Wie der christliche Glaube hilft, Enttäuschungen zu vermeiden
Mein persönliches Problem mit zu hohen Erwartungen
Klaus Straßburg | 17/05/2024
Vorgestern habe ich wieder eine Wanderung gemacht. Normalerweise bereite ich meine Wanderungen akribisch vor. Ich suche mir im Wanderführer, auf Karten oder in meiner Wander-App eine Tour aus, die mir geeignet erscheint. Ich möchte nämlich nicht einfach nur wandern, sondern dabei auch etwas erleben. Und erleben heißt für mich: Es gibt reizvolle Naturerlebnisse, verschlungene Pfade, herausfordernde Kletterpassagen, interessante Flussüberquerungen oder außergewöhnliche Sehenswürdigkeiten.
Ein beeindruckendes Erlebnis soll also schon dabei sein. Vorgestern bin ich aber mal ziemlich spontan losgegangen. Ich wollte keinen langen Anfahrtsweg und habe mir deshalb eine Wanderung in der Nähe unseres Wohnorts ausgesucht. Da ich die Wälder in unserer Nähe ganz gut kenne, war ich skeptisch, was das Erlebnispotenzial betrifft. Hier wird viel Forstwirtschaft betrieben, was für das Wandererlebnis nicht gerade vorteilhaft ist.
Ich ging also los, ohne viel zu erwarten – und war überrascht, als die Tour meine Erwartungen bei weitem übertraf. Es gab viel zu sehen und zu erleben. Ich war froh, die Kamera mitgenommen zu haben, die ich eigentlich schon zu Hause lassen wollte, weil ich dachte: Es wird auf dieser Tour sowieso keine interessanten Motive geben.
Was sich mir dann darbot, davon kann ich hier nur einen kleinen Eindruck wiedergeben. Die Gerüche müsst ihr euch selber dazudenken.
Das Ginstermeer
Durch mehrere Ginsterspaliere
Leben auf totem Stamm
Die "Sieg-Loreley"
(naja, ziemlich übertrieben 😅)
Die Ginsterwelle
Als ich all diese Schönheiten erlebte, die ich gar nicht erwartet hatte, fiel mir ein Wort des irischen Dramatikers George Bernard Shaw ein. Ich habe es auf einer Postkarte, die mir kürzlich nach langer Zeit wieder in die Hände gefallen war:
Ich habe gelernt, vom Leben nicht viel zu erwarten. Das ist das Geheimnis aller echten Heiterkeit und der Grund, warum ich immer angenehme Überraschungen statt trostloser Enttäuschungen erlebe.
Das ist ein Wort, das ich mir hinter die Ohren schreiben muss. Ich erwarte nämlich meist zu viel vom Leben – und bin danach enttäuscht. Es ist wie auf meinen Wanderungen: Ich möchte etwas erleben, möchte, dass der Tag mir irgendein Highlight bietet, auf das ich begeistert zurückblicken kann. Ich mag das tägliche Einerlei nicht so sehr, sondern möchte interessante Gespräche führen, neue Einsichten gewinnen, überraschende Erfahrungen sammeln oder spannende Erlebnisse haben. Das ganz normale Alltagsleben füllt mich nicht aus.
Ich bin als Kind in einer Siedlung voller gleichaltriger Kinder aufgewachsen. Da war jeder Tag für mich ein Abenteuer. Vielleicht hat meine glückliche Kindheit mir das Gefühl vermittelt, als Erwachsener so viele Wiederholungen zu erleben.
Manche Menschen laufen ihr Leben lang vor etwas weg. Bei mir ist es anders: Ich laufe spannenden Erlebnissen hinterher.
Neulich hatte ich den Gedanken: Das ist auch eine Art von Lebensgier. Ich strebe nicht nach materiellem Luxus, nach Ruhm oder Macht, sondern nach außergewöhnlichen Erfahrungen. Bin ich auf diese Weise auch der allgegenwärtigen Gier nach Leben verfallen?
Als ich vorgestern auf meiner Wanderung darüber nachdachte, ging mir ein Wort des Apostels Paulus durch den Kopf, an das ich schon öfter mal gedacht hatte. Paulus hat in einen Gedankengang über Heiraten und unverheiratet bleiben eine grundsätzlich Überlegung über das Verhältnis der Christen zur Welt eingefügt (1Kor 7,29-31):
Die Zeit ist kurz [wörtlich: zusammengedrängt]. Künftig sollen auch die Frauen Habenden sein wie nicht Habende und die Weinenden wie nicht Weinende und die sich Freuenden wie sich nicht Freuende und die Kaufenden wie nicht Behaltende und die die Welt Benutzenden wie sie nicht Ausnutzende. Denn die Gestalt [= das Wesen] dieser Welt vergeht.
Das klingt verwirrend. Wie soll jemand, der eine Frau hat, sein wie einer, der keine hat? Wie soll ein Weinender sein, als würde er nicht weinen? Und so weiter.
Paulus beginnt und beendet diese Passage mit einem Hinweis auf die Vergänglichkeit der Welt. Alles Irdische ist vergänglich. Es ist uns vorläufig gegeben, aber nicht endgültig. Es kann schnell zu Ende sein mit dem Glück, aber auch mit dem Unglück. Darum ist es nicht hilfreich, wenn wir uns auf ein uns geschenktes Glück fixieren und von ihm abhängig machen. Und es ist ebensowenig hilfreich, wenn wir uns auf ein Unglück fixieren und gar nicht mehr damit rechnen, dass es einmal ein Ende haben wird.
Denn das Ende alles Irdischen kommt. Endgültig ist nur das Reich Gottes. Es ist jetzt schon angebrochen und geht seiner Vollendung entgegen. Es bereichert uns, vom Reich Gottes, von der schon angebrochenen Herrschaft Gottes her und auf sie hin zu leben. Von der ewigen und alles erfassenden Herrschaft Gottes her ist die Weltzeit quasi nur auf einen Augenblick "zusammengedrängt". Wenn uns dieser Augenblick vereinnahmt, sind wir nicht mehr frei. Darum ist es hilfreich, wenn Gottes ewiges Reich unser Fühlen und Streben schon jetzt bestimmt.
Es ist für unser Leben äußerst wichtig, das Vorläufige vom Endgültigen, das Vorletzte vom Letzten zu unterscheiden. Paulus will uns mit dieser Unterscheidung die Sorgen um irdische Güter nehmen (1Kor 7,32a). Denn alles Irdische ist nur ein Augenblick gegenüber der neuen, ewigen Welt. Die Freuden der Welt sind ein schöner, wenn auch unvollkommener Vorgeschmack auf das Reich Gottes. Und die Leiden der Welt sind nicht der Rede wert im Vergleich zur kommenden Herrlichkeit (Röm 8,18).
Diese Gewissheit befreit uns davon, das Weltliche allzu ernst zu nehmen. Wir werden frei davon, Menschen oder Güter zu vergötzen, frei davon, im Leid die Hoffnung zu verlieren, frei davon, beständig irgendwelchen Glückserlebnissen nachzujagen. Das Blicken auf die neue ewige Welt befreit uns davon, diese vergängliche Welt egoistisch auszunutzen und zu zerstören. Es befreit uns von der Lebensgier, die unersättlich ist und immer mehr für sich will, so dass die irdischen Güter zu Göttern werden.
Aber es stellt sich doch noch eine Frage: Lebt man denn noch richtig, wenn man die Freuden und die Güter der Welt nicht in vollen Zügen genießt? Ich habe mir diese Frage schon oft gestellt, wenn ich an die Sätze des Paulus dachte. Und ich meine, dass es dem Apostel nicht darum geht, der Welt und ihren Freuden zu entsagen. Wir dürfen und sollen sie genießen. Sie sind uns zum Genießen gegeben. Aber es tut uns nicht gut, wenn wir sie verabsolutieren, vergöttern und uns von ihnen abhängig machen. Denn dann sind die Enttäuschungen vorprogrammiert. So wie meine Enttäuschung am Ende eines Tages, der mir öde vorkommt, weil er mir wie eine Wiederholung vieler anderer Tage erscheint.
Unsere Lebenswanderung ist kurz. Gerade darum sollten wir sie, so gut es geht, genießen und weder zu wenig noch zu viel von ihr erwarten. Deshalb habe ich mir die Karte mit dem Wort von George Bernard Shaw so aufgestellt, dass ich sie täglich im Blick habe. Denn ich bin noch dabei zu lernen, vom Leben nicht zu viel zu erwarten.
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Fotos: Klaus Straßburg.
Ja, das ist wirklich eine Kunst, die ich auch erlerne: Erwartungen sozusagen sterben zu lassen - und dann ist man positiv überrascht.
Außerdem ist es immer Sache der Einstellung ob das Glas halb voll ist, oder halb leer.
danke für deine Rückmeldung. Ja, die Fotos sind in Deutschland gemacht - in der Gegend zwischen Siegerland und Westerwald. Ich war auch begeistert, als ich dieses Stück Schöpfung erleben konnte. - Glas halb voll oder halb leer: Ich lerne noch, es optimistisch zu sehen 😅.