gottes.
Fotos: Klaus Straßburg.
dieses Rilke-Gedicht gehört zu den ganz wenigen, die ich schon lange auswendig kann. Ich finde mich mit meiner anscheinend nie endenden Suche wieder, jedenfalls zu Teilen.
Meine Assoziation zu Kirche/Religion in diesem Zusammenhang ist die einer weit entfernten Aussichtsplattform auf diesen Turm. Es gibt mehrere davon, jede wirbt für sich als die beste. Die meisten sind jedenfalls besser als gar nichts. Wenn man sie betreten will, muss man bezahlen, nach einer bestimmten Ordnung Treppen hinaufgehen, dann bekommt man von einem Reiseführer etwas zu dem Turm erzählt, in der Regel eine Mischung aus Fakten und Legenden. Das meiste davon kennt man schon von früheren Besuchen oder aus der Literatur. Wenn man Glück hat, stehen einem der Reiseführer oder andere Reisende nicht im Wege.
Letztlich kreist man weiter. Und denkt gelegentlich darüber nach, ob als Falke, als Sturm oder als Gesang.
Viele Grüße
Thomas
danke für deine persönlichen Anmerkungen zu Rilkes Gedicht. Ich denke, wir bleiben letztlich alle unser Leben lang Suchende. Wir kommen nie ganz an Gott heran. Alle unsere Erkenntnisse sind Bruchstücke, wie sogar Paulus sagte und sich selbst dabei einbezog (1Kor 13,9).
Es ist schon wahr, dass man in den Religionen etwas abgeben und leisten muss, um dazu zu gehören. Doch das ist menschlichem Gemeinschaftsdenken geschuldet: Nur wer die Bräuche der Gemeinschaft akzeptiert und mitvollzieht, darf zu ihr gehören. Bei Gott ist es gerade nicht so. Jesus hat sich gerade denen zugewandt, die vor der religiösen Gemeinschaft nicht bestehen konnten. Darum dürfen alle zu Gott gehören. Und was sich dann als Teilhabe an den Bräuchen der Gemeinschaft einstellt, muss freiwillig sein und aus dem Innersten kommen. Denn der christliche Glaube soll uns befreien und nicht in ein Schema pressen. Insofern können wir dann Falken sein, wenn man ihn als Bild für Freiheit versteht. Oder auch ein Sturm, wenn er die ungestüme Kraft der alles umstürzenden Kritik symbolisiert.
Die Metaphern Falke und Sturm sind also auch anders (und besser) interpretierbar, als ich es im Artikel getan habe. Zum christlichen Glauben gehören doch wohl alle drei: die Freiheit des Falken mit den das Fernliegende genau erfassenden Augen, die alle Bräuche und Theologien umstürzende Kraft des Sturms und der in das Singen der Gemeinde (und des Himmels, wenn es recht zugeht) einstimmende und es weitertragende Gesang - alles zu seiner Zeit und in den Grenzen, die uns Menschen gesetzt sind.
Bis im jenseitigen Leben das Suchen und nur bruchstückhafte Erkennen im Einssein mit Gott aufhören wird (1Kor 13,10).
Viele Grüße
Klaus