Wie Glaube die Angst relativiert
Klaus Straßburg | 03/10/2022
"Langsam reicht's!" sagen viele Menschen. Sie meinen die Krisen, die über uns hereingebrochen sind. Und sie haben recht. Wir leben in einer Zeit, in der mehrere schwere Krisen aufeinandertreffen: Der Klimawandel mit seinen Folgen, die Pandemie, der Krieg in der Ukraine, eine Wirtschaftskrise und steigende Inflation. Es ist verständlich, dass Menschen Angst haben. In Krisenzeiten wird besonders deutlich, dass Angst zum menschlichen Leben gehört.
1. Ängste in den gegenwärtigen Krisen
Denken wir an den Klimawandel: Die einen fordern vor allem weniger CO2-Emissionen, um die Erhöhung der globalen Temperatur auf der Erde zu begrenzen. Andere setzen eher auf technische Entwicklungen, mit denen der Mensch den Klimawandel ihrer Meinung nach bewältigen wird. Wieder andere verdrängen den Klimawandel oder leugnen ihn gleich ganz. Ich denke, dass alle auf jeweils ihre Weise die Angst vor den katastrophalen Folgen des Klimawandels besiegen wollen.
Oder wie war es in der Corona-Pandemie? Die einen forderten beständig strengere Schutzmaßnahmen des Staates, um ihre Angst vor einer Infektion zu verringern. Die anderen forderten die Verringerung oder Aufhebung von Schutzmaßnahmen. Sie sahen keine so große Gefahr in der Pandemie. Manche deuteten sie sogar zu einer leichten Grippe um. Ich denke, dass alle Angst hatten. Die einen versuchten ihre Angst zu bewältigen, indem sie die Gefahr einer Infektion minimierten, die anderen, indem sie die Gefahr, die von einer Infektion ausging, als niedrig bewerteten oder sogar ganz ausschlossen.
Und nun auch noch der Krieg. Auch hier gehen die Meinungen stark auseinander. Die einen wollen weniger oder gar keine schweren Waffen an die Ukraine liefern. Ich denke, dabei spielt auch die Angst vor einer Ausweitung des Krieges bis hin zu einem Atomkrieg eine Rolle. Die Menschen wollen ihre Angst verringern, indem sie der Ukraine Zugeständnisse gegenüber Russland zumuten und Verhandlungen fordern, die zu einem Waffenstillstand führen.
Die anderen fordern ganz im Gegensatz dazu mehr Lieferungen schwerer Waffen. Ich denke, dass auch sie Angst vor einer Ausweitung des Krieges haben. Darum betonen sie oft: Wenn wir die Ukraine nicht mit ausreichenden Waffen ausstatten, wird Russland als nächstes Georgien oder Polen angreifen, und dann auch bald uns in Deutschland. Sie wollen diese Angst bewältigen, indem sie die Ukraine militärisch stark machen. Militärische Stärke verringert ihre Angst.
Natürlich würden beide Seiten niemals zugeben, dass sie Angst haben. Sie betonen (und glauben es wahrscheinlich meist auch selber), dass es ihnen allein um die Rettung der Menschen in der Ukraine und die Wahrung des Weltfriedens geht. Sowohl die Waffenlieferungen als auch die Zugeständnisse und Verhandlungen haben angeblich allein humanitäre Gründe.
Die Psychologie sagt uns allerdings, dass unsere Entscheidungen in erster Linie von unserem Bauchgefühl geprägt sind und nicht so sehr von unserem Kopf. Nimmt man das ernst, dann wird man eingestehen müssen: Wir alle haben Angst und versuchen, durch scheinbar rationale Gründe unsere Angst zu überwinden. Das Rationale ist dabei aber meist vorgeschoben. Die Entscheidungen fallen vor allem in unserer Gefühlswelt, nicht in der Vernunftwelt.
2. Jesu Wort gegen die Angst
Es gibt noch viele andere Gründe, Angst zu haben, als die oben beispielhaft genannten. Auch Christinnen und Christen haben Angst. Bekannt ist, was Jesus nach Joh 16,33 sagte, hier in der Lutherübersetzung zitiert:
In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.
Übersetzt man wörtlich, dann lautet der Satz so:
In der Welt habt ihr Bedrängnis (oder: Drangsal, Einengung); aber seid mutig, ich habe die Welt besiegt.
Das griechische Wort, das Luther mit "Angst" übersetzte (thlípsis), bedeutet also eigentlich „"Bedrängnis", "Drangsal" oder „Einengung". In außerbiblischen Schriften steht es auch einfach für "Druck" und "Drücken". Für "Angst" hat das Griechische eigentlich andere Wörter (phóbos, aporía oder agonía; von diesen Wörtern her kommen unsere Fremdwörter Phobie, Aporie und Agonie). Dennoch ist Luthers Übersetzung nicht ganz falsch, denn im Deutschen gehören Angst, Enge und Bedrängnis zur indogermanischen Wortgruppe von eng. Tatsächlich macht alles, was uns einengt, Angst.
Luthers Übersetzung "seid getrost" ist wohl ebenfalls ungenau, auch wenn sie sicher eindringlicher ist als das relativ kühle "seid mutig", das auch ein wenig nach einem simplen "Kopf hoch!" klingt. Im biblischen Griechisch hat das Verb, das dort steht, wohl immer den Sinn "voller Mut sein", "Mut haben".
3. Jesu Bedrängnis und Sieg
Jesus sagt den Satz zu seinen Jüngerinnen und Jüngern. Wenn im Neuen Testament "Jünger" steht, können wir ruhig Jesu "Jüngerinnen" mitdenken. Sie waren oft dabei, auch wenn sie nicht ausdrücklich erwähnt werden. Jesus spricht also mit diesem Wort aus, dass er um die Angst der Glaubenden weiß. Wir müssen unsere Angst also nicht vor ihm verheimlichen.
Zugleich bittet Jesus uns, den Mut nicht zu verlieren. Und zwar deshalb nicht, weil er die Welt mit ihrer Bedrängnis und Angst besiegt hat. "Besiegt" heißt: Die Welt hat keine letzte Macht mehr über uns. Ihre Macht ist schon gebrochen. Die Macht liegt allein bei Jesus, das heißt bei Gott.
Aber wie hat Jesus Bedrängnis und Angst besiegt? Hat er nicht selber Angst ausgestanden vor seiner Kreuzigung? Und ist nicht sein Tod am Kreuz so etwas wie die größte Bedrängnis, die man sich vorstellen kann?
Man kann das so sagen. Aber Jesu Geschichte ist ja mit seinem Tod nicht zu Ende. Das Neue Testament erzählt bekanntlich, dass er drei Tage später von den Toten auferweckt wurde. Nach unserer Zählung war es nur zwei Tage später; aber damals zählte man den Tag der Kreuzigung als ersten Tag mit.
Jesus hat also Angst und Bedrängnis besiegt, indem er sie bewusst auf sich nahm und durchlitt. Er hat sich durch sie nicht irre machen lassen, hat sein Vertrauen zu Gott in der Not nicht aufgegeben. Er hat darauf vertraut, dass Gott auch in Angst und Tod an seiner Seite bleibt. So konnte er an seiner Liebe zu den Menschen festhalten, indem er sich ihnen auslieferte. Und so hat er Angst und Bedrängnis die Macht genommen.
Seitdem ist klar: Angst, Bedrängnis, Tod können uns letztlich nichts anhaben. Sie können uns zwar alles nehmen, was wir in der Welt haben – auch unser Leben. Aber sie können uns Gottes Liebe und Fürsorge nicht nehmen. Sie können uns das Leben nicht nehmen, das Gott im "Himmel" für uns vorgesehen hat. Darum haben Angst, Bedrängnis und Tod keine letzte Macht über uns.
Im Vertrauen auf die Fürsorge Gottes über den Tod hinaus sind Bedrängnis und Angst nicht einfach weg. Darum sagte Jesus realistisch "In der Welt habt ihr Bedrängnis". Und er selbst verspürte vor seiner Kreuzigung die ganze Angst und Bedrängnis, die das Leben in dieser Welt mit sich bringt.
Doch Bedrängnis und Angst können im Vertrauen zu Gott besiegt werden. Dieser Sieg ist zwar nicht einfach da, sondern ihm geht voraus ein echtes Überwinden, ein Kämpfen. Billiger ist der Sieg nicht zu haben. Darum braucht es tatsächlich Mut, diesen Kampf zu führen.
Im Glauben ist nicht einfach alles durch Hoffnung zugedeckt und Angst kein Thema mehr, sondern es muss manchmal auch ein Kampf um die Hoffnung geführt werden.
Im Vertrauen auf Gott kann diese Hoffnung errungen werden – eine Hoffnung, die stärker ist als Angst, Bedrängnis und Tod. Denn für den Menschen, der sich letztlich und ewig bei Gott gut aufgehoben weiß, relativieren sich Angst und Bedrängnis. Sie können, wenn es ihm geschenkt wird, sogar ganz verschwinden.
4. Hoffnung in den gegenwärtigen Krisen
Die gegenwärtigen Krisen machen uns zu schaffen. Wir wissen nicht, was noch auf uns zukommt. Es ist nicht auszuschließen, dass die Menschheit von schwerem Leid befallen wird. Diese Unsicherheit macht Angst, denn niemand möchte schwer leiden. Darum versuchen wir, die Krisen durch politische Aktivitäten zu entschärfen und so unsere Angst zu verringern.
Dem Menschen, der nur die sichtbare Wirklichkeit der Welt als Realität anerkennt, bleibt auch gar keine andere Möglichkeit, als zu versuchen, die Krisen selbst zu lösen. Die Angst besiegt er dadurch jedoch offensichtlich nicht. Sie wird nur besiegt in der Gewissheit, dass es mehr gibt als die sichtbare Wirklichkeit der Welt. Sie wird besiegt im Vertrauen auf einen gütigen Gott, welcher der Herr der Geschichte ist und Angst und Bedrängnis schon besiegt hat, so dass ihr Ende bereits vorprogrammiert ist.
Eine Not aber, deren Ende bereits vorprogrammiert ist, muss uns nicht mehr allzu sehr erschüttern.
Dietrich Bonhoeffer hat in wenigen Sätzen, die er im Gefängnis schrieb, sehr eindrücklich zum Ausdruck gebracht, wodurch die Angst vor der Zukunft überwunden werden kann:
Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen [Röm 8,28]. Ich glaube, dass uns Gott in jeder Notlage so viel Widerstand und Kraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein.
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Quellennachweis:
- Zur wortgeschichtlichen Bemerkung vgl. den Duden "Etymologie", Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache, Duden Band 7, 2. Aufl., Dudenverlag 1989, unter den Stichwörtern "Angst" und "eng".
- Das Bonhoeffer-Zitat ist aus Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Herausgegeben von Eberhard Bethge. Chr. Kaiser Verlag, Neuausgabe 3. Aufl, 1985. S. 20f. Die Orthographie wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst.
Foto: Klaus Straßburg.
Es stellt sich bei dem Wort "Frieden" gerne die Frage, ob wir - in Jesus - sind. Sind wir in ihm, dann werden wir einen Frieden finden und haben, den die Welt nicht kennt, denn dann erleben wir, dass der Vater bei uns ist. Mit der gemeinsamen Liebe zur Wahrheit, Gerechtigkeit, Gnade ... vom und zum Vater, kommt eine ganz besondere Form der Bedrängnis auf einen zu, weil die Welt dich nämlich überwinden will und doch können wir sie überwinden, weil wir wissen wohin wir gehen werden.
diese Bedrängnis der Glaubenden gibt es tatsächlich, in anderen Ländern aber sicher noch viel stärker als bei uns. Bei uns wird man als Christ oder Christin nicht verfolgt, aber ggf. belächelt, Widerständen ausgesetzt oder ausgegrenzt. Das kann auch schlimm sein, aber Leid auf sich zu nehmen gehört zum Christsein. Das Leid und die Angst davor werden aber verringert, wenn man sich in Gottes guten Händen weiß, und zwar nicht nur in dieser Welt, sondern darüber hinaus.
ich bin mir inzwischen gar nicht mehr sicher, ob es für mich sinnvoll ist, meine Angst besiegen zu wollen. Reicht es nicht, sich bei allem zukünftig kommen mag, sich so bewusst wie möglich seiner Angst zu stellen? Mit anderen Worten: wie kann mich meiner Angst stellen, ohne dass sie mich zu sehr bedroht? Ist Angst nicht immer auch ein Zeichen, dass ich mich mit meiner Gegenwart auseinandersetze? Mein Glaube ist dabei nur eine, wenngleich auch nicht immer starke, Kraft, diese Angst zu überwinden.
das ist ein sehr interessanter Hinweis. Ich finde, du hast recht: Es geht gar nicht darum, die Angst zu besiegen in dem Sinne, dass sie abgeschafft wird. Bezeichnenderweise lautet das Jesuswort ja auch so: "In der Welt habt ihr Bedrängnis/Angst; aber habt Mut, ich habe die Welt (nicht die Bedrängnis/Angst) besiegt/überwunden." - Ich verstehe das so, dass wir in der Welt immer Bedrängnisse erleben und daher auch Angst fühlen werden. Das sagt der erste Halbsatz. Und der zweite Halbsatz sagt: In aller Bedrängnis/Angst können wir Mut haben, weil die Welt mit ihrer Bedrängnis/Angst nicht das Letzte ist, sondern etwas, was Jesus bereits besiegt/überwunden hat. Er hat die Welt bereits hinter sich gelassen. Die Welt, und das heißt: alles, was es in der Welt gibt und die gesamte Weltgeschichte ist für ihn nicht mehr das Maß aller Dinge. Das Maß aller Dinge ist das, was nach dieser Welt kommt: Gottes Reich. Das Reich Gottes ist aber insofern mit Jesus auch schon da, als er ganz von seiner Gottesbeziehung her gelebt hat. Darum sagt er: "Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen."
Ich stimme dir voll zu: Sich der eigenen Angst zu stellen, ist ein wichtiger Schritt. Dann stellt sich aber sofort die Frage, die du auch formulierst: Wie mache ich das, ohne in der Angst unterzugehen? Und das gelingt, denke ich, am besten, wenn die Angst machende Welt für uns nicht das Letzte, also das Maß aller Dinge, ist.
Sicher gibt es auch andere Hilfen, die Angst nicht zu groß werden zu lassen: Ablenkung, Beschäftigung, Engagement, Gespräche, Naturerlebnisse, Musik, Psychotherapie, ... Ich will diese Maßnahmen gar nicht abwerten; sie sind psychologisch wichtige Hilfsmittel zum Bestehen des Lebens. Keiner kommt ohne sie aus. Aber wenn ich recht sehe, dämpfen diese Maßnahmen die Angst nur eine Zeit lang, ohne sie zu relativieren, zu "verarbeiten" und zu verringern. Die Psychotherapie will ich davon ausdrücklich ausnehmen. Sie kann als Heilmethode Ängste wirklich beseitigen. Aber um diese krankhaften Ängste ging es mir jetzt nicht, sondern um die alltägliche Lebensangst.
Ich denke, der Glaube kann eine starke Kraft zur Verringerung der Angst sein. Denn auch wenn uns das Leben genommen zu werden droht, weiß der Glaube um ein neues Leben, um das Reich Gottes, von dem Jesus sprach und von dem her er lebte. Der Glaube ist sicher nicht immer in gleicher Stärke da, darum ist die Angst mal größer und mal kleiner. Wenn der Glaube aber da ist, dann ist das Reich Gottes bereits auf Erden angebrochen. Und ich hoffe darauf, dass mir in den größten Ängsten auch der stärkste Glaube geschenkt wird - so Gott will.