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Warum Jesu Geburt eine Zeitenwende ist

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Veröffentlicht von in Festzeiten · 23 Dezember 2022
Tags: WeihnachtenHoffnungFreiheitFriedeGerechtigkeitLeiden_GottesMachtKriegArmut

Warum Jesu Geburt eine Zeitenwende ist
Klaus Straßburg | 23/12/2022

In der Geschichte der Menschheit gab es immer wieder Ereignisse, die eine neue Epoche einläuteten. Es waren Veränderungen, die auf Dauer nachwirkten: nicht nur an der Peripherie, sondern im Zentrum des Lebens und Denkens. Die Erhebung des Christentums zur Staatsreligion unter Kaiser Konstantin mag ein solch epochemachendes Ereignis gewesen sein. Oder der Untergang des Römischen Weltreiches. Später die Reformation, dann die Aufklärung, die das Denken und Empfinden der Menschen im Kern erschütterte und zugleich verwandelte. Die beiden Weltkriege im vergangenen Jahrhundert mögen ebenfalls solche epochemachenden Ereignisse gewesen sein.

Es ließe sich natürlich noch vieles andere nennen: Erfindungen, technische Errungenschaften, neue Ideen, die die Welt beherrschten. Alle diese historischen Ereignisse waren mit Hoffnungen verbunden, aber auch mit Ängsten. Die einen waren davon überzeugt, die Welt endlich in einen besseren Zustand zu versetzen – während die anderen genau diesen Zustand für furchterregend hielten und deshalb die vergehende Epoche retten wollten, bestenfalls mit einigen Korrekturen versehen. Beide Seiten aber suchten, die Welt zu einem Ort zu machen, an dem der Mensch sich geborgen und sicher fühlen konnte – man könnte auch sagen: an dem er heimisch ist. Ernst Bloch beendete bekanntlich sein monumentales Hauptwerk mit der Hoffnung auf "etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat." [1]


1. Was ist Heimat?

Heimat zu finden in dieser Welt scheint nichts Selbstverständliches zu sein, sondern das Außergewöhnliche, eine unersättliche Sehnsucht – will man unter Heimat nicht einfach den Ort der Geburt oder der Jugendjahre verstehen oder auch den Ort des Lebensmittelpunkts. "Heimat ist dort, wo ich verstehe und verstanden werde", stellte Karl Jaspers tiefsinnig fest. Damit hatte er dem bloß räumlichen Begriff der Heimat einen sozialen zur Seite gestellt: Heimisch bin ich dort, wo intensive Beziehungen gegenseitiger Liebe sich ereignen. Das schließt meine Liebe zu den Dingen ein, wenngleich die Liebe zwischen mir und meinen Mitmenschen sicher den vorrangigen Aspekt ausmacht.

Der Soziologe Hartmut Rosa drückt denselben Sachverhalt etwas ausführlicher aus:

Heimat [...] ist die Hoffnung auf einen anverwandelbaren Weltausschnitt; die Sehnsucht danach, einen Platz in der Welt zu finden oder zu schaffen, an dem die Dinge (die Pflanzen und Bäume, Berge und Bäche, Brücken und Straßen, Häuser und Hütten, Menschen und Tiere) zu uns sprechen, uns etwas zu sagen haben. [2]

Vorsichtig wird hier Heimat als Hoffnung und Sehnsucht verstanden – als gäbe es die Heimat nur als eine Zukunft, die niemals erreicht werde. Jedenfalls ist Heimat ein Ort, an dem Dinge und Lebewesen zu uns sprechen. Demnach ist die Heimat immer eine kommunikative und damit auch soziale Wirklichkeit, in der Dinge und Menschen uns etwas zu sagen haben: wo also kein Geschwätz stattfindet, kein oberflächliches Gerede, sondern Ansprache, Verstehenshilfe, Kommunikation von Weisheit, die uns verwandelt.

Insofern ist die Heimat ein unverfügbarer Ort. Denn in dieser Weise angesprochen zu werden, können wir nicht machen. Das mag den homo faber, den sich seine Welt erschaffenden Menschen, noch so sehr kränken, er kann es nicht ändern. Alle Versuche, sich Heimat eigenmächtig zu verschaffen, sind damit ad absurdum geführt. Ist damit das Prinzip Hoffnung Ernst Blochs widerlegt?

Nicht ganz: Solange es Hoffnung gibt und Sehnsucht, wird es die Hoffnung auf Heimat geben. Und ohne Hoffnung und Sehnsucht ist menschliches Leben nicht vorstellbar. Es ist die Triebfeder unseres persönlichen und politischen Handelns. Denn gäbe es kein Ziel, für das es sich zu handeln lohnte – warum sollte man dann handeln?

Bleibt die Frage, welches Handeln uns in die Heimat führt – oder, etwas bescheidener, uns ihr zumindest näherbringt. Bundeskanzler Olaf Scholz hat, indem er von einer Zeitenwende sprach, offenbar ausdrücken wollen, dass mit Russlands Angriff auf die Ukraine eine neue Epoche begonnen habe. Man kann diese Bewertung mit Recht für übertrieben halten. Fragt man trotzdem, wie denn die neue Epoche aussehen mag, so fällt einem vor allem ein Gebaren ein, das den Krieg für ein mögliches Mittel politischen Handelns hält. Damit ist massive Aufrüstung verbunden sowie geopolitisches Säbelrasseln. An vielen Orten des Globus scheinen Staaten – und zwar nicht erst seit dem russischen Angriff auf die Ukraine – ermutigt zu sein, mit militärischen Mitteln ihren Machtbereich auszudehnen. Und diejenigen, die schon immer auf die Macht des Militärs setzten, sehen sich endlich bestätigt und sind mit neuem Mut aus ihren Löchern hervorgekrochen – um nicht zu sagen hervorgeschossen, was der unerwarteten Plötzlichkeit ihres Auftretens eher gerecht würde.


2. Die christliche Zeitenwende

In christlicher Sicht stellt sich eine Zeitenwende allerdings komplett anders dar. Die Christenheit hat die Geburt eines Kindes in einer zum Römischen Weltreich gehörenden Provinz als dermaßen epochales Ereignis verstanden, dass sie mit ihm eine neue Zeitrechnung begonnen hat. Das heißt nicht weniger, als dass nach christlicher Anschauung in diesem Ereignis sich die Wende schlechthin aller vorangehenden und nachfolgenden Zeiten vollzogen hat.

Wie ist das zu erklären? Nach christlicher Vorstellung ist mit Jesus der Erlöser, Retter, Sohn Gottes geboren. Die Titel besagen als solche nicht viel. Denn auch die römischen Kaiser jener Zeit schmückten sich mit diesen Titeln. Aber gerade dieser Umstand macht das Außergewöhnliche, ja Revolutionäre deutlich, das darin bestand, Jesus diese Titel beizulegen: Der Christenheit waren nicht mehr die mächtigsten Herrscher der damals bekannten Welt Retter, Erlöser und Söhne Gottes, sondern ein wehrloses Kind, das, noch im Mutterleib und sofort nach seiner Geburt, den Mächtigen und ihrem Machtstreben auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war.

Kaum geboren, ging es für das Kind schon um Leben und Tod. Nicht nur, dass die hochschwangere Mutter mit ihrem Ehemann gezwungen war, sich auf den beschwerlichen Weg nach Bethlehem zu machen, wie es der Kaiser Augustus befohlen hatte, der sich als Weltherrscher, Sohn Gottes und selber Gott, Retter und Heilsbringer verehren ließ. Schlimmer noch: Der König Herodes, Herrscher über die römische Provinz Judäa, ein rücksichtsloser Psychopath, der über Leichen ging und sogar drei seiner eigenen Söhne ermorden ließ, trachtete dem Kind nach dem Leben, als es noch gar nicht geboren war, und zwang die Familie nach der Geburt des Kindes zur Flucht nach Ägypten, weil er alle neugeborenen Knaben in der Gegend Bethlehems töten ließ (Mt 2,13-18). So jedenfalls berichten es die Evangelien.

Unabhängig davon, ob es sich alles genau so zugetragen hat oder nicht, ist die Botschaft dieser Erzählungen klar: Der Sohn Gottes, der Retter der Welt, ist von Beginn seines Lebens an in seiner Existenz bedroht, wird verfolgt und soll ausgeschaltet werden. Nicht anders ergeht es einige Jahre später dem Wanderprediger Jesus, der eine winzige Schar Anhänger um sich geschart hatte. Der nicht auf Waffen, sondern allein auf das Wort setzende Prediger wurde den religiösen Autoritäten zu mächtig, so dass sie ihn in Zusammenarbeit mit dem römischen Statthalter Pontius Pilatus ans Kreuz brachten, wo er einen nicht nur qualvollen, sondern auch schändlichen Tod starb. Denn nach jüdischem Glauben galt ein am Kreuz Gehänger als von Gott Verfluchter (5Mo/Dtn 21,23).

Wie auch immer es dazu gekommen ist, dass ein solcher Gehängter als Sohn Gottes und Retter der Welt bezeichnet wurde – damit war ein Gegenpol zu den epochemachenden Mächtigen seiner Zeit gesetzt, wie er schärfer nicht hätten sein können. Denn der Sohn Gottes und damit Gott selbst war an die Seite der Ohnmächtigen getreten, war einer von ihnen geworden, ein Wehrloser, ein Ausgegrenzter ohne Heimat, eine persona non grata, für die es keinen Raum in der Welt und nicht einmal in der Herberge gab. Gott hatte sich der Obdachlosigkeit, Armut, Vertreibung, Flucht und Verfolgung ausgesetzt und schließlich auch dem Tod eines von Menschen Verfluchten preisgegeben, das heißt der ewigen Gottesferne – wir würden vielleicht sagen: der Absurdität und dem Nichts.


3. Gott an der Seite der Leidenden

Seither ist nicht mehr zu leugnen, dass Gott an der Seite der Hungernden steht, deren beschämende Armut nicht nur, aber auch im Reichtum der anderen ihren Grund hat. Und er ist denen nah, die als Vertriebene und Flüchtlinge ihre Heimat verlassen, um überleben zu können, die aber an den Grenzen aufgehalten werden, für die es also keinen Raum in den Wohlstandsländern dieser Welt gibt. Und Gott kennt das Leid derer, die als Kanonenfutter von den Mächtigen, die in Palästen residieren, in die Schützengräben entsandt werden, um dort als säkulare Verfluchte für eine absurde Machtpolitik dem Nichts ausgeliefert zu werden.

Dieser Gott ist ein anderer als jene Götter, von denen die griechische Mythologie erzählt. Diese führen ihr göttliches Eigenleben auf dem der Welt entrückten Olymp und lassen sich nur kurzzeitig herab auf die Erde, ohne dabei etwas zu riskieren und vom menschlichen Elend wirklich berührt zu werden. Sie gleichen dabei eher manchen weltlichen Machthabern in ihren streng gesicherten und abgeschotteten Regierungssitzen, die das Leid der Bevölkerung nur vom Hörensagen kennen und sich deshalb auch nicht um Gerechtigkeit und Frieden sonderlich scheren müssen.

Der christliche Gott aber leidet mit den Leidenden. Und zwar deshalb, weil er seine leidgeplagten Geschöpfe liebt. Wer liebt, distanziert sich nicht von den Geliebten, sondern steht an ihrer Seite und teilt Freude und Leid mit ihnen. Wir wissen das, aber wir beziehen es nicht auf Gott. Jedenfalls solange nicht, wie wir Gott als ein Wesen verstehen, das nicht auf Erden lebt, sondern im Himmel fern von uns sein selbstgenügsames Dasein fristet. Diesen Gott geht die Erde mit ihrem Leid nichts an. Man kann sich Gott auf diese Weise fein vom Leibe halten. Er stört nicht, solange er schön in seinem Himmel bleibt. Aber der in Jesus Mensch gewordene Gott hat eine andere Natur.

Zu seiner Natur gehört nun nicht nur das Leiden. Denn ein Gott, der genauso leidet wie wir, dem es nicht besser geht als uns, kann kein Retter und Erlöser sein. Gerade das aber behauptet der christliche Glaube. Und an diesem Punkt wird es spannend. Denn die Behauptung ist nicht weniger als diese: Derselbe Gott, der in Leid und Not hineingeboren und ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist, rettet unwiderruflich aus Leid und Not.

Die biblische Geschichte erzählt es so: Das Kind wird trotz aller Bedrohungen in Bethlehem geboren. Es überlebt die Flucht nach Ägypten und wird ein beeindruckender, ja einmaliger Mensch. Dieser verkündet, die ewige Herrschaft Gottes sei bereits angebrochen und jeder Mensch könne daran teilhaben, wenn er davon Abstand nehme, sich anderen Herrschaften zu verschreiben. Jesus selbst geht diesen Weg voran und lädt ein, ihm nachzufolgen. Der Weg zum großen Ziel, zum Leben an der Seite Gottes, steht damit allen Menschen offen. Auch der Tod kann den Weg zu diesem Ziel nicht abbrechen. Im Gegenteil: Gerade der Gekreuzigte wird zu neuem Leben erweckt. Gerade durch Leid und Tod hindurch öffnet sich die Tür zum Leben. Der Tod ist nicht einfach die Apokalypse, sondern ist getragen von eschatologischer Hoffnung: Ermutigung, die "letzten Dinge", das himmlische Ziel, den Sehnsuchtsort der ewigen Heimat nicht aus den Augen zu verlieren, sondern mit ihm vor Augen mutig dem Erlöser zu folgen.

Das ist keine Vertröstung auf ein fernes Jenseits, wobei das Leben hier und jetzt der Gleichgültigkeit preisgegeben wird. Im Gegenteil: Es ist der Beginn eines neuen Lebens schon jetzt, es ist (wenn man so will) die Heiligung des Diesseits. Es ist eine Weltenwende, die ihresgleichen sucht, die Wende aller Zeitenwenden, die neue Epoche, der gegenüber alle anderen verblassen.


4. Die Taten der Gerechtigkeit und des Friedens

Aber kann dieses Ereignis vor zweitausend Jahren wirklich halten, was es verspricht? Die Geschichte der Kirche und der Zustand der Welt scheinen eine andere Sprache zu sprechen. Denn die Christenheit hat sich oft genug der Logik der Macht verschrieben und tut es teilweise noch immer. Sie hat Kriege gerechtfertigt und Kreuzzüge durchgeführt, hat brutal gemordet, hat sich nicht auf die Seite der Schwachen und Ohnmächtigen gestellt, sondern im Gegenteil Menschen allererst zu solchen gemacht. Und noch immer besteht die Tagesordnung der Welt darin, Arme arm zu halten, Flüchtlinge ihrem Schicksal zu überlassen und Machtansprüche militärisch durchzusetzen. Was für ein unrealistischer Anspruch, mag man sagen, Jesus von Nazareth sei der Erlöser und Retter der Welt – und man stellt sich mit Rabbi Menachem ans Fenster, blickt in die Welt hinaus und stellt nüchtern fest: "Da ist keine Erneuerung." [3]

Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Erneuerung der Welt, dass Gerechtigkeit und Friede faktisch bestritten werden. Ebenso wenig aber lässt sich leugnen, dass die Botschaft und das Leben des Jesus von Nazareth ein großes Fragezeichen hinter Reichtum, Wohlstand und Macht setzen, solange nicht alle davon profitieren. Und es lässt sich auch nicht leugnen, dass die Menschenrechte ohne diesen Jesus von Nazareth kaum so formuliert worden wären, wie sie formuliert worden sind. Der christliche Glaube ist, recht verstanden und all seiner praktischen Unvollkommenheit zum Trotz, die massive Bestreitung der Bestreitung von Gerechtigkeit und Frieden.

Wer Augen hat zu sehen, kann auch erkennen, was zu bestreiten ist: dass Gerechtigkeit zu erreichen sei durch Voranstellung eigener Wohlstandsinteressen und wirtschaftliche Vormachtstellung. Was dadurch erreicht wird, ist immer nur so etwas wie ein materieller Wohlstand für sich selbst auf Kosten der anderen, also gerade keine Gerechtigkeit. Die gibt es nur, wenn man bereit ist, die vorhandenen Güter selbstlos zu teilen, "auf dass Gleichheit entstehe" (2Kor 8,14).

Und wer Augen hat zu sehen, dem kann nicht verborgen bleiben, dass Friede nicht erreicht oder "gesichert" wird durch geopolitisches Machtdenken, Streben nach Vergrößerung von Einflussbereichen sowie Misstrauen und Gewalt gegenüber anderen Staaten, so dass der Krieg zum Mittel der Politik wird. Das führt bestenfalls zu einem äußerst zerbrechlichen und bedrohlichen Schweigen der Waffen im eigenen Land, das auch schon mal durch einen Krieg in einem anderen Land erkauft werden muss. Es führt also gerade nicht zum Frieden. Um den kann man nur werben durch vertrauensbildende Maßnahmen, durch Zurückstellung eigener Interessen, durch Kompromissbereitschaft im Konfliktfall und die Bereitschaft, Leid für sich selber in Kauf zu nehmen, anstatt es über andere auszuschütten.

Dabei geht es nicht um illusionäre Visionen, angesichts derer man lieber zum Arzt gehen sollte, wie ein intelligenter Mensch und ehemaliger Bundeskanzler vor vielen Jahren einmal meinte feststellen zu müssen. Und es sei durchaus zugestanden, dass es in der unerlösten Welt wohl nicht möglich sein wird, alle "Schwerter zu Pflugscharen" umzuschmieden, weil der Friede nicht nur vom eigenen Handeln abhängt. Erstrebenswert ist aber, dem Frieden mit jedermann ehrlich "nachzujagen" (Hebr 12,14) und auf diese Weise dem Aufruf des Apostels Paulus gerecht zu werden: "Ist es möglich, soviel an euch liegt, haltet mit allen Menschen Frieden!" (Röm 12,18) Ob wir wirklich alles tun, was möglich ist und was an uns liegt, um mit allen Menschen Frieden zu halten – um dies zu beurteilen ist allerdings eine gehörige Portion ehrliche Selbstwahrnehmung und Selbstkritik nötig, die man von uns selbstgerechten Menschen, die über Krieg und Frieden im Großen und im Kleinen entscheiden, leider nur selten wird erwarten können.


5. Das Wachsen der Taten aus dem Glauben

Es bleibt deshalb die dringliche Einladung, dem Retter Jesus von Nazareth zu folgen und nicht von eigenen Zielen, sondern vom Ziel Gottes für die Welt her zu leben. Und zu diesem Ziel gehört auch: "Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden" (Jes 2,4; Mi 4,3). Das ist, wie gesagt, noch keine Realität, aber das Ziel, das die Realität zu prägen vermag. Es bleibt also die Hoffnung, dass uns der Retter diesem Ziel allem gegenteiligen Anschein zum Trotz entgegenführen wird. Und es bleibt die Alternative, nicht auf eigene Macht zu setzen, sondern das eigene Leben diesem Retter anzuvertrauen und daraus Kraft zur verantwortlichen Tat zu schöpfen. Es bleibt schließlich die Gewissheit, dass der Tod nicht das letzte Wort spricht, sondern der Gott, dessen Liebe der Tod des Todes ist und dessen letztes Wort deshalb "Leben" lautet.

Aus diesem Glauben wachsen, wenn wir Ernst mit ihm machen, Taten der Gerechtigkeit und des Friedens. Sie werden nicht in einem zusätzlichen Akt vom Menschen angestrebt und produziert, sondern sie wachsen aus dem Glauben heraus – automáte, wie es im griechischen Text eines Gleichnisses Jesu heißt: automatisch, ganz von selbst. So breitet sich die Herrschaft Gottes aus, wie der ausgesäte Same ganz von selbst die Frucht wachsen lässt, wenn denn der Glaube echt ist (Mk 4,26-29). Auch das ist eine schwere Kränkung des homo faber, aber auch das eine befreiende.

Denn damit die Taten der Gerechtigkeit und des Friedens gelingen, muss der Mensch frei werden von sich selbst: von seinem Bestreben, sich sein Leben zu sichern, sich machtvoll durchzusetzen, was fast immer auf Kosten der Mitgeschöpfe geschieht, und von seiner Gewalttätigkeit gegenüber Mensch und Tier. Diese Befreiungen aber widerfahren dem Menschen dann, wenn er sich dem Vertrauen zu Gott hingibt. Wer sein Leben bei Gott aufgehoben weiß, auch wenn er es verliert, ist frei davon, es mit Gewalt verteidigen zu müssen. Wer sich von guten Mächten wunderbar geborgen weiß, ist befreit dazu, seinen Reichtum mit den Armen und Flüchtenden zu teilen. Denn nicht menschliche Weisheit und Logik, sondern eine aus dem Glauben resultierende Gelassenheit dem eigenen Leben und Tod gegenüber führen zu einer Lebens- und Zeitenwende.

Das bedeutet nicht, dass alle, die nicht im Vertrauen zu Gott leben, niemals Taten der Gerechtigkeit und des Friedens vollbringen können – so wenig wie es bedeutet, dass alle, die diesen Glauben praktizieren, diese Taten zwangsläufig vollbringen. Es bedeutet nur, dass der Herr der Welt beiden eine das Leben verwandelnde Freiheit schenken und in beiden seine Herrschaft wachsen lassen kann – wo und wann er es will (Joh 3,8).

Noch ein Missverständnis muss ausgeräumt werden. Es ist schon angeklungen, dass die Befreiung, von der hier die Rede ist, nicht etwa ein lustvolles Fest der Freude ist. Wer Liebe übt, muss bereit sein, Leid auf sich zu nehmen. Das heißt im Extremfall: Er muss bereit sein zu sterben, um anderen das Leben zu retten. Jesu Wort von der Feindesliebe (Mt 5,43-48) ist keine lässliche Randbemerkung; es ist der Ernstfall aller Liebe. Billiger ist der Friede nicht zu haben. Auch Jesus hat ihn ja teuer erkauft; wie sollte es bei uns anders sein? (1Kor 6,20; 7,23) So gibt es die Freude zuletzt nur im Leid: "In dir ist Freude in allem Leide". [4]


6. Heimat ist gegenwärtige Zukunft

Auf diese Weise kann sogar aus Leid Heimat erstehen. Wenn Heimat der Ort ist, wo ich verstanden werde und verstehe, dann vollzieht sich in ihr nicht die Verfolgung individueller Interessen, sondern gegenseitiges Verstehen und Anteilgeben, also gerade das Zurücktreten individueller Interessen. Heimisch bin ich dort, wo ich kein selbstbezogenes Ich bin, mich also nicht auf mein isoliertes Ich konzentriere, sondern mich als Ich finde in einem Wir. In der Heimat wird mir gegeben, und darum kann ich zurückgeben, ohne nur ichbezogen zu agieren. So wird Heimat zu einem Ort materiellen Wohlstands und leiblicher Unversehrtheit nicht nur einiger weniger, sondern aller. Heimat ist der uns verwandelnde Ort: Das isolierte Ich wird zu einem wirbezogenen Ich.

Christinnen und Christen finden Heimat bei Gott und bieten gerade deshalb anderen Heimat, wann immer der Glaube in ihnen aufgeht und Taten wachsen lässt. Denn ihre Taten leben von der Hoffnung, dass das Leiden in und an dieser Welt nicht das Letzte ist. So rief der Prophet Jesaja den zwangsweise Umgesiedelten aus Israel zu, die seit Generationen fern der Heimat leben mussten (Jer 31,15-17):

Man hört Klagegeschrei und bitteres Weinen in [der Stadt] Rama: Rahel weint über ihre Kinder und will sich nicht trösten lassen; denn es ist aus mit ihnen. Aber so spricht der Herr: Lass dein Schreien und Weinen und die Tränen deiner Augen; denn [...] sie sollen heimkehren aus dem Lande des Feindes. Es gibt noch eine Hoffnung für deine Zukunft, spricht der Herr, denn deine Kinder sollen zurückkehren in ihre Heimat.

Der Evangelist Matthäus greift das Klagen und Weinen Rahels sechs Jahrhunderte später auf und bringt es in Zusammenhang mit der Geburt des Erlösers und dem Kindermord des Herodes (Mt 2,18). Die Gewalt der Mächtigen, die nur ihr eigenes Wohl kennen und rücksichtslos morden, hat auch nach der Geburt des Erlösers noch kein Ende, und ihre Opfer zergehen noch immer in Klagen und Weinen.

Aber etwas Entscheidendes hat sich verändert und eine Zeitenwende eingeläutet: Gott ist in der Gestalt des Menschen Jesus sichtbar, leiblich an die Seite der Opfer getreten, hat ihr Geschick geteilt und sich ihrer angenommen. Das ist keine nette Episode der Vergangenheit, sondern Gegenwart und letzte Zukunft zugleich. Glaubende können nicht anders, als diese Zukunft, wo immer es geht, vorwegzunehmen und so ansatzweise zur Gegenwart zu machen. Wo das gelingt, sind Heimatlosigkeit und Trauer schon jetzt am Ende. Und wo es nicht gelingt, können wir getrost ihrem endgültigen Ende entgegengehen.


* * * * *


Quellennachweise:
[1] Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Dritter Band. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main. 8.Aufl. 1982. S. 1628.
[2] Hartmut Rosa: Unverfügbarkeit. Suhrkamp Taschenbuch Verlag. 3. Aufl. 2021. S. 52f.
[3] Martin Buber: Die Erzählungen der Chassidim. Manesse Verlag Zürich. 10. Aufl. 1987. S. 298.
[4] Evangelisches Gesangbuch Nr. 398,1.

Foto: Jeff Jacobs auf Pixabay.




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