Wessen Tochter ist die Wahrheit?
Matthias Claudius über Wahrheit, Dogmatik und Streit
Klaus Straßburg | 26/02/2022
Seit einigen Wochen lese ich zum Ausklang des Tages gern Texte von Matthias Claudius (gest. 1815) Das sind meist kurze Texte oder Gedichte. Claudius schreibt auch über ernste Themen so hoffnungsvoll und augenzwinkernd, schreibt über das Schwere mit solcher Leichtigkeit, dass alles ganz leicht wird und es gar nichts Schweres mehr zu geben scheint. So eignen sich seine Worte gut für einen positiven Ausklang des Tages.
Er schreibt zum Beispiel über den Streit um die christliche Wahrheit. Den gibt es schon so lange, wie es das Christentum gibt. Es fragt sich nur, wie man diesen Streit austrägt.
Matthias Claudius hat sich einen fiktiven Disput zwischen einem W. und einem X. ausgedacht, der vor einem Präses ausgetragen wird. Den Titel Präses tragen in Hamburg die Mitglieder der Landesregierung. Hintergrund des fiktiven Disputs ist nämlich ein Streit zwischen den Hamburger Pastoren Alberti und Goeze im Jahr 1772, ein Streit, der offenbar sogar den Hamburger Rat beschäftigte.
Der Präses soll wohl vermitteln oder auch darüber entscheiden, wer Recht hat. Es zeigt sich aber schnell, dass er keine Ahnung hat. Er redet dummes Zeug und hat das Buch, um dessen Thesen gestritten wird, nicht einmal gelesen. Irgendwann mischt sich ein Fremder in das Gespräch ein und wird zur Hauptperson.
Ich möchte nur drei Äußerungen dieses Fremden hier präsentieren:
Die Wahrheit ist die Tochter des friedlichen Himmels, sie flieht vorm Geräusch der Leidenschaften und vor Zank. Wer sie aber von ganzem Herzen liebhat, und sich selbst verleugnen kann, bei dem kehrt sie ein, den übereilt sie des Nachts im Schlaf und macht sein Gebein und sein Angesicht fröhlich. (S. 65)
Die Wahrheit gründet im Frieden, schreibt Claudius. Ein interessanter Gedanke. Sie will nichts zu tun haben mit Leidenschaften und Zank. Bei uns ist es oft anders: Emotional zu reagieren, Leidenschaft, Engagement und Betroffenheit zu zeigen (ohne aggressiv zu werden) wirkt auf viele Menschen überzeugend und gilt als Beleg für Wahrheit. Denn wer in einer Sache engagiert ist, der wird schon um die Wahrheit wissen. Andere meinen vielleicht, die Wahrheit müsse sich im emotional aufgeladenen Streit durchsetzen, sonst sei sie nicht die Wahrheit.
Für Claudius hingegen gründet die Wahrheit im inneren und äußeren Frieden. Er meint den Frieden, den man im Verhältnis zu Gott finden kann. Denn bei Gott kann man sich selbst hinterfragen, aber auch diejenigen, die sich emotional, laut und leidenschaftlich durchsetzen wollen. Man muss nicht um die Wahrheit kämpfen, weil man weiß, dass sie bei Gott bestens aufgehoben ist. Man muss noch nicht einmal verzweifelt nach ihr streben. Denn Gott kann sie uns des Nachts im Schlaf geben. Das hat etwas von Psalm 127 Vers 2.
Die erbitterten Dispute um die Wahrheit, die wir zuweilen in Parlamenten oder Talkshows erleben, kommen mir manchmal vor wie ein verzweifelter Kampf um das Rechthaben. Das hat nichts mit einem „fröhlichen Gebein und Angesicht" zu tun.
Der Geist der Religion wohnt nicht in den Schalen der Dogmatik, hat sein Wesen nicht in den Kindern des Unglaubens, noch in den ungeratenen Söhnen und übertünchten Gräbern des Glaubens, läßt sich wenig durch üppige glänzende Vernunftsprünge erzwingen, noch durch steife Orthodoxie und Mönchswesen. (S. 67)
Bei aller Sympathie für die Dogmatik, die Glaubenslehre: In ihr ist die christliche Wahrheit nicht zu Hause. Bestenfalls kann die Dogmatik die Wahrheit ein Stück weit, sehr eingeschränkt, zum Ausdruck bringen – wenn es gut läuft. Dennoch bleibt die Dogmatik immer umstritten und kritikbedürftig, wie all unser Denken. So sind die „Schalen der Dogmatik" sehr irdene, zerbrechliche und vergängliche Gefäße. Das wusste schon Paulus (2Kor 4,7).
Erzwingen lässt sich in Glaubensdingen gar nichts. Auch die Erkenntnis nicht. Weder eine steife Orthodoxie, also eine Rechtgläubigkeit, noch ein asketisches Leben wie ein Mönch noch akrobatische Gehirnverzwirbelungen, wie sie manche Theologen beherrschen – nichts von alledem garantiert die rechte Erkenntnis. Man findet die Wahrheit nicht bei den Ungläubigen, aber auch nicht bei den fehlgeleiteten Gläubigen oder in den lange schon in Vergessenheit geratenen "Gräbern" der Tradition. Man findet die Wahrheit ganz einfach bei dem, der sie in Person ist: Jesus Christus (Joh 14,6).
Ich denke daran, wenn wir nun in jener Welt sind, neben den schönen Jünglingen des Himmels, und da nun alle eines Sinnes und Freunde sind: wie das so gut sein wird, und wie es uns dann leid tun werde, daß wir hier so viel gezankt und vielleicht jemand Unrecht getan haben. (S. 68)
Wunderbar! Wenn wir auch in dieser Welt noch so sehr unterschiedlichen Wahrheiten anhängen, in der neuen Welt Gottes werden wir alle eines Sinne und Freunde sein. Was gibt es Schöneres? Dann wird es uns sicher leid tun, dass wir hier so viel gezankt und anderen Unrecht getan haben. Aber das wird unsere Freundschaft nicht mehr trüben. Denn in Gottes versöhnter Welt wird es kein Unrecht und keinen Zank mehr geben.
Und das alles hat Matthias Claudius mit so viel weniger Worten und viel schöner, als ich es jemals vermag, ausgedrückt.
Alle Texte aus: Matthias Claudius: Sämtliche Werke. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt. 6. Auflage 1987.
Der ganze Claudius-Text ist auch online verfügbar.
* * * * *
"Wer die Wahrheit von ganzem Herzen liebhat und sich selbst verleugnen kann ..." darf sich wirklich glücklich schätzen in einem gelassenen Frieden in der Hoffnung den Jah Gott nur gibt, auf dem gerechten Weg der Nächstenliebe aus geduldigem Mitgefühl.
... in den BeReich Gottes.
Aber dafür gibt es ja für Christen
nach Jesu selbst-verleugnetes Wirken sowie Leben vor und nach dem Tod,
eine bleibende Unterstützung und ein wirksamer Tröster,
der heilige und wahrhaftige Geist.
Das ist gut! Und dafür darf man wirklich sehr sehr dankbar sein.