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Von der Heimatlosigkeit

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Veröffentlicht von in Personen · 24 August 2021
Tags: KriegSündeTat_und_FolgeGerichtLeidEthikUmkehr

Von der Heimatlosigkeit
Über Ida Friederike Görres
Klaus Straßburg | 24/08/2021

Auf einem antiquarischen Wühltisch fand ich vor einigen Monaten sechs dünne Heftchen, im Format kleiner als DIN-A 6, gedruckt auf leicht braunem und verwittertem Papier und jeweils mit einer Klammer geheftet oder sogar nur mit ineinandergelegten Blättern. Alle Heftchen stammen aus dem Jahr 1945. Die Texte wurden also unter dem unmittelbaren Eindruck des Krieges geschrieben und vom katholischen Herder-Verlag herausgegeben.

Beim Lesen theologischer Texte, die in den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und seiner grauenhaften Folgen entstanden sind, habe ich schon mehrfach den Eindruck gewonnen, dass diese Texte – jedenfalls nach meinem Empfinden – viele neuere theologische Texte an Tiefgang und Glaubensstärke bei weitem übertreffen. Ich schließe daraus, dass gerade die Erfahrungen schweren Leids Menschen zu einem vertieftem Glauben und Nachdenken führen können.

Eins der Heftchen, die ich auf dem Wühltisch fand und für 40 Cent das Stück kaufte, enthält einen Text der katholischen Schriftstellerin Ida Friederike Görres, die ich bis dahin gar nicht kannte. Aber der Titel ihrer Schrift „Von der Heimatlosigkeit" hatte mein Interesse geweckt (Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 1945).

Ida Friederike Görres (1901-1971) war Wikipedia zufolge keine Theologin. Sie studierte Geschichte und Kirchengeschichte und arbeitete beim Katholischen Bildungswerk sowie als freie Schriftstellerin. Dass sie Schriftstellerin war, zeigt sich deutlich an ihrer Art zu schreiben.

Die folgenden Textauszüge und Interpretationen decken – im Angesicht des Zweiten Weltkriegs – schonungslos die menschliche Gottlosigkeit und Schuldverfallenheit auf. Dies zu akzeptieren ist nur möglich, wenn man von Gottes Vergebung aller Schuld ausgeht. Vor aller Einsicht in die menschlichen Schuld steht der gnädige und vergebende Gott, der nur darauf wartet, dass wir seine Gnade annehmen. Diese Gnade ist die Klammer vor den folgenden Ausführungen. Die folgenden Ausführungen stehen in der Klammer und erhalten ihr Vorzeichen durch das, was vor der Klammer steht: Gottes unendlich große Gnade.


1. Gottes Botschaft an uns in höchster Not

Ida Friederike Görres beginnt ihre kleine Schrift mit der Feststellung, dass die Gräuel des Krieges uns die Frage nach dem Sinn dieses Geschehens aufzwingen. Es ist wohl im Menschen angelegt, nach dem Sinn von Ereignissen zu fragen – gerade auch von Ereignissen großer Not und Zerstörung, wie es ohne Zweifel der Krieg war. Für Görres ist das Erlebte nicht nur ein allgemeiner „Weckruf zu Besinnung und Umkehr" (so wie man es heute beispielsweise über die spürbaren Folgen des Klimawandels hört), sondern

eine besondere Botschaft Gottes, welche [...] die Wurzel des Geschehenden bloßlegt und somit auch den Weg zu seiner Überwindung andeutet. (S. 3)

Es gehört schon einiger Mut dazu, das durch den Krieg verursachte unsägliche Leiden, die Millionen Geschundenen und Gestorbenen, als Botschaft Gottes zu verstehen. Ich weiß nicht, ob es heute noch möglich wäre, so zu reden. Vielleicht aber gehört gerade ein so grauenvolles Geschehen wie der Krieg dazu, die Frage nach Gott und seiner Botschaft wieder aufleben zu lassen. Die Alternative wäre ja wohl, ein solches Geschehen menschlichen Deutungen zu überlassen, die einander sicher widersprechen würden. Man würde keinen allgemein anerkannten Sinn finden. Damit aber würde man das Ereignis der Sinnlosigkeit preisgeben.

Görres zufolge fragt sich gerade ein „Leidender und Geprüfter" (S. 3) angesichts der menschlichen Zerstörungswut,

ob das nicht [...] äußerlich hervortretende Zeichen eines Übels sind, welches im innersten Kern und Gewebe menschlichen Daseins haust. Dieses Innerste aber ist das Gottesverhältnis. [...] In Ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir, nach Seinem Bild und Gleichnis sind wir erschaffen und mit unsrer ganzen Natur auf den Einklang mit Ihm ausgerichtet. [...] Was Wunder also, daß es furchtbare und deutliche Rückschläge auf das menschliche Dasein geben muß, wenn dieser ursprünglichste Bezug vernachlässigt, verletzt, versehrt wird? (S. 4)

Wenn es stimmt, dass wir auf den Einklang mit Gott ausgerichtet sind, dann muss das Verlassen dieses Einklangs dazu führen, dass nicht nur die Gottesbeziehung leidet, sondern dass auch die zwischenmenschlichen Beziehungen leiden. Wenn wir nach dem Bild Gottes geschaffen sind, dann führt das Verlassen dieses Bildes zwangsläufig dazu, dass das Bild des Menschen zu einer unmenschlichen Fratze wird. Das gilt heute nicht weniger als vor 76 Jahren.

Das ist das Wahrheitsmoment der Rede vom Gericht Gottes. Gottes Gericht ist keine blindwütige Strafe um des Strafens willen, so wie es manchmal verkündet wird. Gott straft nicht, um zu zerstören, sondern er redet zu uns auch durch geschichtliche Ereignisse, um etwas Neues entstehen zu lassen: neue Gedanken, neuen Glauben, neue Handlungsweisen. Gottes Gericht ist der Ruf zur Umkehr, der Ruf, zum Einklang mit Gott zurückzukehren.

Gott freut sich nicht, wenn wir leiden müssen. Er will zum Beispiel keinen Krieg. Aber er kann uns durch das Leid, das ein Krieg mit sich bringt, zur Umkehr rufen. Dass wir leiden, ist also nicht Gottes Wunsch und Absicht. Es liegt aber in der Natur der Sache: Unser eigenes Handeln schlägt auf uns zurück und stürzt uns ins Leid (Ps 7,16f; Spr 26,27). Leider ist das manchmal die einzige Sprache, die wir verstehen.

Ich behaupte keinesfalls, dass jede Not Gericht Gottes ist. Aber es gibt Nöte, die uns deutlich zur Umkehr aufrufen – so deutlich, dass sogar ganz unreligiöse Menschen von einem „Weckruf" sprechen.

Wir müssen uns jedenfalls nicht wundern über Kriege und Hungersnöte, über Hass und Lüge, über eine brennende und von Fluten überschwemmte Welt. Es ist die Folge der Abkehr von unserer Wurzel, von der Quelle des Lebens. Doch ist diese Einsicht verloren gegangen. Anstatt sich zur Umkehr rufen zu lassen, wertet der von Gott entfremdete Mensch seine Nöte als Beleg dafür, dass es einen liebevollen Gott nicht geben könne. Das ist die Verkehrung der Wahrheit in ihr Gegenteil: Die Menschen machen Gott für die Not verantwortlich, die ihren Grund in ihnen selbst hat. Die eigene Schuld wird auf Gott abgewälzt und in der Folge davon wird bestritten, dass er überhaupt existiert. Görres zitiert, was im Johannesevangelium geschrieben steht:

„Das Licht leuchtete in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht begriffen. Er kam in Sein Eigentum, und die Seinen nahmen Ihn nicht auf." (S. 5)

Doch es gibt auch eine Gegenbewegung: Gerade in höchster Not kann es geschehen, dass der Mensch seine Schuld erkennt und vor Gott bekennt.

Aber was genau ist passiert? Wie kann es zu den Auswüchsen von Hass, Gewalt und Gleichgültigkeit kommen?


2. Gottes Heimatlosigkeit auf Erden

Görres beschreibt, wie schon in den Weihnachtsgeschichten der Evangelien die Heimatlosigkeit Jesu Christi deutlich wird:

Die vergebliche Obdachsuche der Eltern vor verschlossenen Türen, die Geburt in der Höhle bei den Tieren, „denn in der Herberge war kein Platz für Ihn", die Verfolgung des unschuldigen Kindes, die langen Jahre in der Fremde [...] Die Geschichte Jesu ist die Geschichte der Heimatlosigkeit Gottes auf Erden. (S. 6)

Was damals Wirklichkeit war, geschieht auch heute:

Seit einigen Menschenaltern erleben wir [...] die Vertreibung Gottes aus dem Reich der Menschen. Wir können es nicht leugnen: Gott ist wieder ein Fremdling geworden unter uns. [...] Er wohnt noch bei uns, ja, aber wie sehr als Fremdling! Nicht einmal mehr als Gast, sondern wie ein aufgedrängter, ein lästiger, ein geduldeter, ein unerwünschter Fremdling; einer, von dem man nur erwartet, daß er sich bescheidet, ja keine Ansprüche macht, daß er so wenig auffällt wir nur möglich. Ist es nicht so, daß nirgend Raum ist für Gott und Sein Wort, Seine Wahrheit? Welche eifersüchtige, wachsame, ängstliche und mißtrauische Sorge erfüllt die Welt, daß Gott nur ja nicht zu viel Platz einnehme – [...] daß die Beschäftigung mit Ihm nichts, aber auch ja nichts beeinträchtige von dem, was den Menschen tausendmal wichtiger ist als Er selbst! (S. 8f)

Man ist geneigt, das als übertrieben anzusehen oder zumindest sich selbst von dieser Darstellung auszunehmen. „Nein, in unseren Kirchen und Gemeinden ist Gott doch kein Fremdling!" möchte man einwenden. Doch urteilen wir nicht zu schnell. Möchten wir wirklich, dass er uns hereinredet in das Leben, in dem wir es uns bequem eingerichtet haben? Nehmen wir es ernst, was Jesus in der Bergpredigt auch uns ins Stammbuch schrieb? Sind wir bereit, unseren Lebensstil radikal zu verändern?

Ich möchte nur dazu anregen, sich selbst zu fragen. Es könnte ja sein, dass Jesus uns ein guter Freund ist, solange er unsere Ansichten und Lebensgewohnheiten teilt. Es wäre möglich, dass wir ihn gern an unserer Seite haben, solange er uns für die Guten hält, für die wir uns selber halten. Es ist nicht ausgeschlossen, dass wir uns unseren Lebensplan zurechtgelegt haben und davon ausgehen, dass er seinen Segen dazu gibt, ohne danach zu fragen, ob unser Lebensplan seinen Segen eigentlich verdient hat. Ja, zum Glauben gehört es auch, ernsthafte Fragen an sich selbst zu stellen.

Aber das, so möchten wir einwenden, ist doch wirklich übertrieben, dass „nirgend Raum ist für Gott und Sein Wort". Es klingt tatsächlich hart: nirgends Raum für ihn? Wirklich nirgends? Sollen wir uns in dieser Weise selbst fertigmachen? Doch Görres will uns gewiss nicht fertigmachen. Sie will uns aus unserer Selbstgewissheit herausreißen, damit wir uns fragen, wie ernst wir Gottes Wort wirklich nehmen; ob es nicht unser eigenes Wort ist, das wir da hören und für Gottes Wort ausgeben; ob wir nicht sein Wort, sobald wir es hören, so umdeuten, dass es in unsere Lebensplanung passt. Spielen wir, die Ohren verstopft, Stille Post mit Gottes Wort? Das zu fragen muss erlaubt sein.

Die Antwort von Görres, unter dem Eindruck des Krieges gegeben, hört sich so an:

Ja, Gott ist wahrlich ein Fremdling unter uns geworden [...], der von unsrem guten Willen, ja unsrer guten Laune abhängt, [...] immer unter der einen Verpflichtung, Abstand zu halten: den Alteingesessenen nicht unbequem zu werden, denen, die das Recht haben, da zu sein. (S. 10)

Ob das zutrifft oder nicht, kann nur jeder Mensch für sich selbst beantworten. Jedenfalls aber kann man auch die Christinnen und Christen als die „Alteingesessenen" verstehen, als die immer schon im Reich Gottes Wohnenden, „die das Recht haben, da zu sein." Wenn auch Görres hier wohl auf die Vertriebenen anspielt, die in Deutschland eine neue Heimat suchten und nicht überall willkommen waren, können wir das auch auf unser vermeintliches Recht beziehen, einen Platz im Reich Gottes zu haben. Als ob es dazu ein Recht gäbe! Als ob wir die „drinnen" sind und die anderen natürlich die „draußen"! Als ob wir, die wir uns Christen nennen, wirklich – und das heißt radikal – besser wären als die anderen!

Gottes Heimatlosigkeit auf Erden ist nach der Analyse von Görres der erste Grund dafür, dass auf Erden so Vieles im Argen liegt.Der zweite Grund besteht darin, dass wir das, was Gott uns geben will, verachten.


3. Das Verschmähen der himmlischen Heimat

Die Wohnungen im Hause des Vaters sind nicht nur vergessen worden, sondern verschmäht: für überflüssig erklärt, mehr noch als für unwirklich: wir wollten sie nicht, selbst wenn es sie gäbe, wir brauchten sie nicht, wir machten uns die Erde schön und reich genug, um lachend auf den Himmel verzichten zu können, mit einem Nein, das nicht Verzicht war, sondern Hohn. [...] Die irdische Heimat wurde zum Gegenbild der ewigen, zur Burg der Verneinung, in die man sich gegen den Anspruch des Ewigen verschanzte; [...] mit Bedacht wurden die irdischen Wurzeln: Volk, Scholle, Vaterland, unter die Götzen erhoben. (S. 12f)

Zuerst also haben wir Gott zum Heimatlosen erklärt in seiner Schöpfung: „Er kam in das Seine, und die Seinen nahmen ihn nicht auf" (Joh 1,11). Sodann haben wir den Ort, an den er uns geleiten will, die himmlische Heimat, für entbehrlich erklärt und uns stattdessen in der Welt, in der irdischen Heimat, eingerichtet – so gut eingerichtet, dass wir meinten, nichts anderes zu brauchen.

Nun werden viele Christenmenschen behaupten, dass ihnen das ewige Leben, die „Wohnungen im Hause des Vaters", entscheidend wichtig sind. Ja, wir bekennen uns dazu: „Ich glaube an das ewige Leben." Doch fragen wir uns ruhig einmal: Ist uns das irdische Leben wirklich zweitrangig gegenüber dem himmlischen? Und: Bildet unser irdisches Leben schon jetzt den Weg zum großen Ziel ab? Leben wir so, dass unser irdisches Leben ein überzeugendes Gleichnis des himmlischen Lebens ist?

Es ist nicht selten, dass ein Widerspruch besteht zwischen dem, was wir mit Worten bekennen, und dem, was wir mit Taten bezeugen. Wir erleben gegenwärtig in Deutschland, dass Christinnen und Christen die Größen Volk, Vaterland und Heimat für entscheidend wichtig in ihrem Glauben halten. Sie fordern von den Kirchen, diese Größen stärker zu betonen. Sie meinen, damit ihre Heimat gegen fremde Einflüsse zu verteidigen. Die irdische Heimat tritt in den Mittelpunkt.

Und letztlich haben wir alle unserem Volk, unserer Heimat den Vorzug gegeben gegenüber anderen Völkern und Heimatländern. Der größte Teil des Kuchens sollte uns gehören; die anderen sollten sich mit den Brotkrumen begnügen. Wir haben Jahrzehnte über unsere Verhältnisse gelebt und es zugelassen, dass andere Völker in lebensunwürdigen Verhältnissen lebten. Dann haben wir uns gewundert darüber, dass sie zu uns strömten und ihren Teil am großen Kuchen einforderten – und haben die Grenzen geschlossen.

Und schließlich: Wir haben unsere irdische Heimat so sehr malträtiert, dass sie nun in Flammen steht. Es ist eine andere Art von Krieg.

Nun sehen wir in ungeheuren flammenden Bildern, wie das Nein, das der Mensch in unbegreiflichem Hochmut und Trotz gegen die ewige, die himmlische Heimat, die ihm bereitstand, gegen die Wohnung im Hause des Vaters geschleudert hat, ihm selbst die irdische Heimat geraubt und zerstört hat. Das Unsichtbare kommt zuerst, aus ihm ersteht die Sichtbarkeit. (S. 15)

Der letzte Satz ist theologisch bedeutsam: Nicht das Sichtbare, nicht unser Handeln, nicht die Ethik ist das erste, das Fundament eines guten Lebens. Sondern ein gutes Leben, das Glück des Seins gründet im Unsichtbaren, in der Beziehung, die wir zu Gott und Jesus Christus haben. Heute wird es oft – auch von Glaubenden – vertauscht. Sie sagen: „Wenn wir ethisch verantwortlich handeln, ist alles gut." Aber es ist nicht gut. Wir können gar nicht ethisch angemessen handeln, ohne dass Gott uns dazu ausrüstet. Das Unsichtbare, die Gottesbeziehung – also Gottes Beziehung zu uns – steht am Anfang, und das Sichtbare folgt daraus.

Der dritte Gedanke von Görres knüpft daran an: Die Liebe zwischen Gott und Mensch ist das Unsichtbare; die Liebe der Menschen untereinander ist das Sichtbare.


4. Das Ersetzen der Liebe Gottes

Die erste, die Urgemeinschaft ist die von Gott und Mensch. [...] So ist auch alle Zusammengehörigkeit und Verbundenheit von Menschen untereinander zuerst und zuletzt Abbild, Gleichnis und Zeichen des Ur-Bundes der Liebe Gottes zum Menschen; [...] alle Liebe, alle Freundschaft ist Zeugnis und Spiegel der ewigen Liebe [...] Auch diese Wirklichkeit haben wir vergessen, geleugnet, zurückgestoßen, ja verachtet. (S. 15f)

Damit äußert Görres einen Gedanken, der weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Sie spielt auf die biblischen Stellen an, an denen die Ehe als Gleichnis für das Verhältnis der Menschen zu Gott gebraucht wird (z.B. Hos 2,4.21f; 2Kor 11,2; Eph 5,22-33). Und tatsächlich: Wenn wir nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten Gott bezeugen sollen, dann muss sich doch in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen etwas spiegeln von der Beziehung zwischen Gott und den Menschen. So kann man alle zwischenmenschliche Liebe, besonders in Ehe und Freundschaft, als Abbild, Gleichnis und Spiegel der ewigen Liebe verstehen.

Doch nach Görres' Analyse hat sich auch hier eine verhängnisvolle Entwicklung vollzogen:

Wir haben eine Liebe zueinander erfunden, eine Liebe zur Menschheit, zum Menschen, zu den Volks- oder Klassengenossen, welche bewußt Ersatz und Verdrängung christlicher Liebe zu Gott und den Brüdern sein sollte, bewußt und ausdrücklich solche Liebe überflüssig machen, gleichsam aufsaugen wollte, gegen sie zeugen, ohne sie sättigen. Liebe als Protest gegen Liebe, welch ein Irrweg! Liebe zu Menschen, die einem tiefen, verborgenen Haß gegen Gott entsprang! Liebe zueinander, die Raub an Gott war, statt aus Ihm zu entspringen und in Ihm zu münden, Liebe, die mit Absicht die Erbarmung Gottes durch menschliche „Erlösung" ablösen, übertrumpfen, beschämen, ja Lügen strafen wollte [...] Alle Liebe [...] sollte ausdrücklich von Gott abgezogen und auf den Menschen gelenkt werden, ohne Seinen Segen, außer Seiner Ordnung blühen und Frucht tragen, Ihm zum Trotz und Gegenzeugnis. Diese Liebe, in der die Vertreibung Gottes aus der Welt ihren letzten und höchsten Triumph feiert, sollte die Welt zum Glücksreich umschaffen, die Menschheit einen [...] Wie weit es ihr gelungen ist, erleben wir heute. (S. 16f)

Görres hat die nationalsozialistische Ideologie mit ihrer Verherrlichung der Volksgemeinschaft im Blick. Aber Liebe steht auch heute hoch im Kurs. Es ist jedoch nicht die Liebe, die in der Liebe Gottes zu uns ihren Grund hat und ihren Segen findet, sondern die von der Gottesbeziehung abgelöste Liebe. Wo aber der Mensch meint, ohne Gottes Liebe lieben zu können, ist Gottes Liebe für ihn entbehrlich geworden. Wo wir von uns aus lieben können, brauchen wir keine Befreiung mehr von unserer Unfähigkeit zu lieben. Erlösung von unserer Sündenverstrickung ist dann überflüssig. Wir benötigen keine Neugeburt mehr und kein Reich Gottes, wenn wir selber „die Welt zum Glücksreich umschaffen" können. Doch wie weit haben wir es mit unserer Liebe gebracht?

Da der Quell der Liebe versiegte, wuchsen die Mächte des Hasses, der Feindschaft und der Zerstörung ins Übergroße. Hemmungslos ist alles geworden, was Menschen trennt und im Bösen aufeinanderhetzt. (S. 18)

Wir erleben in Westeuropa gegenwärtig weder Krieg noch Naziherrschaft. Aber überall dort, wo Menschen ungestraft Macht ausüben können, zeigen sich auch heute die hemmungslosen „Mächte des Hasses, der Feindschaft und der Zerstörung": nicht nur in diktatorischen Regimen und im hemmungslosen Lügen (Fake-News), sondern zum Beispiel auch in der Welt der sozialen Medien mit ihrer Fülle an anonymen Hass-Kommentaren und Shit-Storms.

Wo wir uns von Gottes Liebe lösen und sie zu ersetzen versuchen durch unsere eigene Liebe, dort sind – wo Gott selbst dem nicht Einhalt gebietet – dem Hass und der Zerstörung Tür und Tor geöffnet.

Man könnte das Wirken dieser zerstörerischen Mächte mit der Frage verbinden, warum Gott sie gewähren lässt. Görres hätte sicher genug Gründe gehabt, aus den Grauen von Naziherrschaft und Krieg den Schluss zu ziehen, dass ein liebevoller Gott nicht existiert. Sie bewertet das Grauenhafte jedoch überraschend anders.


5. Gott im Leid bezeugen und ehren

Das Meer von Leid [...] ist gerecht, es ist notwendig, denn so ist die Schöpfung eben mit Gott verbunden, so ist die Wirklichkeit. [...] Unsere Heimatlosigkeit und das Leid unsrer Abschiede und Trennungen bezeugt und ehrt die Gerechtigkeit wie die Majestät Gottes, und darum sollen wir in unser Los einwilligen, wie wir in jedem andern Fremden, Getroffenen die Heimatlosigkeit Gottes erkennen und ehren und, soweit wir können, ihr dienen sollen. (S. 18f)

Was ist damit gesagt? Görres spricht nicht vom Krieg und millionenfachen Mord. Sie spricht aber von dem millionenfachen Leid, das damit über die Welt gekommen ist. Und sie sagt, dass dieses Leid die Gerechtigkeit und Majestät Gottes bezeuge und ehre. Wie das?

Das durch uns selbst verursachte Leid bezeugt, dass wir uns vor Gott verantworten müssen, dass er sich nicht spotten lässt (Gal 6,7) und unser Handeln Folgen hat. Insofern müssen wir ihn ehren, so oder so: entweder mit unserer Freude oder mit unserem Leid. Wir kommen an Gott nicht vorbei und werden ihn nicht los, auch dann nicht, wenn wir ihm keine Heimat in der Welt gewähren. Ob wir wollen oder nicht: Wir bezeugen und ehren seine Gerechtigkeit, seine Herrschaft über die Welt entweder mit unserem Wohlergehen oder mit unserem Leiden. Beides hat seinen Grund darin, dass die Schöpfung, dass unsere Wirklichkeit sich nicht von Gott trennen lässt und jede Tat auf uns selbst zurückfällt.

Trotz vieler Jahre theologischen Studiums war mir dieser Gedanke neu. Er scheint heute kaum denkbar zu sein. In unserem relativen Wohlstand sind wir geneigt, jedes Leid als Anfrage an Gottes Liebe zu verstehen. In der Zeit von Krieg, Zerstörung und Tod war es offensichtlich möglich, das Leid als Zeugnis für Gottes Gerechtigkeit zu deuten, die in seiner göttlichen Majestät wurzelt. Diese Majestät können wir nicht umgehen, so sehr wir uns auch darum bemühen.

Gerade in diesem Zeugnis sieht Görres die Wurzel der Erneuerung.


6. Wieder Heimat finden und Heimat bauen

Da wir die Wurzeln und Grundübel erkennen, sollte in dieser Einsicht nicht auch ein Weg zur Heilung sich abzeichnen? Wir müssen Gott heimholen. „Allen aber, die Ihn aufnahmen, gab Er Macht, Kinder Gottes zu werden." [...] Nehmen wir Ihn auf, o heißen wir Ihn willkommen, in unsern armen, verwaisten und beraubten Herzen, in der schreckenden Verkleidung Seines allheiligen und rätselhaften Willens oder in der Gestalt der Obdachlosen, in denen Er, der Heimatlose, noch immer sichtbar durch die Länder geht. [...] So mag es sein, [...] daß wir wieder Heimat finden und bauen dürfen, als Versprechung und Vorgeschmack der ewigen Wohnungen. (S. 19f)

Was bis hierher gesagt wurde, dient nicht etwa dazu, den Menschen zu erniedrigen und ihm seine Würde zu nehmen. Im Gegenteil: Die Einsicht in das eigene Versagen, in die abgrundtiefe Schuld dient einzig und allein dazu, dass wir Gott aus seiner Verbannung heimholen und in unseren Herzen willkommen heißen.

Dabei begegnet uns Gott nach Görres in zweifacher Gestalt: „in der schreckenden Verkleidung Seines allheiligen und rätselhaften Willens" und „in der Gestalt der Obdachlosen". Es geht um zwei Dinge: Wir sollen Gottes Willen akzeptieren, sei er auch rätselhaft und für uns unbegreiflich. Und wir sollen den Heimatlosen der Welt, in denen Gott sichtbar ist, Heimat gewähren. Wenn wir Gottes Willen und die Heimatlosen bei uns aufnehmen, dann kann es geschehen, dass wir wieder Heimat für uns selbst finden und für andere Heimat bauen und dass wir so die ewigen Wohnungen schon jetzt widerspiegeln.

Wie das geschehen kann?

Wir müssen [...] den Weg des Gebetes finden und den Weg der dienenden und helfenden Liebe. (S. 21)

Im Gebet vertrauen wir uns dem Willen Gottes an und erbitten von ihm Kraft, seinen Weg mitzugehen. In der Liebe geben wir uns dem Mitmenschen hin und dienen ihrem Leben. Görres weiß, wie schwer das für uns ist. Sie weiß um „die Anfechtung der Verzweiflung", die angesichts des Bösen jede Hoffnung aufgeben will, dass das Gute doch noch den Sieg erringen kann. Doch es gibt eine Gegenmacht gegen diese Anfechtung:

Gewaltig erhebt sich dagegen die Zuversicht auf die Allmacht der Liebe, welche auf Erden offenbar wird durch das armselige, wankende Menschenherz. Wie sehr gilt hier das Wort: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben." (S. 21f)

Die knapp 23 Seiten dieser auf altem, verwitterten Papier gedruckten kleinen und unscheinbaren Blätter haben mich beeindruckt – vor allem deshalb, weil der Text aus den Erfahrungen des Krieges und der äußersten Not heraus geschrieben wurde. Trotz dieser Erfahrungen war es keine Absage an Gott, sondern war durchglüht von dem Glauben an den, der Wohnung bei uns nehmen will und von uns in die Heimatlosigkeit verbannt wird. Es war eine Absage an den Menschen und zugleich eine Hoffnung für ihn, die gerade dann deutlich wird, wenn der Mensch seine Schuldverfallenheit erkennt und anerkennt.

Wir Westeuropäer genießen bessere Zeiten. Aber das heißt nicht, dass wir besser sind. Die Bedrohungen sind für alle, die sehen wollen, sichtbar. Und sie rücken näher an uns heran. Darum gilt es auch für uns, uns die dunklen Abgründe unserer Schuld wirklich bewusst zu machen und nach der geheimnisvoll-abgründigen Gegenwart Gottes in der Welt zu rufen:

Da wir die Nichtigkeit unserer Kräfte erfahren, liegen wir dem Wunder wieder offen: ein Abgrund ruft dem andern, die Heimatlosigkeit des Menschen die Heimkehr Gottes in die Welt. (S. 23)


* * * * *




4 Kommentare
Jochen
2021-08-29 13:34:01
Hallo Klaus,
an Joseph Ratzinger hat Görres in ihrem letzten Brief geschrieben: "Eine Kirche der Eliten - was wäre das schon?" (gesehen bei https://www.idagoerres.org/ratzinger-gedenkworte) Das war lange nach den Krieg, in der Zeit der Bundesrepublik.
Ich habe allerdings eher nicht den Eindruck, dass die Gefahr von Christen ausgeht, die für ihr Vaterland beten, sondern das Elitäre drückt von allen Seiten rein. Unser Pfarrer sagte vor einiger Zeit, dass es doch eigentlich bemerkenswert sei, dass die theologisch konservativste Pfarrei des Bistums die liberalsten Corona-Regelungen hat. Wie lange wird das noch so gehen? Das fragen wir uns oft. In unseren Fürbitten wird oft für das Vaterland und die "Regierenden" gebetet, in unseren Heiligen Messen ist ein enormer Ausländeranteil, Indien, Mexico, Iran, teilweise auch Leute, die innerlich im Iran konvertiert sind und erst in Deutschland ohne Gefahr für Leib und Leben getauft werden konnten. Heimatlos wird man dann, wenn der Staat übergriffig wird und sich anmaßt, an die Stelle Gottes zu treten. Ein Stück weit geschieht das m. E. gegenwärtig. Görres, Victor Klemperer (nominell Angehöriger der bekennenden Kirche) hätten in unserer Zeit sicherlich schon längst ihre Bleistifte gespitzt.
Deswegen finde ich es auch gut, diese älteren Schriften zu lesen, denn sie zeigen wie beschränkt unsere eigenen politischen und weltanschaulichen Koordinatensysteme sind in denen wir urteilen, beurteilen, akkreditiert und zertifiziert werden.
2021-08-29 16:10:18
Hallo Jochen,

danke für deine weiterführenden Informationen. Die Website www.idagoerres.org ist ja auch sehr interessant.

Ich denke auch, dass das Gebet für das Heimatland und die Regierenden nicht zu verurteilen, ja dass es eine Pflicht für alle Christinnen und Christen ist. Und wenn die Regierenden einen Hauch Glauben in sich haben, werden sie darum wissen, dass sie des Gebets bedürfen und um dieses Gebet geradezu bitten. So wie wir für andere Länder und die Nöte fremder Völker beten, so doch auch für das eigene Land und die Nöte der eigenen Bevölkerung.

Ich denke, es gibt viele Arten von Heimatlosigkeit in der Welt. Es ist doch geradezu ein Kennzeichen von Christinnen und Christen, sich ein Stück weit heimatlos in der Welt zu fühlen - ist doch die Welt nicht unsere eigentliche und letzte Heimat. Wie sollte es uns besser gehen als dem, der heimatlos in der Welt war und dem nachzufolgen wir uns bemühen?

Leider wird die Heimatverbundenheit heute von manchen dazu missbraucht, das Herz gegenüber Fremden, die in Not geraten sind, noch dazu nicht ohne unsere eigene Verantwortung, zu verschließen. Wenn Gott uns eine materiell reiche Heimat geschenkt hat, kann das doch nur bedeuten, den materiell Armen an diesem Reichtum Anteil zu gewähren - so wie schon zu biblischen Zeiten die Gemeinden Kleinasiens es gegenüber der Gemeinde in Jerusalem taten.

Es ist sicher richtig, dass Heimatlosigkeit auch durch staatliche Übergriffigkeit entstehen kann. Das Dritte Reich ist dafür ein treffendes Beispiel. Es geschieht sicher heute in allen totalitären Staaten. Ich sehe aber nicht, dass das heute bei uns der Fall ist. Siehst du das in Zusammenhang mit den Einschränkungen der Gottesdienste wegen Corona? Man kann sicher fragen, ob die Maßnahmen hier und da nicht etwas überzogen waren oder früher hätten gelockert werden können, aber grundsätzlich sehe ich den Staat auch in der Rolle, seine Bevölkerung vor der Pandemie zu schützen, so gut er es kann. Und dieser Schutz muss doch auch ein Anliegen der Kirchen sein. Sie dürfen keinen Sonderweg beanspruchen und es ablehnen, sich an diesem Schutz zu beteiligen, sondern müssen ihren Teil dazu beitragen. Schließlich ging es Christus auch nicht nur um ein frommes Leben, in dem man singen, beten und Gemeinschaft mit Gott pflegen durfte, sondern auch um die Heilung der Kranken und um ihre Aufnahme in die jüdische Gemeinschaft, von der sie vielfach ausgeschlossen waren. So sollte es uns auch um die Bewahrung vor Krankheit gehen, auch für die, die nicht zu den Glaubenden gehören, und wir sollten um ihretwillen bereit sein, Einschränkungen auch unseres geistlichen Lebens eine Zeit lang in Kauf zu nehmen - so wie Jesus zum Leiden bereit war, indem er durch manche Heilung den Zorn der Mächtigen auf sich zog.
Jochen
2021-08-30 18:10:14
Hallo Klaus,
wahrscheinlich treten hier dann doch die konfessionellen Unterschiede auf, die das Verständnis schwerer machen, denn in der katholischen Kirche - und Görres ist ja Katholikin - hat der Glaube einen materiellen Anker in der Eucharistie. Hier legt die Corona-Krise ziemlich klar die Doppelstandards in der gegenwärtigen Kirche frei. Würde man unseren Bischof fragen, ob er sich als liberalen Menschen halten würde, er würde sicherlich zustimmen. In Wirklichkeit ist er unnötig autoritär in seinen Maßnahmen, wahrscheinlich aus Angst vor der Öffentlichkeit und Loyalität vor dem Staat, der ihn ernährt. Eintretend mit großen Worten für die Religionsfreiheit weltweit, aber die mexikanische Mutter von zwei Kindern, die die Mundkommunion schon immer kniend empfängt, wird abgewiesen. Dabei gäbe es Wege. Ich kann da die Heimatlosigkeit schon gut nachvollziehen.
Görres hat übrigens 1946 einen "Brief über die Kirche" verfasst, der den "ernüchternden Alltag im real existierenden Katholizismus beschrieb, mit erschreckenden Zuständen im Klerus, die nichts mit der Tradition zu tun hätten, auf die man sich ständig berufe" (P. Seewald, Bendikt XVI., S. 313). Die Reaktionen waren entsprechend heftig. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie zu den Zuständen heute schweigen würde.
2021-08-30 19:38:02
Hallo Jochen,

das sind erschreckende Zustände in der katholischen Kirche, die du schilderst. Ich habe Ähnliches auch schon von katholischen Freunden gehört.

Vom "Brief über die Kirche" habe ich auf der von dir oben genannten Website gelesen und versucht, ihn im Internet zu finden oder gedruckt zu bestellen, das war aber nicht möglich. Ich hätte ihn gern gelesen. Dafür habe ich dann antiquarisch das Görres-Buch "Von Ehe und von Einsamkeit" bestellt, nicht nur wegen des Themas, sondern auch wegen ihrer überzeugenden und schönen Sprache. Sie war eben keine Theologin, sondern Literatin. Sicher eine beeindruckende Frau.
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