Was ist Rechtfertigung?
Klaus Straßburg | 25/10/2021
Wir rechtfertigen uns täglich. Wenn jemand uns etwas vorwirft, müssen wir uns rechtfertigen. Oder auch, wenn wir selbst uns etwas vorwerfen. Oder wenn auch nur ein Mangel besteht, den man uns zwar nicht vorwirft, der aber peinlich oder unangenehm für uns ist. Oder wenn die Ahnung eines Mangels besteht, wenn es uns an etwas mangeln könnte, auch wenn wir nicht wissen, ob der Mangel wirklich besteht.
Ein Beispiel sei genannt: Wir sind unsicher, ob wir gute Menschen sind. Wir möchten es gerne sein und tun alles dafür, aber es schleicht sich immer wieder der Zweifel ein: Kann man mich einen guten Menschen nennen? Wir suchen dann nach Rechtfertigungen, nach Gründen dafür, dass wir ein guter Mensch sind. Solche Gründe können sein: Die anderen sind auch nicht besser als ich, vielleicht sogar schlechter. Ich bemühe mich wenigstens aufrichtig. Ich habe doch immer die zehn Gebote gehalten.
Oder eine anderes Beispiel: Wir möchten, dass unser Leben einen Sinn hat. Wir können diesen Sinn aber nicht immer finden. Wir werden die Frage nach dem Sinn nicht los. Wir ahnen, dass ein sinnloses Leben ein wertloses Leben ist. Wir versuchen dann, unserem Leben einen Sinn zu geben, zum Beispiel durch Tätigkeiten, die uns sinnvoll erscheinen, oder dadurch, glücklich zu werden. So rechtfertigen wir unser Dasein vor uns selbst: Unser Leben kann nicht wertlos sein, weil wir doch soviel Sinnvolles tun oder weil wir schon einmal das Glück finden werden.
1. Selbstrechtfertigungen
Auch das Neue Testament spricht von Rechtfertigung. In der Theologie gibt es sogar eine Rechtfertigungslehre. Sie geht auf die Reformation zurück. Luther fragte danach, wie er mit seiner Sünde vor Gott bestehen, wie er einen gnädigen Gott finden könne: Was sollte er tun, um sein Dasein vor Gott zu rechtfertigen? Seine Antwort war: Ich brauche mich nicht um mein Heil zu sorgen und zu bemühen, weil Gott mich in all meiner Unvollkommenheit schon längst gerechtfertigt hat.
Heute fragen, jedenfalls in der westlichen Welt, wohl nur wenige Menschen nach einem gnädigen Gott. Sündenbewusstsein ist unter uns nicht allzu weit verbreitet. Dennoch werden Rechtfertigungen umfassend gesucht, und wir versuchen, sie uns selbst zu liefern. Das jedenfalls meint der Schriftsteller Martin Walser, und er hat es in seiner 2012 erschienen Abhandlung Über Rechtfertigung, eine Versuchung dargestellt.
(Martin Walser: Über Rechtfertigung, eine Versuchung. Rowohlt Verlag Reinbek bei Hamburg, 2. Auflage 2012. Alle Zitate und Seitenangaben in diesem Artikel sind aus diesem Buch.)
Walser findet in verschiedenen literarischen Werken Belege für die Selbstrechtfertigungen von Menschen. Diese sind nötig, weil etwas im Argen liegt, ein Mangel besteht. Die Romanfiguren wissen oder ahnen es. Ihr Gewissen drückt sie. Sie sind nicht so, wie sie sein wollen oder gar sein sollen.
Josef K. soll in Franz Kafkas Roman Der Prozess dem Gericht, vor dem er angeklagt ist, alle wesentlichen Augenblicke seines Lebens nennen und bewerten. Er soll sich also für sein bisheriges Leben rechtfertigen, sein Lebensrecht beweisen. Er versucht es; doch je mehr er sich zu seiner Rechtfertigung überlegt, desto weniger fühlt er sich gerechtfertigt. Die Zweifel daran, dass er zu recht lebt, überwiegen. So wird ihm schließlich die Lebenserlaubnis entzogen, und er richtet sich selbst hin.
Walser beobachtet, dass die Rechtfertigung durch Gott heute kaum noch gesucht wird. Und zwar deshalb nicht, weil die meisten Menschen sich schon gerechtfertigt fühlen. Wer sich schon gerechtfertigt fühlt, hat es nicht nötig, sich von Gott rechtfertigen zu lassen. Man fühlt sich als guter Mensch, der für Frieden und Gerechtigkeit kämpft oder anderweitig Verantwortung übernimmt, jedenfalls auf der Seite des Guten steht. Man meint, recht zu haben, im Recht zu sein mit dem, was man sagt und tut. „Recht zu haben ist der akzeptierte Ersatz für Rechtfertigung" (S. 29).
Der Soziologe Max Weber (1864-1920) hat die These aufgestellt, der Protestantismus habe, „um jene Selbstgewissheit zu erlangen [...] als hervorragendstes Mittel rastlose Berufsarbeit eingeschärft" (S. 43). Auch durch Arbeit und den damit erworbenen Wohlstand kann man sich selbst rechtfertigen.
2. Zerstörung der Selbstrechtfertigungen
Wenn das Neue Testament von „Rechtfertigung" spricht, dann meint es: Gott ist es, der den Menschen rechtfertigt, gerechtspricht. Er rechtfertigt die Gottlosen (Röm 4,5; 5,6). Gottlos sind für Paulus nicht etwa bekennende Atheisten, die es zu seiner Zeit noch gar nicht gab. Gottlos sind die Menschen, die sich aufgrund ihres Glaubens, ihrer Frömmigkeit oder ihrer guten Taten für Gott wohlgefällig halten (Röm 4,2-8). Dem setzt Paulus entgegen: Der Mensch wird ohne etwas ihm Eigenes, ohne ein von ihm selbst hervorgebrachtes „Werk", vor Gott gerechtfertigt, sondern allein dadurch, dass Gott ihm gnädig ist (Röm 3,28). Der Mensch muss für seine Rechtfertigung absolut nichts tun. Darin besteht die Befreiung des Evangeliums.
Aber nach dieser Rechtfertigung durch Gott wird heute gar nicht mehr gefragt. Der Mensch hat ja Ersatzrechtfertigungen an die Stelle der Rechfertigung durch Gott gesetzt. Darum meint er, er brauche die Rechtfertigung durch Gott nicht mehr. Er fühlt sich ihr gegenüber erhaben. Walser schreibt (S. 32f.41):
Wer sich heute fast instinktiv erhaben fühlt über alles Religiöse, weiß vielleicht nicht, was er verloren hat. Polemisch gesagt: Rechtfertigung ohne Religion wird zur Rechthaberei. Sachlich gesagt: verarmt zum Rechthaben. [...] Wer sagt, es gebe Gott nicht, und nicht dazusagen kann, dass Gott fehlt und wie er fehlt, der hat keine Ahnung.
Was wir hinter uns gelassen haben: Rechtfertigung überhaupt von, sagen wir, oben zu erwarten. Heute genügt es, dass es einem gut geht, dann ist sein Rechtfertigungsbedarf schon gedeckt.
Walser stellt nun fest, dass neben dem Philosophen Friedrich Nietzsche (1844-1900) der Theologe Karl Barth (1886-1968) alle menschlichen Rechtfertigungsversuche zerschlagen habe. Zwei Zitate aus seinem Buch Der Römerbrief aus dem Jahr 1922, das ihn berühmt machte (S. 51.53):
Fehlt deinem Leben die Rechtfertigung, die nur Gott selbst ihm geben kann, dann fehlt ihm jede Rechfertigung.
Das Christentum „sinnt nicht nach Höhen". Es liebt es nicht, von der schöpferischen Entwicklung der Welt, von den vollendeten oder geplanten Entfaltungen und Aufbauten von Wissenschaft, Technik, Kunst, Moral oder Religion, [...] von den Herrlichkeiten etwa der Ehe, der Familie, der Kirche, des Staates, der Gesellschaft allzu laut und zuversichtlich reden zu hören. [...] Es sieht die Lage des Menschen zwischen Himmel und Erde als viel zu bedroht an, als daß es [...] an den Wert aller jener Werte, an die Wichtigkeit aller jener Wichtigkeiten im Ernst glauben könnte. [...] Es sieht das Fragezeichen oberhalb jeder menschlichen Höhe. Es hört das heimliche Krachen im Gebälk.
Später hat sich Barth etwas wohlwollender gegenüber all diesen menschlichen Kulturleistungen geäußert. Er hat ihnen zugebilligt, dass sie von Gott her ein Licht in der Finsternis der Welt sein können, dass ihnen eine relative Wichtigkeit zukommen kann. Dennoch bleiben diese Kulturleistungen bedroht, und es bleibt das Fragezeichen, das Gott hinter sie setzt, sind sie doch immer menschliche, vergängliche und unvollkommene Leistungen. Sie leuchten nur dann, wenn Gott sie leuchten lässt.
Wem bei solcher Relativierung alles menschlichen Tuns übel wird, dem sei ein Satz des
Kirchenvaters Augustinus (354-430) empfohlen (S. 40f): Er hat geschrieben, dass unsere Gebete
rein gar nichts [sind und] daß wir nicht einmal das in uns mit Schmerzen erkennen. [Aber] wenn uns das auch nur schmerzt, beten wir schon.
Das Menschliche ist demnach nicht vollkommen wertlos. Der Schmerz darüber, dass unsere Gebete „gar nichts" sind, dass wir nicht wissen, was und wie wir beten sollen – der Schmerz darüber ist selbst schon ein Gebet, weil darin Gottes Geist unserer Schwachheit aufhilft (vgl. Röm 8,26). Man könnte hinzufügen: Der Schmerz über unsere Selbstrechtfertigungen ist selbst schon etwas von dem Licht, das Gott in unser Leben bringt.
Von Gott her also bekommt unser Tun einen Sinn, einen Wert, einen Segen. Von uns aus ist das nicht möglich. Der Segen ist eine für uns unmögliche Möglichkeit, nämlich eine Möglichkeit Gottes allein. Karl Barth (S. 49):
Es ist sentimentale [...] Selbsttäuschung zu meinen, daß etwa von Natur und Geschichte, von Kunst, Moral, Wissenschaft oder sogar Religion aus direkte Wege zu der unmöglichen Möglichkeit Gottes führen.
Für mich bedeutet das Befreiung: Ich bin befreit davon, irgendetwas tun zu müssen, um vor Gott gerechtfertigt zu sein. Ich kann gewiss sein, dass Gott mich schon gerechtfertigt hat – dass er mir das Recht (keinen Anspruch!) gibt, zu leben.
3. Dissonanzen
Dissonanzen stellen sich ein: Wir sollen glauben, aber wir können es nicht. Wir sollen Gutes tun, aber sind unfähig dazu. Unsere Gebete sind „gar nichts", aber wir beten dennoch. Kunst, Moral und Wissenschaft sind wunderbare Möglichkeiten, aber der Segen dazu ist nicht unsere Möglichkeit. Wir suchen Wahrheit und Glück, aber finden sie nicht. Barth zitiert den Philosophen Friedrich Nietzsche (S. 67f):
Die alten Denker suchten mit allen Kräften das Glück und die Wahrheit – und nie soll einer finden, was er suchen muß, lautet der böse Grundsatz der Natur. Wer aber Unwahrheit in allem sucht und dem Unglücke sich freiwillig gesellt, dem wird vielleicht ein anderes Wunder als Enttäuschung bereitet: [...] die Erde verliert ihre Schwere, die Ereignisse und Mächte der Erde werden traumhaft, wie an Sommerabenden breitet sich Verklärung um ihn aus. Dem Schauenden ist, als ob er gerade zu wachen anfinge und als ob nur noch die Wolken eines verschwebenden Traumes um ihn her spielten.
Leichter wird es, meint Nietzsche, wenn man die Suche nach Glück und Wahrheit aufgibt und sich dem Unglück stellt, sie nicht finden zu können. Wer das erkennt, erwacht aus seinen Träumen, Glück und Wahrheit lägen ihm zu Füßen.
Auch Martin Luther wusste um die Dissonanzen des menschlichen Lebens (S. 66f):
So du willst Miterbe sein des Herrn Jesu Christ und sein Bruder sein und ihm gleichwerden und nicht mitleiden, so wird er dich gewißlich am Jüngsten Tag [...] fragen, wo du deine Dornenkrone, Kreuz, Nägel und Geißel habest, ob du auch der ganzen Welt ein Gräuel gewesen seist, wie er selbst und alle seine Glieder gewesen sind von Anfang der Welt her.
Das soll keine Verherrlichung des Leidens sein. Aber ohne Leiden geht es nicht, betont Martin Luther. Jeder Mensch soll sein Kreuz (nicht das Kreuz Christi!) auf sich nehmen (Mt 10,38; 16,24). Die Dissonanzen gehören dazu. Leid gehört zum Christsein dazu. Es gehörte ja auch für Christus dazu.
Barth selbst dazu (S. 73):
Wenn Gott also lebendig macht, so tut er es, indem er tötet. [...] Der Glaube, sofern er in irgend einem Sinn mehr als Hohlraum sein will, ist Unglaube. [...] Denn welcher Fromme [...] träte Gott nicht zu nahe?"
Auch unser Glaube ist nichts Positives, das wir uns selbst zuschreiben könnten. Wir alle treten Gott in unserem Glauben zu nahe. Dann bleibt nur „der Ort, der überhaupt kein Ort ist, sondern nur das Moment der Bewegung des Menschen durch Gott" (S. 73). Wenn Gott uns bewegt, wenn er an uns wirkt, dann ist das kein Ort, an dem wir uns aufhalten können, sondern das unverfügbare Ereignis der Gnade Gottes.
Schon Augustinus wusste um die Unerreichbarkeit Gottes (S. 82):
Erhabenster, Gütigster, Machtvollster und Gerechtester, Verborgenster und Allgegenwärtigster, Lieblichster, Kraftvollster [...] Du stehst felsenfest und bist doch unerkennbar [...] Welchen Wert haben überhaupt unsere Worte, wenn man von Dir redet?
Auch Friedrich Hölderlin (1770-1843) schließt sich an (S. 82):
Was ist Gott? unbekannt, dennochVoll Eigenschaften ist das AngesichtDes Himmels von ihm. [...]Nah istUnd schwer zu fassen der Gott.
Nietzsche spricht sogar davon, dass wir die Dissonanz genießen müssen. Martin Walser ergänzt (S. 87):
Wir genießen das schlechthin Unzumutbare, die reine Verneinung unseres Fassungsvermögens. [...] Die absolute Dissonanz [...] wirkt. Verstörend. Aber eine Wirkung ist eben: Die absolute Dissonanz tut gut.
4. Befreiung
Was ist das Positive an theologischen Dissonanzen? Dass wir uns keinen Gott nach unseren Wünschen basteln. Dass wir uns nicht selbst rechtfertigen durch Glaube und Werke. Dass uns schmerzlich bewusst wird, dass Gott sich verbirgt. Dass wir erfahren, dass es eine Leerstelle gibt: Gott fehlt. Martin Walser (S. 98):
In der Welt des Atheisten hat doch die Leere keinen Platz. Leere gibt es nur dort, wo Gott fehlt. Und wo er dann durch keinen -ismus ersetzt wird. Eine Welt ohne Leere ist eine zu arme Welt.
Über Rechtfertigung, eine Versuchung nannte Walser seinen Essay. Die Rechtfertigung ist eine Versuchung. Das Rechthabenwollen vor Gott, das Wissenwollen um Gott und um die Wahrheit – das sind wohl die größten Versuchungen des Glaubenden. Wir müssen den Schmerz aushalten, dass wir dieses Wissen nicht haben. Aber dieser Schmerz führt in die Freiheit, in der wir nichts mehr von uns erwarten, alles aber von Gott.
Man mag das alles als zu extrem betrachten. Sind und können wir wirklich nichts? Wissen wir tatsächlich nichts? Wird der Mensch hier nicht klein gemacht? Ich habe es nie so empfunden. Mir war und ist es eine Befreiung. Ich muss nichts tun. Ich muss nichts wissen. Ich kann alles von Gott erwarten. Er wird mir alles geben, was ich brauche.
Das könnte der erste Schritt sein dazu, uns beschenken zu lassen mit „Wissen" und „guten Taten". Aber auch dieser erste Schritt ist nicht von uns getan. Wir, die unter der Leere Leidenden, können nur von Gott selbst die Leere füllen lassen. Es geschehen lassen. Nur das Licht selbst kann uns erleuchten. Die Welt kann keine Erleuchtung bringen, sie ist abgeschlossen in sich selbst. Aber jedes kleine Licht in dieser Welt, von Gott entzündet, führt uns zu ihm.
Franz Kafka hat es wunderbar ausgedrückt (S. 103):
Erwachend kaumund zugedeckt vom frommen Schnee,sinken wir zurück zur Frühe.Dem Kristall der schönen Notentkommt nur Licht.Ich möchte nichts wissen,was die Kerze nicht weiß.Die Welt gehört unter die Haube.
* * * * *
irgendjemand hat es mal so auf den Punkt gebracht:
Martin Luther fragte: Wie kriege ich einen gnädigen Gott?
Der heutige Mensch fragt: Ist da wer?
Vielleicht gibt es für die althergebrachte Rechtfertigungslehre keinen Markt mehr, oder nur bei Liebhabern und im Antiquariat, wie mittlerweile bei Schellack- und Vinylschallplatten.
Viele Grüße
Thomas
P.S.:
1) Zum Thema "Sinn des Lebens": Für mich trägt das Leben seinen Sinn in sich. Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.
2) Ich finde deinen Beitrag gut gemacht und lesenswert, mit den ganzen kulturellen Bezügen.
vielen Dank für deine freundliche Rückmeldung. Es ist sicher so, dass die meisten Menschen heute danach fragen, ob ein Gott existiert und nicht danach, wie man vor ihm bestehen kann. Wenn man aber von der Existenz Gottes überzeugt ist, stellt sich wohl auch mit der Erkenntnis der eigenen Unzulänglichkeit die letztere Frage ein. Insofern ist die Rechtfertigungslehre zumindest für die Glaubenden von Bedeutung. Ich fand es aber auch überzeugend, was Martin Walser über den Gott, der fehlt, geschrieben hat, auch wenn sich heute kaum jemand sein Fehlen eingesteht. Jedenfalls scheint mir der Rechtfertigungszwang in der Moderne nicht kleiner geworden zu sein. Möglicherweise ist er mit dem Wegfall des Glaubens an die Rechtfertigung durch Gott sogar größer geworden.
Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist für mich die Frage nach der bleibenden Bedeutung des Lebens. Diese bleibende Bedeutung kann ich persönlich nicht im Leben an sich finden. Es gibt ja z.B. das lieblose oder von anderen zerstörte Leben, das meiner Meinung nach seine Bedeutung nicht in sich selbst trägt. Und schließlich ist jedes Leben begrenzt und hat insofern gerade keine bleibende Bedeutung: Die Geschichte wird über uns hinweggehen. Darum kann ich meinem Leben diese Bedeutung auch nicht selber geben. Ich hoffe aber darauf, dass Gott ihm Bedeutung verleiht und dass es darum nicht sinnlos ist. So jedenfalle empfinde ich es.
Viele Grüße
Klaus
Final wird immer nach Werken abgerechnet, so kennen wir es aus der Offenbarung des Johannes.
In Verbindung mit Paulus erkennen wir aber auch, dass Werke nicht gleich Werke sind. Kommen sie nicht aus unserem Glauben und Vertrauen in Gott, dann ist deren Güte-Klasse gering und von minderer Qualität. Es ist alles andere als eine herzliche und liebevolle Premium-Qualität, daher kein erprobtes und bewährungsfähiges Bekenntnis. Mit den Naturgesetzen vom Schöpfer und den Moralgesetzen von Moses wurde das Bewusstsein für Verfehlungen bei der Qualität geschaffen - für eine allgemeingültige göttliche Gerechtigkeit. Diese Gerechtigkeit erlangt der unvollkommene Mensch allerdings nur durch Glauben an den vollkommenen Gott, an seine väterliche Liebe zu uns, an die letzte Instanz, an seinen herrlichen Namen, an sein Gutes, an seinen Sohn und dessen Opfer, an seinen BeReich für uns, an seinen Weg des Lebens, an seine Erlösung für dich ... Ohne Glauben gelangt man somit unmöglich in die Liebe Gottes (obwohl sie immer da ist) und damit in Seine Gnade und Sein Wohlgefallen. Man kann sich zwar im Selbstbetrug vergeblich selbst rechtfertigen, aber weit besser ist es sich rechtfertigen zu lassen, insbesondere von jemand der über alles Bescheid weiß. Mehr noch, den man liebt und von dem man geliebt wird. In dieser innigen und gemeinsamen Liebe zum Guten, strebt das Herz hingebungsvoll nach Heiligkeit, die man auch gerne geschöpfliche Vollkommenheit bezeichnen darf. Unser Aufenthalt auf der "Enterprise" Earth beendet bald und "Scotty" wird uns wegbeamen, dann wird je nach Güte-Qualität aussortiert. Gemäß einem Entscheidungsgremium wird unsere Beurteilung weitere Entscheidungen auslösen. Es liegt an uns, was und wen wir lieben, durch was und wen wir uns lieber rechtfertigen lassen wollen.
Dein Artikel, theologisch,
philosoph- und psychologisch:
er macht mir, ich kann's nicht bestreiten,
bisweilen Schwierigkeiten.
Ich spreche mich nicht selbst gerecht,
erkenne meine Mängel,
bin mittelmäßig gut, nicht schlecht,
und auch bestimmt kein Engel.
Was andre dazu glaubten
wie Nietzsche, Barth und Luther,
von Gott und sich behaupten,
ist mir ganz einerlei.
Es ist für mich, den Reim verzeih',
nur mehr Papierkorbfutter.
In der Hoffnung, dass Dir das nicht allzu sehr missfällt, grüße ich Dich.
Hans-Jürgen
vielen Dank für deine Stellungnahme. Sie klingt allerdings sprachlich für mich sehr bedrückend. Wenn du schreibst, „final wird immer nach Werken abgerechnet" und „dann wird je nach Güte-Qualität aussortiert", denke ich an einen Gott, der mit Papier und Bleistift gute und schlechte Werke gegeneinander aufrechnet und dementsprechend einen Menschen liebevoll aufnimmt oder zornig verdammt – ein Buchhaltergott. Vielleicht meinst du es ja nicht so, aber für mich klingt es so. Von dem Gott, der die GOTTLOSEN gerechtspricht (Röm 4,5; 5,6) spüre ich dabei nichts, dafür umso mehr von einem Gott, der Angst macht.
Es erleichtert mich dann, wenn du sagst „Diese Gerechtigkeit erlangt der unvollkommene Mensch nur durch Glauben." Ich frage mich aber bei diesem Satz, ob der Glaube nicht auch wieder wie ein Werk erscheint – etwas, das wir selber geleistet haben und womit wir uns vor Gott rühmen können. „Ohne Glauben gelangt man unmöglich in die Liebe Gottes", schreibst du. Könnte es nicht gerade umgekehrt sein: Ohne Gottes Liebe gelangt man unmöglich zum Glauben? Und zwar deshalb nicht, weil schon der Glaube ein Geschenk der Liebe Gottes ist. Das lässt sich neutestamentlich umfassend belegen, nicht nur durch Eph 2,8-10.
Ich verstehe es so: Gott macht jedem Menschen das Geschenk des Glaubens. Es gibt aber unbegreiflicherweise Menschen, die dieses Geschenk ablehnen – so, wie ein Verhungernder die ihn rettende Nahrung ablehnt. Tut ein Mensch das Selbstverständliche und nimmt das Geschenk an, dann ist das gewiss keine Tat, deren er sich rühmen kann; es ist ja das einzig Normale, eben Selbstverständliche. Es ist auch keine „Entscheidung" für Gott, weil der Verhungernde sich nicht entscheiden muss, sondern das einzig Mögliche tut, das ein Verhungernder eben tun muss, um leben zu können. Er wägt nicht ab, er überlegt nicht, sondern er nimmt selbstverständlich das rettende Brot. Es ist der einzig richtige Reflex des Menschen, der leben will, keine intellektuell erwogene Entscheidung.
Wenn ein Mensch das Brot nimmt, wird das auch seinen Lebenswandel verändern: Er wird dem Geber dankbar sein. Lehnt ein Mensch das Brot ab, dann lebt er ohne diese Dankbarkeit, und sein Lebenswandel bleibt unverändert. Die guten Werke sind also immer Folgen des Glaubens: Der Gott vertrauende Mensch muss nicht mehr versuchen, sein Leben durch eigene Werke auf Kosten der Mitkreaturen zu sichern, weil er weiß, dass sein Leben bei Gott in den besten Händen ist. Wenn aber die Werke Folgen des Glaubens sind, können sie nicht ein vom Glauben unabhängiger Maßstab dafür sein, ob Gott uns liebt oder nicht, kein Maßstab, nach denen Gott buchhaltermäßig mit uns abrechnet. Das Gericht nach den Werken ist deshalb nur ein anderer Ausdruck für die Dankbarkeit Gott gegenüber, die sich in seinen Werken ausdrückt. Weil diese Dankbarkeit aber nichts anderes als Glaube ist, also Geschenk Gottes, zeigen die Werke nur an, ob ein Mensch das Geschenk des Glaubens angenommen hat oder nicht.
Insofern stimmt ich dir zu, wenn du sagst, die Gerechtigkeit erlangen wir nur durch Glauben. Man muss aber immer dazu sagen, dass dieser Glaube keine Leistung unsererseits ist, sondern Gottes Geschenk, und dass auch die Annahme dieses Geschenks keine Leistung unsererseits ist, sondern das selbstverständliche Annehmen des Geschenks durch einen Verhungernden. Dieses selbstverständliche Annehmen des Geschenks durch einen Verhungernden würden wir aber doch niemals als „Leistung" bezeichnen, sondern eben als das gesunde, natürliche, dem Lebenswillen entsprechende und darum reflexartige Verhalten eines Verhungernden. Dass es dennoch oftmals nicht geschieht, ist das Unbegreifliche des in der Sünde gefangenen Menschen. Dieser Mensch, lieber Pneuma, sind aber immer auch wir selbst, weil niemand von uns vollkommen ist und wir alle dieses Geschenk mal annehmen, mal ablehnen und auch immer wieder so leben, als gäbe es dieses Geschenk nicht. Der einzige Mensch, bei dem das nicht so war, war Jesus.
Ich will die Ernsthaftigkeit, um die es dir sicher geht, gar nicht in Frage stellen, und man kann die Frage nach der Gottesbeziehung gar nicht ernst genug nehmen. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass die Sünde uns alle betrifft, weil wir den Geist Gottes, der uns von ihr befreit, niemals vollkommen in uns wirken lassen. Wir sind deshalb alle bleibend auf Gottes Gnade angewiesen, und das Schlimmste wäre, wenn wir uns vor Gott auf unsere Werke oder auf unseren Glauben berufen würden.
Ich bin sicher, dass du das auch nicht willst, aber deine Sprache vermittelt mir immer wieder genau dies. Und ich finde es wichtig, dass wir den Menschen die Liebe Gottes weitersagen und ihnen nicht Angst einjagen oder einen Leistungsdruck erzeugen. Denn Gottes Liebe will uns gerade die Angst nehmen und uns von allem Leistungsdruck befreien.
Ich denke, dass wir darin auch einig sind.
vielen Dank für dein schönes Gedicht. Ich kann gut verstehen, dass dir einiges in meinem Artikel Schwierigkeiten macht. Wahrscheinlich geht es manchen anderen Lesenden auch so, ohne dass sie dies zum Ausdruck bringen. Die Gedanken Karl Barths zum Beispiel waren auch für mich, als ich sie zum ersten Mal las, eine echte Herausforderung für meinen Glauben. Erst beim wiederholten Lesen und durch langes Nachdenken haben sie bei mir ihre befreiende Wirkung entfaltet. Diese befreiende Wirkung besteht darin, dass absolut nichts, was ich selber tue, denke oder glaube, mir das Ansehen bei Gott verschafft oder sichert, sondern dass ich ganz und gar von Gottes Gnade abhängig bin. Um zu dieser Einsicht zu kommen, musste ich jede auf mich selbst gegründete Sicherheit fahren lassen. Aber gerade das führte zur Befreiung von jedem Leistungsdruck.
Wenn du mir noch konkreter schreiben würdest, was dir Schwierigkeiten bereitet, könnte ich auch konkreter darauf eingehen. Ich bin sicher, dass wir dann manche Irritation aus dem Weg räumen könnten.
Viele Grüße
Klaus
danke für Deine Antwort.
Auf alle Einzelheiten, die mich irritierten, kann ich nicht eingehen; ich müsste denn sehr ausführlich werden.
Zunächst nur dies; Du schreibst: "... Wir möchten, dass unser Leben einen Sinn hat, ..., werden die Frage nach dem Sinn nicht los ..." So geht es mir nicht. Auch die Frage nach einem gnädigen Gott, wie sie Luther umtrieb, ist nicht die meine.
So weit ich sehe, ist die gesamte Rechtfertigungslehre, auf die Du in der Folge eingehst, Menschenwerk. Sie führte jahrhundertelang zu Spaltung und Zwist. Diese konnten erst vor 22 Jahren durch eine Übereinkunft leitender kirchlicher Gremien angenähert überwunden werden.
Deine sich anschließenden Ausführungen und ausgewählten Zitate sind mir zu theoretisch und abstrakt, zum Teil auch zu symbolisch-poetisch, so dass ich mit ihnen nichts anfangen kann. Im Endeffekt wusste ich nicht, worauf Du eigentlich hinaus willst.
"Befreit" fühle ich mich erst, wenn ich nicht über Deinen langen, mich verwirrenden und anstrengenden Artikel mehr nachdenke. Dass ich, wie Du in Deiner Antwort schreibst, ganz und gar von Gott abhängig bin, war und ist mir ohnehin schon seit langem klar.
Damit möchte ich schließen und grüße Dich herzlich.
Hans-Jürgen
vielen Dank für deine Antwort. Jetzt kann ich mir besser vorstellen, was dich an meinem Artikel irritiert hat und noch irritiert.
Zunächst möchte ich klar sagen, dass ich natürlich niemandem ein Problem einreden möchte, das er nicht hat. Wenn die Fragen nach dem Sinn des Lebens und nach dem gnädigen Gott für dich kein Problem sind, dann bist du ja vielleicht einer der glücklichen Menschen, die im Glauben bereits auf diese Fragen eine Antwort erhalten haben oder so sehr in der Einheit mit Gott leben, dass die Fragen gar nicht mehr auftauchen.
Ich will ganz ehrlich sagen, dass ich nicht zu diesen Menschen gehöre. Und ich kann mir auch kaum vorstellen, dass einem reflektierten Menschen, wie du es bist, niemals die Frage nach der Bedeutung, nach dem Zweck seines Daseins gekommen ist. Nichts anderes ist nämlich für mich die Sinnfrage. Und so denke ich, dass jeder Mensch seinem Leben eine Bedeutung zu geben versucht und dass er sich Zwecke setzt, für die sich zu leben lohnt und die seinem Dasein einen Wert geben – es sei denn, er lebt ganz aus der Einheit mit Gott und ist gewiss, dass Gott seinem Leben bereits eine bleibende Bedeutung und einen letzten Zweck gegeben hat. Vielleicht gehörst du ja zu den glücklichen Menschen, denen diese Gewissheit eigen ist.
Ähnlich verhält es sich mit der Frage nach dem gnädigen Gott. Ich denke, es ist nicht selbstverständlich, dass Gott uns armen und schuldig werdenden Geschöpfen gnädig ist. Darum sollen wir ja auch unsere Schuld bekennen und um Vergebung bitten. Man muss sicher keine jahrelangen inneren Kämpfe austragen, wie es bei Luther war, um des gnädigen Gottes gewiss zu werden. Andererseits sollte man aber auch nicht zu schnell davon ausgehen, dass Gott mir gnädig ist, so als wäre dies sein Job und etwas anderes käme überhaupt nicht in Frage. Gnade ist eben nichts, was wir uns verdient haben oder worauf wir einen Anspruch hätten, sondern sie ist Gottes freies Geschenk – was bedeutet, dass er uns seine Gnade auch versagen kann. Er ist nicht verpflichtet dazu, gnädig zu sein. Insofern hat die Frage nach dem gnädigen Gott doch auch ein gewisses Recht.
Aber vielleicht besteht diese Frage für dich nicht mehr, weil dir ja, wie du schreibst, schon lange klar ist, dass du ganz und gar von Gott abhängig bist. Dann weißt du ja vielleicht, dass du auch von Gottes Gnade abhängig bist. Mir geht es heute genauso. Es gab aber Zeiten in meinem Leben, in denen das überhaupt nicht so war, und ich musste die Klarheit darüber, dass Gott mir gnädig ist, erst langsam gewinnen.
Vielleicht kannst du ja vor diesem Hintergrund verstehen, dass die Rechtfertigungslehre kein „Theologenfündlein" ist, also eine theoretische Theologenlehre, die eigentlich entbehrlich ist. Geht es in ihr doch um die Frage, wie wir alle vor Gott dastehen, welche Beziehung Gott zu uns hat und welche Beziehung darum wir zu ihm einnehmen können. Das alles mag einem Menschen im Glauben vollständig klar sein, aber ich finde es trotzdem wichtig, es sich immer wieder zu vergegenwärtigen, durchzubuchstabieren und dankbar dafür zu sein. Damit Gottes Gnade nicht zur Gewohnheit wird.
Es wird wohl jedem Glaubenden sein Glaube irgendwann ein Stück Gewohnheit werden. Aber das ändert nichts daran, dass Gewohnheit etwas anderes als Glaube ist. Und ich finde es gut und wichtig, dass wir immer wieder aus der Gewohnheit unseres Glaubens herausgerissen werden und ins Nachdenken kommen. Unser Nachdenken führt uns dann aus den gewohnten Bahnen unseres Glaubens heraus zu neuen Ufern, und nur so lernen wir dazu und unser Glaube bleibt lebendig. Dieses Nachdenken ist bestimmt nicht immer angenehm, weil wir damit das Gewohnte in Frage stellen. Aber ohne dass das Gewohnte in Frage gestellt wird, können wir auch nicht im Glauben wachsen.
Wie gesagt: Wenn du bereits in der vollkommenen Einheit mit Gott lebst und keinerlei Zweifel an seiner Gnade und deinem Lebenssinn kennst, dann mag das ein Anzeichen für einen festen Glauben sein. Wenn meine Zeilen dich aber beunruhigen, dann mag das ein Anzeichen dafür sein, dass etwas Neues in dir arbeitet, das nicht unbedingt schlecht sein muss, sondern dich vielleicht weiterführen will. Welche der beiden Möglichkeiten für dich zutreffen, darüber kann ich mir kein Urteil bilden. Das kannst nur du selbst dir beantworten.
Ich kann aber jedem Menschen zusagen: Wer ernsthaft darum bittet, dass Gott ihm gnädig sei und dass er seinem Leben einen bleibenden Sinn verleihe (ich könnte auch sagen: dass er es segne), dem wird Gott diese Gaben ganz sicher nicht vorenthalten. Denn „jeder, der bittet, empfängt" (Mt 7,8).
Herzliche Grüße
Klaus
du schreibst sicher zu Recht, es gehe hier um die Frage "wie wir alle vor Gott stehen". Mir als theologisch eher wenig Gebildeten stellt sich aber auch ein eher praktisches menschliches Problem: als gläubiger Christ glaube auch ich mich vor Gott rechtfertigen zu m ü s s e n . Das gibt mir aber trotzdem auch Anlass meine prekären Rechtfertigungsversuche vor Giott auch vor mir selbst, vor meinem eigenen Leben - wie auch immer - neu rechtfertigen zu k ö n n e n . Was ich heute rechtfertigen kann, kann ich deswegen, weil ich mir einerseits die Freiheit nehmen kann, dieses alte Problem - zumindest für mich - je nach Lebenssituation anders zu bewerten und neu auszulegen. Anderersseits kann ich mit meinen Rechtfertigungsoptionen nicht beliebig handeln. Die Frage nach der Rechtfertigung ist gewissermaßen nicht beliebig skalierbar, sondern jeweils mit meinem Lebenssinn verknüpft, den ich nicht vollständig "einsehen" kann. Rechtfertigungen unterschiedliucher Art sind also die e i n e Seite meiner Lebensrealität, die Zumutung diese bewusst aushalten zu müssen oder zu können, ist die a n d e r e Seite. Für mich ist also die Frage nach der Rechtfertigung eine weithin offene Frage - und wenn ich ehrlich bin: ein unlösbares Dilemma.
vielen Dank für deine intensiven Gedanken. Ich erkenne darin einerseits den Drang, sich vor Gott zu rechtfertigen, und andererseits die Einsicht, dass diese Rechtfertigungsversuche doch immer prekär bleiben, auch, weil der Lebenssinn zumindest teilweise im Dunklen bleibt; insofern bleibt Rechtfertigung vor Gott für uns eine unmöglich Sache. Das kann auch gar nicht anders sein, weil unsere Rechtfertigungsversuche immer einen im Diesseits liegenden Wert setzen wollen, der unser Leben wert-voll macht, die Rechtfertigung Gottes aber gerade keinen im Diesseits liegenden Wert voraussetzt, sondern unser Lebensrecht allein in der Zuwendung Gottes zu uns gründet, also in einem uns nicht zugänglichen, weil jenseitigem Geschehen. Gottes Liebe zu uns ist eben (wie doch wohl jede Liebe) nicht von uns provozierbar, hervorrufbar, sondern unverdientes Geschenk.
Das meint wohl auch Paulus, wenn er davon spricht, dass wir nicht „gerecht" (Gott wohlgefällig) werden aufgrund von Werken, sondern allein dadurch, dass Gott die GOTTLOSEN gerechtspricht. Die „Gottlosen" sind im Kontext des Paulus keine Atheisten, sondern diejenigen, die sich selbst durch ihre Werke zu rechtfertigen versuchen. Der Trost besteht darin, dass wir, die wir uns beständig selbst zu rechtfertigen versuchen, dennoch von Gott gerechtfertigt werden. Die positive Folge für uns sollte sein, dass wir all unsere (immer prekär bleibenden) Rechtfertigungsversuche einstellen und allein von Gottes Rechtfertigung her leben. Wenn wir das täten, bestände auch nicht mehr das „unlösbare Dilemma", das du beschreibst. Gottes Liebe und unser Annehmen dieser Liebe hätten das Dilemma aufgelöst.
Deine Diktion ist für mich immer eine Herausforderung. Ich hoffe aber, deine Gedanken einigermaßen richtig verstanden zu haben und nicht an ihnen vorbeigeredet zu haben. Andernfalls kannst du mich gerne korrigieren.
zu Deiner nochmaligen Antwort an mich von heute, 18:15 Uhr:
Ich lebe sicherlich nicht "bereits in der vollkommenen Einheit mit Gott" - da überschätzt Du mich, und wer könnte das von sich schon sagen.
Dies wollte ich abschließend nur noch anmerken, damit kein falscher Eindruck von meiner Glaubensstärke und -richtung entsteht.
Viele Grüße
Hans-Jürgen
"Da sagte Jesus zu ihm: Geh! Dein Glaube hat dir geholfen." (Mk. 10,52) Ich habe den Eindruck, dass sich die Theologie nicht so richtig an diese Art zu glauben heranwagen will, den Jesus hier meint. Rechtfertigung nach Luther kommt mir da im Vergleich wie eine Art Trostpreis vor, der Bartimäus zwar gerechtfertigt aber weiterhin blind zurücklässt. Ich weiss nicht ob das verständlich ist.
Das zweite ist, dass es nach meinem Verständnis in den Psalmen darum geht, dass Gerechtigkeit etwas mit dem Eintritt ins Heiligtum zu tun hat (Psalm 15, Psalm 118). In der modernen Theologie will man das Heiligtum abschaffen, behält aber dennoch die Rechtfertigung bei, was deswegen meiner Meinung nach nicht mehr dem entspricht, wie es ursprünglich gemeint war. Dafür werden dann ganz dolle jetzt alle Arten von säkularer Gerechtigkeit in die (theologische) Mitte gestellt, während die praktische Rechtfertigung, man entschuldige meine Polemik, per Smartphone-App und Gesichtserkennung (China) geschieht und den Menschen wie zu Jesu Zeiten nur jetzt auch ohne Heiligtum aus der Gesellschaft ausschließt. Wiederum weiss ich nicht, ob das noch verständlich ist.
vielen Dank für deine kritischen Bemerkungen. Ich bin nicht sicher, ob ich dich richtig verstehe, aber ich lese heraus, dass es dir an den praktischen Folgen der Rechtfertigung fehlt: Der gerechtfertigte Bartimäus ist von seiner Blindheit geheilt und der gerechtfertigte Mensch allgemein lebt als einer, der die Beziehung zu Gott pflegt (damals nämlich im Heiligtum, im Tempel).
Das wäre in der Tat ein mangelhaftes Verständnis der Rechtfertigung. Es ist in der modernen Theologie, die du ansprichst, weitgehend Konsens, dass mit der Rechtfertigung des Menschen untrennbar seine Heiligung verbunden ist. Es geht also nicht nur darum, einen gnädigen Gott zu haben, sondern die Gnade Gottes führt, wenn der Mensch sie annimmt, unweigerlich dazu, dass sein Leben sich von Grund auf verändert, besser: dass es durch eben die Gnade Gottes erneuert wird. Der gerechtfertigte Mensch ist eine „neue Kreatur" (Paulus) – wenn und soweit er die Gnade Gottes in sich zur Wirkung kommen lässt.
Genau Letzteres ist aber das Problem. Es mangelt uns allen doch nicht an der Gnade Gottes, wohl aber daran, dass wir diese zwar theoretisch, aber praktisch, im konkreten Lebensvollzug dann doch nicht immer und überall für uns gelten lassen. Konkret formuliert: Ich teile zwar den angenehmen Glauben, von Gott gerechtfertigt zu sein, aber in den täglichen herausfordernden Situationen meines Lebens ziehe ich dann doch die Selbstrechtfertigung vor, weil sie mir sicherer erscheint als die Rechtfertigung durch Gott. Beispiel: Wenn ich angegriffen werde, beginne ich reflexartig, mich zu verteidigen (zu rechtfertigen), anstatt mal den Mund zu halten und mich innerlich darauf zu konzentrieren, dass mein Existenzrecht in Gott ruht.
Ich sehe das Problem also nicht so sehr darin, dass in der Theologie und im täglichen Glauben der Gedanke fehlt, dass die Rechtfertigung durch Gott auch Folgen im Lebenswandel hat, sondern eher darin, dass diese Folgen von uns nicht praktiziert werden. In Teilen (!) der Theologie sehe ich sogar das Hauptproblem darin, dass der Akzent auf die Folgen, also die Ethik gelegt wird, ohne dass von Rechtfertigung noch groß die Rede ist, was dazu führt, dass die Heiligung ohne Rechtfertigung vollends in der Luft hängt.
Ich hoffe, nicht an deiner Kritik vorbeigeredet zu haben, sonst lass es mich wissen.
Vielen Dank für deine wirklich sehr wichtigen Gedanken, die ich sehr schätze.
Mit diesen Zeilen hoffe ich nun ein vollständigeres Bild der vorigen Gedanken vermitteln zu können.
Ich schrieb von einem Gott, der Gottlose gerecht spricht - wenn sie Glauben bekunden -, denn der Glaube kommt aus dem Herzen eines Menschen, und daraus folgt eine reue-fähige Gesinnung, die von Herzen demütig und sanftmütig macht, um die Liebe Gottes annehmen und verinnerlichen zu können, für gute Gedanken und gute Werke.
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Der Glaube ist für mich kein Werk, sondern eine Grundlage auf der Werke erfolgen können, wobei die entscheidende Gewichtung bei solchen Werken immer im Glauben begründet ist und niemals in den resultierenden Werken. Somit gibt es Werke, die nicht auf dem Glauben an die Liebe Gottes basieren. Und gegen diese Werke und gegen deren Gewichtung argumentierte Paulus. Die Offenbarung spricht somit von Werken der Liebe, die auf Glauben basieren, als Beurteilungsgrundlage. Die Fähigkeit zu Glauben kann ich als Geschenk erkennen. Die Entscheidung etwas zu glauben, allerdings nicht, da für Gott unser freie Wille wichtig ist. Ohne diese Freiheit gäbe es keine Liebe.
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Es ist eine Entscheidungsmöglichkeit. Es ist eine Annahme oder Ablehnung, völlig unabhängig davon ob sie begreiflich oder unbegreiflich ist oder erscheint; auch wenn es eine Vorprägung oder Präferenz zu etwas gibt ändert. Davon abgesehen, erkennt sich nicht jeder Mensch als Verhungernder, ganz im Gegenteil. Und selbst wenn, dann traut er dem Brot bzw. Geber nicht, weil ein Haken dran sein könnte, der ihn in eine ungewollte Abhängigkeit bringen könnte.
Man denke an das „Brot“ der Schlange im Garten Eden, dass die Menschen glauben lies „Hungernde“ zu sein.
Und damit kommen wir nun an den Punkt des persönlichen Kennenlernen von Gott nicht mehr vorbei.
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Wieso nicht beides gelten lassen, denn ich kann beides darin erkennen, da dieser Glaube sich in der Realität durch Werke der Dankbarkeit erkennbar abbildet und dem folgt. Es sind sogar Werke, die sich durch die Liebe zum Guten, unterscheiden. Die Liebe aus menschlicher Perspektive buchhalterisch zu messen, ist natürlich unmöglich, aber für Gott eben nicht. Für Ihn ist alles transparent und erfassbar in allen Dimensionen. Das gilt natürlich auch für die Dankbarkeit aus Glauben als Antrieb. Viel wichtiger erscheint neben der Dankbarkeit, das Bekenntnis in der Liebe zu den gleichen Eigenschaften und Werten. Das vereinigt uns zur Dankbarkeit noch in einer gemeinsamen und zueinander gewandten Liebe des Selben, des Guten und Heiligen gemäß der Definition Gottes.
Dann geht um Begriffe wie Wahrheit, Gerechtigkeit, Freiheit, Gnade … sowie die Früchte des Geistes … .
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Da ich den die Annahme des Glaubens nicht als Werk begreife, ist er auch keine Leistung, sondern eine Entscheidung und Motivation für und zu Werken. Der Glaube beruht auf einer freien Willensentscheidung. Worauf will man sich da gegenüber seinem Nächsten rühmen? Es gibt keinen Grund.
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Das wir auf Gottes Gnade, Vergebung, Barmherzigkeit angewiesen sind, steht außer Frage fest, weil wir alle trotz aller guten und edlen Absichten noch Mensch sind. Diese gesunde Mischung macht uns ja so ungemein mitfühlend und herzlich, sowie nahbar und gerechter.
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Unsere Liebe ist etwas aus eigenem Antrieb und freien Willen und sollte immer nur selbst von Liebe angetrieben werden. Daher ist in der Liebe und kennt die Liebe niemals Angst, Schuld, Strafe oder Leistungsdruck, weil sie unbelastet und von positiven Gedanken angetrieben wird.
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Wie klingen für dich diese ergänzenden Gedanken zu deinen Abschnitten?
vielen Dank für deine Antwort. Wie du es jetzt beschreibst, klingt es für mich schon wesentlich besser. Ich möchte dennoch erneut - auch für die Mitlesenden - auf zwei Punkte hinweisen und dabei die Unterschiede zwischen uns herausarbeiten:
1. Der Glaube ist Gabe des Geistes (1Kor 12,3.9), Gabe Gottes (Joh 6,65), Geschenk (Phil 1,29; Eph 2,8-10), und der glaubende Mensch ist neue Kreatur (2Kor 5,17), aus Gott gezeugt (Joh 1,12f). Nur der von Gott mit Glauben beschenkte Mensch kann also glauben; kein Mensch kann es von sich aus, aus eigener Kraft. Der Glaube mag sich vielleicht wie eine menschliche Entscheidung anfühlen, ist aber im Grunde eine Entscheidung Gottes für den Menschen: "Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und dazu bestimmt, dass ihr hingeht und Frucht tragt ..." (Joh 15,16). Gott "hat uns in ihm [Christus] erwählt vor Grundlegung der Welt" (Eph 1,4). Gottes Erwählung, seine Entscheidung für uns geht also jeder menschlichen Entscheidung für Gott voraus. Der menschliche Glaube ist darum keine Voraussetzung der Gerechtsprechung, sondern umgekehrt ist die Gerechtsprechung Voraussetzung für den menschlichen Glauben. "Somit kommt es nun nicht auf den an, der will, noch auf den, der läuft, sondern auf Gott, der sich erbarmt" (Röm 9,16). Andernfalls würde unser Glaube einen Anspruch unsererseits eröffnen, dass Gott uns, weil wir glauben, rechtfertigen müsse. Das wäre nicht die Rechtfertigung der Gottlosen, sondern der Glaubenden. Gerade das lehnt aber Paulus rigoros ab: "Weil sie die Gerechtigkeit Gottes nicht kannten und DIE EIGENE geltend zu machen suchten, haben sie sich der Gerechtigkeit Gottes nicht untergeordnet" (Röm 10,2).
Du würdest wahrscheinlich sagen, Gott schenkt uns die Fähigkeit zum Glauben, aber was wir daraus machen, ob wir diese Fähigkeit nutzen und tatsächlich glauben, ist dann unsere Entscheidung. Das kommt der katholischen Tradition sehr nahe, die immer von einer vorausgehenden Gnade ausging, die dann aber vom Menschen bewährt werden musste und, wenn diese Bewährung stattfand, von Gott mit einer weiterführenden Gnade belohnt wurde. Von evangelischer Seite wurde das traditionell abgelehnt.
Ich möchte diese traditionell katholische Sichtweise nicht verurteilen, aber dringend darauf hinweisen, dass jede "Zusammenarbeit" in Glaubensdingen mit Gott oder seiner Gnade schnell dazu führt, dass wir uns dann doch wieder (insgeheim) auf die Schulter klopfen und uns auf unseren Glauben berufen, so dass wir uns Gottes weitergehende Gnade verdient haben. Das wäre dann aber wieder eine Selbstrechtfertigung.
2. Der freie Wille des Menschen ist eine Illusion. Wir sind vielmehr hoffnungslos in die Beziehungslosigkeit zu Gott verstrickt: "Es ist keiner gerecht, auch nicht einer; es ist keiner, der verständig ist; es ist keiner, der Gott mit Ernst sucht; alle sind abgewichen, sie sind alle zusammen unnütz geworden; es ist keiner, der Gutes tut, es ist auch nicht einer" (Röm 3,10-12). Wir werden nicht in die Freiheit hineingeboren, sondern in die Unfreiheit, in die wir verstrickt sind und in der wir gerade keine Beziehung zu Gott suchen. Befreiung widerfährt uns allererst durch Gott selbst: "Zur Freiheit hat uns CHRISTUS befreit" (Gal 5,1), nicht wir selbst. Paulus selbst ist das beste Beispiel dafür: Er hat die an Christus Glaubenden und damit Christus selbst verfolgt, hatte überhaupt keinen Gedanken daran, Christus zu suchen, und ist von Gott allein dazu befreit worden, vom fanatischen Verfolger Christi zu dessen überzeugten Verkündiger zu werden.
Du würdest wohl an der menschlichen Freiheit festhalten, sie aber zugleich als Gabe Gottes bezeichnen. Ich denke auch: Gott schenkt uns Freiheit, aber wir müssen sie bewähren. Ich würde die Freiheit aber nicht als menschlichen Besitz verstehen, die wir ein für allemal haben. Ich denke vielmehr, dass sie uns immer wieder neu durch Gottes Geist geschenkt werden muss, dass sie also ein immer neues Ereignis ist und nie zum Besitz wird, zu etwas, was wir "haben". Wir haben die Freiheit nicht, sondern müssen sie je und je geschenkt bekommen.
Die Gefahr des Gedankens der Freiheit besteht darin, dass wir meinen, uns frei, von uns aus, aus eigenem Vermögen für Gott entscheiden zu können und auch entscheiden zu können, wer oder was Gott eigentlich ist. Der Freiheitsgedanke ist ein typischer Gedanke der Aufklärung, also der Moderne. Der Mensch will sich von niemandem reinreden lassen und sein eigener Herr sein - auch in Glaubensdingen. Ohne das Positive des Freiheitsgedankens bestreiten zu wollen - in Glaubensdingen führt er dazu, dass der Mensch sich sein eigenes Gottesbild zimmert und sich auf seine Vernunft beruft, der niemand Vorgaben zu machen habe. Damit wird die Vernunft höher eingeordnet als der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft (Phil 4,7).
Ich weiß, dass du Letzteres nicht denkst. Ich möchte nur auf Gefahren hinweisen, denen man sich aussetzt, wenn man auf der freien Willensentscheidung des Menschen beharrt. Meine Frage wäre: Warum sollte man als glaubender Mensch an einer freien Willensentscheidung festhalten? Was hängt daran? Ist die Gefahr nicht riesengroß, sich letztlich doch immer wieder darauf zu berufen und so vor Gott zu rechtfertigen, anstatt sich von ihm rechtfertigen zu lassen? Brauchen wir die freie Willensentscheidung, um uns daran zu klammern, weil wir der grundlosen Rechtfertigung durch Gott doch nicht so richtig trauen?
Ich will dir das, lieber Pneuma, keinesfalls unterstellen, aber jeder Christenmensch sollte sich selbst solche Fragen einmal stellen - darin wirst du mir ja vielleicht zustimmen.
ständig rechtfertigen wir unsere Lebensweise vor uns selbst und so glauben wir, dass, indem wir uns angemessen rechtfertigen, wir unserem Leben einen Sinn geben. Je mehr wir uns dabei nach dem Sinn unserer Rechtfertigungen fragen, desto weniger können wir den Sinn unseres Lebens auf eine positive, gewissermaßen “selbstbestimmte” Art und Weise bestimmen - eine Ansicht, die Du vielleicht teilen kannst. Das heißt aber umgekehrt: Je weniger wir uns im Leben auf unsere eigenen Rechtfertigungsversuche besinnen können, desto mehr könnten wir uns von unserem Zwang entlasten, nach guten (theologisch angemessenen) Gründen für unsere Rechtfertigung zu suchen. Im Problem der Rechtfertigung steckt sozusagen immer auch ein Teufel im Detail. Hat dieses Suche nach einer Rechtfertigung unseren Lebens vor Gott nicht auch etwas freiwillig Selbstzwanghaftes? Nach Ansicht des Soziologen Norbert Elias entsteht Kultur durch eine mühsame Form der Selbstaufklärung. Oder, mit Elias gesprochen, durch die Verwandlung von Fremd- in Selbstzwänge. Die Frage nach der Rechtfertigung meines eigenen Lebens vor Gott spielt dabei grundsätzlich mit der Asymmetrie aller Beteiligten: Gott allein, so zumindest die Lehre, weiß letztlich um die Dimensionen von Rechtfertigung des Menschen - aber kann es nicht auch eine Art Rechtfertigung des Menschen vor sich selbst geben, der ihn vor zu zwanghaften Selbstrechtfertigungen in Schutz nimmt? Vielleicht ist meine Perspektive viel zu sehr ästhetisch als zu theologisch - aber immerhin ist sie für mich eine denkbare Option.
ich stimme dir voll zu darin, dass all unsere Rechtfertigungsversuche fehlgehen und dass es entlastend, befreiend wäre, alle eigenen Rechtfertigungsversuche aufzugeben. Die Frage ist nur: Können wir das? Sind wir nicht gezwungen, unser Dasein zu rechtfertigen? Könnten wir denn leben ohne die Gewissheit, dass unser Dasein gerechtfertigt ist – dass es gut ist, dass wir da sind?
Es geht eigentlich gar nicht um die Rechtfertigung vor Gott, sondern um die Rechtfertigung vor uns selbst, vor unserem eigenen Urteil über unser Dasein. Ich glaube, es hat nichts von Freiwilligkeit, Rechtfertigungsgründe zu suchen; wir entscheiden uns nicht aus freiem Willen dazu, so als ob wir auf solche Gründe auch verzichten können. Wir sind vielmehr gezwungen, unser Dasein zu rechtfertigen; würden wir darauf verzichten, würde unser Leben sinnlos.
Insofern ist es wohl menschlich, nach einer Rechtfertigung des Menschen vor sich selbst zu fragen. Aber kann es die geben? Sind das nicht alles Illusionen? Worin sollte eine solche Rechtfertigung bestehen? Wir könnten uns einreden: Ich bin ein guter Mensch. Oder: Ich habe eine wichtige Aufgabe auf Erden. Oder: Ich bin wichtig für meine Angehörigen. Das ist zu einem gewissen Grad sicher nicht verkehrt. Aber eben nur zu einem gewissen Grad. Ich bin eben nicht durchweg ein guter Mensch. Meine Aufgabe auf Erden kann nur relativ wichtig sein. Ich kann für meine Angehörigen wichtig sein, aber nur so lange, wie ihr und mein Leben währt. Reicht das aus? Zermalmt der Tod nicht jede Wichtigkeit?
Ist es Selbstzerfleischung, so zu fragen? Oder ist es Verdrängung, nicht so zu fragen?
Jedenfalls scheint mir die Rechtfertigung durch Gott die einzige Lösung zu sein: die Rechtfertigung durch den Unvergänglichen, der ein endgültiges, unumstößliches Urteil über mein Leben spricht. Und dieses Urteil lautet: Es ist gut, dass es dich gibt. Dein Dasein ist gewollt, es ist und bleibt gerechtfertigt – egal, wer oder was du bist und was du tust oder nicht tust.
Weil menschliche Rechtfertigungen nur bedingt gültig sein können, brauchen wir eine unbedingt gültige Rechtfertigung. Diese finde ich nur bei Gott.
Martin Walser sagte zu recht: „Wer sagt, es gebe Gott nicht, und nicht dazusagen kann, dass Gott fehlt und wie er fehlt, der hat keine Ahnung." Und Karl Barth hatte auch recht: „Fehlt deinem Leben die Rechtfertigung, die nur Gott selbst ihm geben kann, dann fehlt ihm JEDE Rechfertigung."
Ich finde, das ist nicht nur eine theologische, sondern auch eine ästhetische Perspektive. Ich denke, jeder Mensch kann sich selbst und das Leben eben so wahrnehmen, ohne nach Gott überhaupt zu fragen. Und es kann sein, dass er die Antwort auf seine Lebensfrage bei Gott findet, ohne ihn gesucht zu haben.
vielen Dank für Deine Antwort. Ich kann mich nicht erinnern, den Aspekt 'Rechtfertigung untrennbar mit Heiligung' verbunden im evangelischen Bereich herausgehört zu haben, was natürlich durchaus an mir liegen könnte.
ich habe gerade mal kurz recherchiert und einen Aufsatz des Theologen Helmut Burkhardt (siehe zu ihm auch Wikipedia) gefunden, der das Thema ansprechend darstellt und, wie ich finde, auch ganz gut lesbar ist: https://www.afet.de/download/2006/Burkhardt2006.pdf. Vielleicht interessiert dich das ja.