Theologie der Wandernden
Klaus Straßburg | 19/10/2021
An den unterschiedlichen Äußerungen der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zur Corona-Pandemie war es nahezu täglich abzulesen: Die Wissenschaft gibt es nicht. Was es gibt, sind nur Meinungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.
Ich will nicht behaupten, dass es keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse gäbe. In vielen Fragen gibt es in der Wissenschaft weitgehende Übereinstimmung. Einige Außerseiterpositionen wird es immer geben.
In vielen anderen Fragen aber gibt es offensichtlich keine Übereinstimmung. Die wissenschaftlichen Studien, auf die sich die Forschenden berufen, sind oft dieselben. Dennoch gibt es unterschiedliche Interpretationen und Schlüsse, die sie aus diesen Studien ziehen.
Wenn wir ehrlich sind, müssen wir sagen: Die eine, einzig wahre Wissenschaft gibt es nicht.
Bei alledem ist noch gar nicht berücksichtigt, dass wir nicht wissen, welche vermeintlich gesicherten Forschungsergebnisse in Zukunft Bestand haben werden. Die Wissenschaft hat auch die Einsichten, welche als die gesichertsten galten, immer wieder revidieren, also korrigieren müssen.
Auch die Theologie versteht sich als Wissenschaft. Aber auch hier gilt: Die Theologie gibt es nicht. Es gibt nur Meinungen von Theologinnen und Theologen, Christinnen und Christen.
In vielen theologischen Fragen gibt es zwar weitgehende Übereinstimmung unter den Forschenden. Aber in vielen anderen Fragen gehen die Meinungen – zum Teil weit – auseinander. Vor allem dann, wenn man ins Detail geht.
Dabei ist die Grundlage der Forschenden eigentlich dieselbe: Jedenfalls für die evangelische Theologie sind es die biblischen Schriften. Aber schon deren Geltung wird unterschiedlich beurteilt. Und selbst wenn ihre Geltung anerkannt wird, werden sie unterschiedlich interpretiert, und es werden unterschiedliche Schlüsse aus ihnen gezogen.
Und auch in der Theologie muss man sich bewusst sein, dass ihre Forschungsergebnisse immer wieder revidiert werden und wir nicht wissen, welche Einsichten Bestand haben werden.
Wir müssen damit leben, dass es die eine wahre Theologie auf Erden nicht gibt.
Das gilt letztlich auch für den christlichen Glauben. Wer meint, er hätte den einen wahren Glauben und die allein wahren Einsichten, der irrt sich sehr.
Dennoch gibt es die eine Wahrheit – auch wenn wir sie nicht „haben" und „besitzen". Denn die eine Wahrheit ist Gott selbst. Weil die Wahrheit Gott selbst ist und wir auf Gott nicht zugreifen können, kann uns die Wahrheit nur geschenkt werden.
Es wäre überheblich zu denken, dass man Gott habe oder besitze. Dennoch kann man bestimmte Glaubenswahrheiten für wesentlich und unumstößlich halten. Zu ihnen würde ich persönlich zählen (ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben):
- Gott hat sich im Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi offenbart.
- Die biblischen Schriften sind das für uns maßgebliche Zeugnis von diesem Gott.
- Gott liebt alle Menschen bedingungslos und wirkt in der Welt zu ihrem Wohlergehen.
- Gott möchte, dass wir im Glauben und Handeln auf seine Liebe antworten.
- Wir können uns in unseren Gebeten an Gott wenden und auf seine Hilfe hoffen.
- Gottes Ziel für alle Menschen ist das ewige Leben.
Diese Grundwahrheiten sind allerdings sehr allgemein formuliert. Das führt dazu, dass bei ihrer genaueren Betrachtung auch unter denen, die sie vertreten, wieder Meinungsunterschiede zutage treten würden.
Deshalb kommen wir nicht darum herum:
- Wir müssen in der Fülle der Glaubenseinsichten unseren Weg selber finden.
- Wir sind aber dabei nicht allein, sondern unterwegs mit anderen Christinnen und Christen.
- Wir haben in den biblischen Schriften eine Grundlage, die uns immer wieder Einsichten vermittelt und im Glauben bestärkt.
- Wir können Gott um wahre Einsichten bitten.
- Wir können gewiss sein, dass Gott uns zu wahren Einsichten geleiten will, uns aber auch alle Irrtümer vergibt.
Darum ist es gar nicht schlimm, dass es (in Grenzen!) unterschiedliche Theologien und Glaubenseinsichten gibt. Es ist sogar dem „Gegenstand" unseres Nachdenkens, es ist Gott angemessen. Denn Gott ist immer größer als unser Verstehen.
Und dennoch können und sollen wir um Gewissheit im Glauben bitten. Und auch darin gewiss sein, dass Gott uns die Einsicht, die wir brauchen, nicht versagen wird.
So können wir als Christinnen und Christen frohen Mutes im Bewusstsein unserer Unvollkommenheit unseres Weges ziehen. Wir bleiben immer auf dem Weg hin zu Gott. Darum auch sagt die Theologie von sich selbst, sie sei „Theologie der Wandernden" (lateinischer Fachausdruck: theologia viatorum) – Theologie derer, die noch nicht am Ziel sind.
Unser Glaube ist Glaube der Wandernden, solange wir durch diese Welt wandern.
* * * * *
Theologie ist für mich wie ein interessantes altes Haus mit viel Geschichte. Ich habe an diesem Haus aber schon sehr früh erhebliche Risse wahrgenommen. Als ich dann erfahren habe, dass eine statische Überprüfung regelmäßig mit Hinweis auf den Denkmalschutz verweigert wird, stand meine Entscheidung schnell fest. Keine zehn Pferde bekommen mich in dieses Haus, und ich würde mich dort ganz bestimmt nicht wohlfühlen.
Um im Wanderbild zu bleiben: ich fühle mich an der frischen Luft wohler, und wenn ich festen Boden unter den Füßen habe und den Sternenhimmel über mir, kann ich den Polarstern finden und laufe in die richtige Richtung.
Viele Grüße
Thomas
vielen Dank für deinen Kommentar. Es tut mir leid, dass du so schlechte Erfahrungen mit der Theologie gemacht hast. Deine Gesprächspartner waren vielleicht Pfarrerinnen und Pfarrer, die an den althergebrachten Traditionen und Begrifflichkeiten klebten, ohne sich auf Argumente einzulassen. Ich würde mal fragen, ob sie sich dann überhaupt noch Theologen nennen können und nicht eher Traditionsbewahrer nennen sollten.
Ich selbst habe die wissenschaftliche Theologie ja viele Jahre lang von innen heraus kennengelernt. Von meinen Erfahrungen her kann ich nicht bestätigen, dass die "statische Überprüfung" des Hauses der Theologie mit dem Hinweis auf ihr Alter verweigert wird. Das Alter ist für ernst zu nehmende Theologinnen und Theologen kein Argument. Es gibt sicher arg traditionsverhaftete Pfarrerinnen und Pfarrer, Christinnen und Christen, aber im Raum der Theologie habe ich keine Verweigerung der Argumentation mit Hinweis auf die Tradition gefunden. Ich habe vielmehr erlebt, wie alles in Frage gestellt und diskutiert wurde, so wie es sich für jede anständige Wissenschaft gehört. Wer sich dieser Diskussion entziehen würde, hätte im Wissenschaftsbetrieb jegliche Legitimation verloren.
Ein Blick in die Kirchengeschichte bestätigt das. Natürlich gab und gibt es immer die Bewahrer, die möglichst nichts verändern wollen. Oft genug aber haben sich die Neuerer durchgesetzt, und das gilt nicht nur für die Reformation. Neuerungen sind oft hart erkämpft worden, aber ohne Widerstände geht es wohl nie ab, wenn etwas Neues sich durchsetzen will. Ernst zu nehmende Theologie weiß eben auch darum, dass sie kein Haus, keine Immobilie ist, sondern nur dann sich selbst, nämlich der Aufgabe, Gottes Wahrheit in einer sich verändernden Welt immer neu zu sagen, treu bleibt, wenn sie in Bewegung bleibt. Das wollte ich mit meinem Artikel zum Ausdruck bringen.
Insofern fühle ich mich ganz deinem Wanderbild verbunden und würde gern mit dir zusammen an der frischen Luft und mit festem Boden unter den Füßen neuen Gedanken entgegenwandern.
Viele Grüße
Klaus
mit normalen Pfarrerinnen und Pfarrern habe ich keine Probleme gehabt. Mir geht es um Aussagen wie diese hier:
„Die Ausrichtung auf die eigene Aufgabe läßt die Theologie jede Rücksicht auf das, was sonst "Wissenschaft" heißt, unterordnen und nötigenfalls opfern; "sie hat methodisch nicht bei ihnen zu lernen. Sie hat sich nicht vor ihnen zu rechtfertigen" [!!] (…), auch nicht dadurch, daß sie selbst einen Wissenschaftsbegriff anbietet (…).“ Karl Barth: Kirchliche Dogmatik I/1
Wenn mir jemand dermaßen die Tür vor der Nase zuknallt und von innen abschließt, drehe ich mich um und gehe. Dieser Club ist mir zu exklusiv.
Viele Grüße
Thomas
ja, der Karl Barth war ganz schön hart drauf in seiner Frühzeit. Das hängt damit zusammen, dass er erstmal die schöne Harmonie zwischen Kultur und Glaube zerschlagen musste, um den Glauben von der Vereinnahmung durch die Kultur zu befreien. Natürlich darf auch nicht die Kultur durch den Glauben vereinnahmt werden. So hat der späte Barth dann auch viele Lichter außerhalb des Christentums in der Welt gefunden, die in ihrer Weise leuchten und für die wir dankbar sein können (sog. "Lichterlehre").
Aber Barths Lehre ist ja nicht DIE Theologie und wollte es auch nie sein. Dass es "Barthianer" geben möge, hat Barth selbst immer abgelehnt. DIE Theologie gab es damals nicht und gibt es heute auch noch nicht, und das ist auch gut so. Das wollte ich mit meinem kleinen Artikel sagen.