Sünde – biblisch und konkret
Klaus Straßburg | 20/07/2023
Sünde ist so vielfältig wie unser Leben. Ihre unfassbare Bosheit wird deutlich in einem kurzen Gesprächsausschnitt von Soldaten im Zweiten Weltkrieg [1]:
ZOTLÖTERER: Ich habe einen Franzosen von hinten erschossen. Der fuhr mit dem Fahrrad.
WEBER: Von ganz nahe?
ZOTLÖTERER: Ja.
HEUSER: Wollte der dich gefangen nehmen?
ZOTLÖTERER: Quatsch. Ich wollte das Fahrrad haben.
Sünde ist heute für die meisten Menschen kein Thema. Man spricht zwar von "Schuld" und man weiß um das Böse, das Menschen tun können. Aber "Sünde" als religiöser Begriff kommt im öffentlichen Leben kaum vor.
Umso wichtiger ist es, sich zu verdeutlichen, was Sünde eigentlich ist. Ich möchte in diesem Beitrag zunächst der Bedeutung von Sünde im Alten und Neuen Testament nachgehen. Anschließend werde ich einige Konkretionen der Sünde aufzeigen. Dabei kommt hauptsächlich die Gewalt als wesentlicher Aspekt von Sünde zur Sprache – nicht nur, aber vor allem im Krieg als der wohl gravierendsten Form der Gewalt.
1. Begriffe für Sünde im Alten Testament
Das Alte Testament hat keinen einheitlichen Begriff für Sünde, sondern spricht von ihr mit einer Vielzahl von Begriffen. Das entspricht dem konkreten und lebensnahen hebräischen Denken. Ich nenne hier einige der wichtigsten Begriffe, die im Alten Testament die Sünde beschreiben (in einfacher, nicht-wissenschaftlicher Lautschrift wiedergegeben; Betonung immer auf der letzten Silbe) [2]:
ra-a: Bosheit, Schlechtigkeit. Das Wort bezeichnet die Sünde im umfassenden Sinn als das Schlechte, Böse im Gegensatz zum Guten. Es kann auch das Unglück bezeichnen, das aus dem Bösen folgt, das man zuvor getan hat. Daraus wird schon deutlich, dass es nicht um Kleinigkeiten geht, sondern um gravierend Böses. Böses, das sich gegen Menschen richtet, ist dabei zugleich gegen Gott gerichtet.
chattat: Verfehlung. Das Wort ist der Hauptbegriff für die Beschreibung der Sünde. Es handelt sich bei der Sünde um eine Zielverfehlung: Das Handeln verfehlt das Gute und bewirkt Schlechtes. Ob dies bewusst oder unbewusst geschieht, spielt keine Rolle: Beides führt zum negativen Ergebnis der Zielverfehlung. Diese besteht darin, die Gemeinschaft mit Gott oder mit anderen Menschen zu verletzen.
awon: Verkehrtheit. Hier geht es nicht um das Ergebnis des Handelns, sondern um seinen Vollzug: Der Vollzug in all seinen Phasen – Tat, Folgesituation, Vollendung – ist verkehrt, weil er vom rechten Weg abweicht. Wiederum kann dies bewusst oder unbewusst geschehen. Kriterium der Verkehrtheit ist der Verstoß gegen das, was nach Gottes Willen richtig ist. In einer säkularen Weltanschauung spielt das Kriterium "Wille Gottes" keine Rolle. Es gibt aber doch bei vielen Menschen so etwas wie ein Gespür dafür, dass etwas grundlegend verkehrt läuft - ein Hinweis auf die Verkehrtheit des Lebens.
ascham und aschma: Schuldverplichtung. Wenn jemand den verkehrten Weg beschreitet, führt das dazu, dass er zu etwas verpflichtet ist: Aufgrund des Urteilens oder Handelns Gottes ist eine Haftpflicht eingetreten, die den Menschen zur Ableistung einer Schuldgabe verpflichtet.
päscha: Verbrechen. Das Wort beschreibt ein Brechen mit, ein Zerbrechen und Zerstören. Sünde bricht mit Gott, indem sie sich an dem Seinen vergreift. So zerstört sie auch zwischenmenschliche Beziehungen.
chamas: Gewalttat. Dieses Wort beschreibt gewalttätige Verhaltensweisen, welche die von Gott gegebene Ordnung verletzen und durch Blutvergießen das zwischenmenschliche Verhältnis in besonderer Weise belasten.
rascha: Schuld. Der Begriff bezeichnet ein Verhalten, mit dem jemand die Gemeinschaft schädigt. Vor allem geht es dabei darum, dass jemand unschuldigen Menschen oder Volksangehörigen das Leben nimmt. Die Schuld kann aber auch durch Raub, Unterdrückung von Armen, ungerechten Handel, Anhäufung von Reichtum und andere für die Gemeinschaft schädliche Verhaltensweisen entstehen.
nebala: Torheit. Torheit ist dabei mehr als Dummheit. Sie stellt einen schweren Bruch mit der Moral Israels dar, besonders im sexuellen Bereich, und zerstört sinnlos die gemeinschaftlichen Beziehungen, ohne die wir nicht leben können.
Als gemeinsamen Nenner dessen, was Sünde im Alten Testament bedeutet, könnte man feststellen: Sünde ist die Zerstörung all dessen, was gut, gerecht, friedfertig, segensreich und heilvoll ist. Außerdem ist wichtig, dass Sünde nicht nur die Tat ist, sondern auch die negative Folge der Tat umfasst. Die Tatfolge fällt nach alttestamentlichem Verständnis früher oder später auf den Täter zurück, wenn Gott es so will. Im Einzelnen aufweisen lässt sich dieser Zusammenhang zwischen Tat und Tatfolge nicht. Jedenfalls gehört zur Sünde immer auch ihr negatives Ergebnis, das sich über Jahre und Jahrzehnte hin auswirken kann.
2. Sünde in der Urgeschichte
Ausgangspunkt der Sünde ist nach der Urgeschichte (1Mo/Gen 1-11) die Verletzung der göttlichen Ordnung durch Adam und Eva. Die Urgeschichte ist kein Zeitabschnitt in der Menschheitsgeschichte, sondern sie macht grundlegende Aussagen über alle Menschen. Adam und Eva sind dementsprechend keine historischen Gestalten, sondern ihre Geschichte zeigt uns, wer wir eigentlich sind: Gottes geliebte Geschöpfe, die von ihm abgefallen sind und deshalb in einer von ihm abgefallenen Welt leben. Der Abfall von Gott ist die Ursünde. Alle anderen moralischen Formen der Sünde haben hier ihren Grund.
Es gibt also eine göttliche Ordnung im Geschaffenen. Wenn man diese verletzt, richtet man Zerstörung an, die zugleich Selbstzerstörung ist (1Mo/Gen 3,7.23f). Jedes Vergehen ist ein Vergehen gegen Gott, weil Gott allem Geschaffenen liebevoll zugewandt ist. Es gibt nichts und niemanden in dieser Welt, dem nicht Gottes Liebe gilt.
Nach der Sünde durch Adam und Eva geht die menschliche Sündengeschichte weiter, und zwar mit einem Brudermord: Kain ermordet seinen Bruder Abel, nachdem er sich geistig im Neid gegen ihn gewandt hat (1Mo/Gen 4,6.8). Darauf folgt in 1Mo/Gen 4,24 die grenzenlose Blutrache und anschließend die globale Gewalt auf Erden (1Mo/Gen 6,11.13):
Die Erde wurde verderbt vor Gott, und die Erde füllte sich mit Gewalttat. [...] Da sprach Gott zu Noah: Das Ende alles Fleisches ist vor mein Angesicht gekommen. Denn die Erde ist voller Gewalttat von den Menschen her. Und siehe: Ich verderbe sie mitsamt der Erde.
Das Übertreten der göttlichen Ordnung bringt es nach dieser Erzählung mit sich, dass mit der Ordnung des Schöpfers sogleich auch das vom Schöpfer erschaffene Leben angetastet wird. Mord und Gewalt erscheinen damit als die gravierendsten Formen der Sünde, weil sie das vom Schöpfer gewollte Leben auslöschen. Es zeigt sich eine Ausweitung der Gewalttat von der Ermordung eines Einzelnen über das Töten Vieler bis hin zur weltweit ausgeübten Gewalttätigkeit. Die Gewalt, einmal in der Welt, dehnt sich also wie ein Virus, der die ganze Welt infiziert, aus, so dass niemand mehr vor ihr sicher ist. Die von den Menschen zunächst partiell ausgeübte Gewalt fällt auf die ganze Menschheit zurück.
Die physische Gewalt ist vielleicht die konzentrierteste und augenfälligste Form moralischer Sünde. Es gibt aber unzählige andere Formen der Sünde, darunter auch versteckte Formen. Auch Gewalt beginnt nicht mit dem physischen Angriff auf das Leben, sondern mit Gefühlen und Gedanken. Sie schreitet fort über verletzende Worte bis hin zum Angriff auf den Körper des Nächsten. Immer aber geht es um die Zerstörung von Leben, sei es psychisch oder physisch.
Sünde besteht demnach nicht nur in der Tat, sondern sie hat immer auch eine geistige Dimension. Auf das Sehen des lieblichen Baumes folgt das Essen seiner Frucht (1Mo/Gen 3,6), auf das Ergrimmen der Mord (1Mo/Gen 4,6.8), auf das böse "Dichten und Trachten" der Menschen ihr böses Tun (1Mo/Gen 6,5.11f).
Einzelne Sünden sind nicht nur Ausnahmen von der Regel, also gelegentliche Abweichungen vom Gutsein des Menschen, sondern sie werfen ein Licht auf die menschliche Beschaffenheit als Ganze, auf das wesentliche Sündigsein des Menschen. Denn in den Sündenzusammenhang sind alle verstrickt. Es handelt sich um ein unauflösliches Gewebe zerstörerischer Taten, in dem wir gefangen sind. Darum hat der Prophet Hosea gesagt (Hos 7,2): "Ihre Taten umringen sie jetzt." Das heißt nicht, dass es keine Unterschiede im Grad der Verfehlungen und der zerstörerischen Folgen gebe: Ein Dieb richtet weniger Schaden und Zerstörung an als ein Mörder.
3. Sünde im Neuen Testament
Im Neuen Testament wird die vielfältige Begrifflichkeit der Sünde eingeebnet. Im Mittelpunkt steht jetzt das griechische Wort hamartía. Das Wort bezeichnet das Nichterreichen eines Zieles, also eine Zielverfehlung. In der Sünde wird die Treue Gott gegenüber verfehlt und damit zugleich sein guter Wille für uns.
Jesus hat den Willen Gottes, wie er im Alten Testament niedergelegt ist, radikalisiert. Das zeigt sich besonders in der Bergpredigt (Mt 5-7), wo Jesus die Nächstenliebe zur Feindesliebe ausgeweitet hat. Die Liebe soll auch dem gegenüber gelten, der mir als Feind, als Sünder und Gewalttäter, begegnet.
Dem entspricht Jesu eigenes Verhalten: Er hat sich in besonderer Weise nicht den angeblich Guten, sondern den Sündern, den Feinden Gottes, zugewendet (Röm 5,10). Er hat ihnen ihre Sünden vergeben und dadurch Anstoß erregt.
Paulus hingegen benutzt den Begriff "Sünde" meist im Singular. Damit drückt er aus: Sünde ist in erster Linie nicht ein Einzelvergehen eines einzelnen Menschen, sondern eine uns beherrschende (Sünden-)Macht. Sie betrifft den verderblichen Lebenszusammenhang, in dem ein Mensch steht, den unheilvollen Raum außerhalb des Reiches Gottes.
Der Sünde gegenüber steht nicht einfach der Glaube, sondern zuerst der Geist Gottes, der wie die Sünde eine Macht ist. Die Macht des Geistes Gottes kann dazu führen, dass ein Mensch nun nicht mehr von der Sünde beherrscht wird, sondern in positiver Weise vom Geist Gottes getrieben.Der Mensch kann sich also nicht aus eigener Kraft aus dem Machtbereich der Sünde lösen. Diese Unfähigkeit macht uns abhängig von Gottes Geist und davon, dass wir ihn in uns zur Wirksamkeit kommen lassen.
Oft wird gesagt, das sei ein pessimistisches Menschenbild. Aber das Gegenteil ist der Fall. Die Vorstellung der Abhängigkeit des Menschen von Gott ist kein Pessimismus, sondern Optimismus. Denn was der Mensch nicht schaffen kann, nämlich aus eigener Kraft der Sündenmacht zu entkommen, bewirkt Gott bei jedem, der die Kraft des Geistes Gottes dankbar annimmt.
Glaube ist nach Paulus das Vertrauen auf die Treue Gottes zu den von ihm geschaffenen Menschen. In dieser Treue hält Gott an den Menschen fest, obwohl sie Sünder sind. In dieser Treue, die sich in Jesu Leiden und Sterben am Kreuz zeigte, sind wir mit Gott versöhnt (2 Kor 5,18-20).
Dem Glauben entspricht daher in negativer Weise das Misstrauen, die Unversöhntheit und Unversöhnlichkeit. Unversöhnlichkeit aber stiftet einen verheerenden Kommunikations- und Lebenszusammenhang. Wie sehr dieser zusammen mit der Gewalt unsere Welt prägt, soll nun an einigen Beispielen deutlich werden.
4. Gewalt als notwendiger Urinstinkt
Gewalt kann durchaus positiv, notwendig und weiterführend verstanden werden. Damit meine ich jetzt nicht das Gewaltmonopol des Staates, sondern die persönliche Ausübung von Gewalt. Die Journalistin Heike Littger hat die Weltsicht eines Fußball-Hooligans beschrieben [3].
Für den Hooligan, Schneider genannt, gehört zum Fansein notwendig die körperliche Auseinandersetzung und das Adrenalin, das sich nach dem Spiel bei der Schlägerei mit gegnerischen Hooligans bildet. Die menschlichen Urinstinkte, so meint er, würden auf diese Weise Ausdruck finden. Alles, was diese Urinstinke unterdrückt, bedeute die Verweichlichung des Menschen. Und diese Verweichlichung führe "direkt in den Abgrund, Gewalt und Brutalität nehmen nicht ab, sondern zu" (S. 46). Als Beispiele führt Schneider die Messerattacken von Kindern an, die in den letzten Wochen die Gemüter erhitzten.
Das Ausleben der Urinstinkte, wie Schneider es nennt, beschreibt die Journalistin so:
Kampfmaschinenmodus: den Gegner schnellstmöglich zu Boden bringen und treten, am besten auf Kinn oder Schläfe, bis man sicher ist, dass er keine Lust mehr hat, noch mal aufzustehen, dann zum nächsten. [...] Der Lohn: ein Hochgefühl, das eine Woche lang anhält, selbst wenn man verloren hat. Als Feinde würde Schneider die wenigsten seiner Gegner bezeichnen. "Mit vielen Hooligans bin ich befreundet oder zolle ihnen zumindest Respekt." Nicht selten gehe man nach dem Kampf zusammen noch feiern, stoße an auf den Kick, den man sich "gegenseitig geschenkt hat".
Den Wert des Kampfes sieht Schneider auch darin, dass man seiner Mannschaft treu ist, und zwar auch dann, wenn es "hart auf hart kommt". Es kommt darauf an, wehrhaft zu sein und loyal gegenüber der Hooligan-Szene. Dazu gehört, dass man keine Schwächeren niedermacht. Für ihn selbst springt dabei eine Position heraus, die er sich erkämpft hat. Wenn ihn im Stadion irgendwelche Leute nerven,
reicht ein Wort, um für Ruhe zu sorgen. Diese Stellung habe ich mir erarbeitet, von nichts kommt nichts, du musst abliefern – und zwar beständig auf hohem Niveau, sonst bist du weg oder musst zurück ins Glied.
Theologisch kann man sagen: Deutlich wird in Schneiders Weltsicht zunächst die geistige Dimension der Sünde: Im Kampf werden Urinstinkte aktiviert. Urinstinkte weisen auf das Wesen des Menschen, auf seinen innersten Kern. Zu diesem Kern gehört die Gewalt. Gewalt ist demnach eine biologische Notwendigkeit. Wo diese unterdrückt wird, tritt sie umso heftiger hervor.
Die Gewalt erscheint so nicht als etwas Böses, sondern als Grundwert menschlicher Existenz. In ihr geht es um Treue zur Mannschaft und um Loyalität, also um eine stabile Persönlichkeit. Treue und Loyalität gegenüber Gott sind damit ersetzt. Stabilität wird nicht erlangt durch Vertrauen, sondern indem man treu und wehrhaft ist. Das ist ein Verständnis von Treue zur Gemeinschaft, die durch Gewalt ausgeübt wird.
Die göttliche Ordnung sieht eine andere Treue zur Gemeinschaft vor, nämlich eine durch Liebe, die Gewalt soweit wie irgend möglich ausschließt. Immerhin werden die Gegner von Schneider nicht als Feinde betrachtet. Das Ganze erinnert eher an eine sportliche Auseinandersetzung. Dass dabei Menschen verletzt, vielleicht auch in ihrer Unversehrtheit gefährdet werden, bleibt außer Betracht.
5. Wie Vaterlandsliebe und Feindschaft voneinander leben
Die europäischen Nationalstaaten lebten davon, sich gegen ihre Nachbarn abzugrenzen und sie als potentielle Feinde zu betrachten. Das zeigt sich auch in deren Nationalhymnen, zum Beispiel in der französischen Marseillaise, deren Text 1792 entstand. Hier ein Auszug [4]:
Auf, auf, ihr Kinder des Vaterlands! Der Tag des Ruhmes ist da.
Gegen uns wurde der Tyrannei blutiges Banner erhoben.
Hört ihr im Land das Brüllen der grausamen Krieger?
Sie kommen bis in eure Arme, um euren Söhnen, euren Gefährtinnen die Kehle durchzuschneiden!
Refrain
Zu den Waffen, Bürger, formiert eure Truppen,
marschieren wir, marschieren wir!
Dass unreines Blut tränke unsere Furchen!
[...]
Heilige Liebe zum Vaterland, führe, stütze unsere rächenden Arme.
Freiheit, geliebte Freiheit. Kämpfe mit deinen Verteidigern!
Unter unseren Flaggen, damit der Sieg den Klängen der kräftigen Männer zu Hilfe eilt,
damit deine sterbenden Feinde deinen Sieg und unseren Ruhm sehen!
Im mit Frankreich verfeindeten Deutschland dichtete 1813 Ernst Moritz Arndt in seinem Gedicht "Des Deutschen Vaterland" [5]:
Das ist des Deutschen Vaterland,
Wo Zorn vertilgt den wälschen Tand,
Wo jeder Franzmann heißet Feind,
Wo jeder Deutsche heißet Freund.
Das soll es seyn!
Das ganze Deutschland soll es seyn!
Hier tritt die Sünde sowohl als Unversöhnlichkeit zutage als auch als das, was ich unauflösliches Gewebe zerstörerischer Taten nannte. Die Liebe zum Vaterland lebt von der Feindschaft gegenüber dem Nachbarn und umgekehrt. Die Feindschaft des einen ruft die Feindschaft des anderen hervor, die sich über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte hält. Diesem Gewebe zu entkommen, erscheint aussichtslos, zumal die Kultur der Feindschaft dem Volk durch Intellektuelle und Schriftsteller einverleibt wird.
Insofern wird deutlich, dass der Krieg immer eine geistige Dimension hat, die dem Töten vorausgeht. Das wusste auch der Kriegstheoretiker Carl von Clausewitz, der in seinem Buch "Vom Kriege" schrieb [6]:
Ist der Krieg ein Akt der Gewalt, so gehört er notwendig auch dem Gemüt an. Geht er nicht davon aus, so führt er doch darauf mehr oder weniger zurück, und dieses Mehr oder Weniger hängt nicht von dem Grade der Bildung, sondern von der Wichtigkeit und Dauer der feindseligen Interessen ab.
Der Krieg lebt von der Wichtigkeit und Dauer der feindseligen Interessen, die dem Gemüt eingepflanzt wurden und in ihm wuchern. Dazu sagt der Politikwissenschaftler Herfried Münkler: "Kommt das 'feindselige Gefühl' ins Spiel, werden Gegner zu Feinden." Theologisch gesprochen: Sünde beginnt nicht erst bei der Tat, sondern schon lange vorher im Fühlen und Denken.
Fühlen und Denken sind geprägt von den immer wiederkehrenden Narrativen, die von der außergewöhnlichen Grausamkeit des Feindes, vom Ruhm des Rächens und Tötens, vom heldenhaften Sterben für das geliebte Vaterland erzählen. Ehrenmale erinnern in allen Ländern an den Ruhm der Gefallenen und erhalten damit das Narrativ über Generationen hinweg aufrecht. Auch das ist Teil des unauflöslichen Gewebes, dem Menschen ausgesetzt sind.
6. Freude am Töten, Jagen und Rächen
Der britische Geheimdienst hörte im Zweiten Weltkrieg in großem Umfang die Gespräche deutscher Soldaten ab. An den Abhörprotokollen lässt sich ablesen, was mit den Menschen passiert, die als Soldaten im Krieg kämpfen. Hier können nur einige wenige Auszüge aus den Protokollen exemplarisch zitiert werden [7].
Dass der Krieg einen Menschen innerhalb kürzester Zeit radikal verändert, zeigt folgender Dialog, in dem ein Leutnant der Luftwaffe, genannt Pohl, berichtet:
POHL: Am zweiten Tage des Polenkrieges musste ich auf einem Bahnhof von Posen Bomben werfen. Acht von den 16 Bomben fielen in die Stadt, mitten in die Häuser hinein. Da hatte ich keine Freude daran. Am dritten Tage war es mir gleichgültig und am vierten Tage hatte ich meine Lust daran. Es war unser Vorfrühstücksvergnügen, einzelne Soldaten mit Maschinengewehren durch die Felder zu jagen und sie dort mit ein paar Kugeln im Kreuz liegen zu lassen.
MEYER: Aber immer gegen Soldaten ...?
POHL: Auch Leute. Wir haben in den Straßen die Kolonnen angegriffen. Ich saß in der Kette [in einer Formation von drei Flugzeugen]. Die Führermaschine warf auf die Straße, die beiden Kettenhunde auf die Gräben, weil da immer solche Gräben gezogen sind. Die Maschine wackelt, hintereinander, und jetzt ging es in der Linkskurve los, mit allen MGs und was du da machen konntest. Da haben wir Pferde herumfliegen sehen.
MEYER: Pfui Teufel, das mit den Pferden ... nee!
POHL: Die Pferde taten mir leid, die Menschen gar nicht. Aber die Pferde taten mir leid bis zum letzten Tag.
[...]
MEYER: Man verroht doch furchtbar bei solchen Unternehmungen.
POHL: Ich sagte ja, am ersten Tage ist es mir furchtbar vorgekommen. Da habe ich gesagt: Scheiße, Befehl ist Befehl. Am zweiten und dritten Tage habe ich gesagt: Das ist ja scheißegal, und am vierten Tag, da hab ich meine Freude daran gehabt. Aber, wie gesagt, die Pferde, die schrien. Ich glaubte, nicht das Flugzeug zu hören, so schrien sie. Da lag so ein Pferd mit den Hinterbeinen abgerissen.
Der Mensch wird nicht als ein Mensch geboren, der Freude am Töten hat. Der Krieg aber bewirkt dies offenbar in kürzester Zeit. Das Töten führt zur Freude darüber. Und die Freude am Töten führt zum weiteren Töten. So bewegt sich der Mensch in einem Teufelskreis. Man kann wohl sagen: Die Gewalttat fällt auf den Täter zurück, indem sie seine Gefühlswelt geradezu umkehrt: Aus einem Menschen, der Gewalt verabscheut, wird ein Mensch, der Freude an ihr findet und dadurch immer stärker in die Gewalt verstrickt wird.
Das Ziel des Guten – Bewahrung des Lebens – wird damit verfehlt. Ein Zerbrechen aller bisherigen Moralvorstellungen ist die Folge. Theologisch lässt sich sagen: Wenn die Sünde sich potenziert, brechen alle Dämme. Auch vor Unschuldigen macht die Lust am Töten keinen Halt.
Die Lust am Töten kann sportliche Züge annehmen. Die Ziele werden gejagt. Was im ukrainischen Butscha geschah, gehört in all seiner Grausamkeit offensichtlich zum Kriegsgeschehen hinzu. Der Leutnant zur See Danckworth berichtet von seiner Freude am Jagen anderer Schiffe:
Das macht doch Spaß auch heute noch. [...] Das Schönste, was es gibt, ist Einzeljagd.
Auch durch Rache potenziert sich die Gewalt. Der Obergefreite Diekmann erzählt, was passierte, nachdem einer seiner Kameraden von einem als Zivilist getarnten Kämpfer erschossen worden war:
DIEKMANN: [...] Da ratterte es schon [das Maschinengewehr], sämtliche Fenster abgestrichen, und was sich so eben auf der Straße gezeigt hat. Immer über die Straßen, peng, peng, weißt du, immer genau in die sämtlichen Seitenstraßen habe ich reingeschossen, alles was sich gezeigt hat. Mein Lieber, da ist verschiedentlich einer unschuldig umgefallen, das war mir ganz scheißegal. Diese gemeinen Hunde, Junge, Junge! – Ein alter Kerl, verheiratet, ich weiß nicht, vier oder fünf Kinder zu Hause, den legen sie so meuchlerisch um; da kannst du nicht mehr Rücksicht nehmen, das ist unmöglich. Wir hätten ja sämtliche Häuser angesteckt, wenn da noch ein Schuss gefallen wäre. Wir haben mit dem MG zwischen dreißig belgische Weiber gehauen. Die wollten das deutsche Verpflegungslager stürmen. Wurden sie aber fix herausgejagt.
HAASE: Da sind sie abgehauen, was?
DIEKMANN: Nein, umgefallen sind sie alle.
Auch hier wird deutlich, dass das Töten eines Einzelnen das Töten Vieler zur Folge hat. Rache, auch Vergeltung genannt, potenziert die Gewalt. Ein Leutnant Leichtfuss erwähnt das ausdrücklich, als er erzählt, wie verfahren wurde, nachdem deutsche Kriegsgefangene auf grauenvolle Weise vom Feind gemartert und getötet worden waren:
Diese Sachen hat man natürlich zum Anlass genommen, um das Zehnfache und Zwanzigfache und Hundertfache, nicht auf diese rohe und viehische Art und Weise, zu vergelten, sondern das wurde einfach folgendermaßen gemacht: Wenn da so ein kleiner Trupp gefangen genommen war, also zehn bis fünfzehn, dann war es dem Landser oder dem Unteroffizier auch zu schwierig, die nun irgendwie 100 oder 120 Kilometer nach rückwärts zu transportieren. Dann wurden die irgendwie in einem Raum eingesperrt. Dann flogen durchs Fenster drei bis vier Handgranaten.
Angesichts solcher Schilderungen versteht man, wenn Rache bzw. Vergeltung in den biblischen Schriften Gott vorbehalten bleibt (3Mo/Lev 19,18; Röm 12,19; Hebr 10,30): Es geht nicht darum, sich Gott so vorzustellen, dass er menschliche Rachegelüste entwickelt, sondern darum, die menschliche Rache einzudämmen; denn Gott bleibt – im Gegensatz zum Menschen – in aller Vergeltung ein barmherziger Gott.
7. Verfeindung durch Religion und Ideologie
Auch religiöse Vorstellungen können ein Einfallstor brutaler Gewalt bilden. Das zeigt nicht nur der gegenwärtige iranische Gottesstaat, sondern auch die christliche Tradition. Herfried Münkler weist in einer – meiner Meinung nach fragwürdigen – Interpretation der Johannesoffenbarung darauf hin, einer Interpretation, die aber durchaus zur kirchlichen Tradition gehört [8]:
Sicherlich gab es eine Ausmalung des Feindbildes in Verbindung mit religiösen Vorstellungen, in denen der Feind zum eschatologischen Widersacher, zu einer grundsätzlichen Infragestellung menschlichen Lebens, zumindest der eigenen Kultur, gesteigert wurde, zur Verkörperung des Widersinnigen schlechthin, sodass der Kampf gegen ihn zum Endkampf zwischen den Kräften des Guten und des Satanischen wurde. Man kann das als eine spezifische Art der Verfeindung bezeichnen, in der religiöse Vorstellungen die Aufgabe übernehmen, die in späterer Zeit den Ideologien zufallen sollte. Der Kampf um knappe Ressourcen wurde auf diese Weise [...] zu einem Ringen kosmischen Ausmaßes. Die Offenbarung des Johannes zeigt, wie Widerstands- und Rachefantasien, die gegen das übermächtige Rom gerichtet waren, aus einem Unabhängigkeitskrieg [...] ein kosmisches Ringen machten, in dem es nicht nur um Sein oder Nichtsein eines Volkes, sondern um das Schicksal der Welt, um den Endkampf zwischen dem Göttlichen und den satanischen Mächten ging.
Eine solche Interpretation der Johannesoffenbarung zeigt, wie sehr die Verteufelung des Feindes die Feindschaft bis hin zu einem religiös aufgeladenen Endkampf steigern kann. Für Versöhnung bleibt hier kein Raum mehr, kann man sich doch mit satanischen Mächten nicht versöhnen. Der Kampf wird hierdurch entweder verewigt oder mit dem Sieg Gottes beendet. In der Offenbarung siegt am Ende Gott. Insofern ging für die Menschen damals etwas Tröstliches davon aus, dass das Schicksal des römischen Weltreichs, wie mächtig es sich auch noch gebärdete, schon besiegelt war.
Dennoch sind solche Verteufelungen des Feindes keine Sache der Vergangenheit. Münkler stellt zu Recht fest, dass sie "in späterer Zeit den Ideologien zufallen sollte." Bis heute besteht die Gefahr, den Feind in die Ecke des Teufels zu stellen, gegen den bis zum Endsieg zu kämpfen ist. Die Beziehungen zwischen den beteiligten Staaten und ihrer Bevölkerung werden so für Jahrzehnte belastet, wenn nicht der Verfeindung preisgegeben, und das heißt: von Versöhnung ausgeschlossen.
8. Logik des Konflikts oder feindlose Demokratie?
Kriege erzeugen nicht nur zwischenstaatliche Feindschaft, sondern, wie der Soziologe Armin Nassehi betont, auch innerhalb der beteiligten Staaten gesellschaftliche Konflikte [9]. Man sieht das heute deutlich an den Diskussionen über die militärische Unterstützung der Ukraine. Dabei besteht die Gefahr, dass alle Argumente der "Logik des Konflikts" unterworfen werden. Auch komplexe Problemlagen werden dann auf einen einfachen Gegensatz reduziert – zum Beispiel "naiver Pazifismus" versus "tödlicher Bellizismus".
Alle an der Diskussion Beteiligten werden dann einer der beiden Seiten zugeordnet. Differenziertere Positionen werden "von dem etablierten Konflikt aufgesogen". Der so auf Dauer gestellte Konflikt mit seiner Vereinfachung reduziert Komplexität und schafft klare, handhabbare Verhältnisse. Jedoch wird dann leicht die ganze Gesellschaft entlang dieser grundlegenden Konfliktlinie sortiert. Nassehi plädiert für eine "feindlose Demokratie" und fragt schließlich, ob sie gelingen kann:
Vielleicht ist der (neue und alte) weltgeschichtliche Antagonismus der, wie es gelingt, mit Uneindeutigkeit umzugehen: durch Bearbeitung von Diversität (jeglicher Form) oder durch ihre Negierung. Dass all das – in gesellschaftlichen Innenverhältnissen wie in politischen Außenverhältnissen – unter der alten Semantik von "Freunden" und "Feinden" verhandelt wird, ist eine historische Hypothek. Ob aus "Freunden" und "Feinden" schlichte "Differenzen" und "unterschiedliche Unterscheidungen" werden können?
In der Tat gibt es in vielen ethischen Fragen, besonders in denen, die mit Krieg zusammenhängen, nicht die Eindeutigkeit, die wir uns wünschen würden. Uneindeutigkeit aber kann nur dadurch überwunden werden, dass man sich ihr stellt. Das aber bedeutet, die eigene Position zu relativieren und den Wahrheitsanteil in der Gegenposition anzuerkennen. Das kann nur gelingen, wenn der Andersdenkende prinzipiell nicht als kriegstreibender oder zynischer "Feind" betrachtet wird, sondern als ein Mensch, der, wie ich selbst, das Gute will und sucht.
Eine solche tolerante Haltung wird durch einen Glauben unterstützt, der zum einen um die eigene Fehlbarkeit weiß und der zum anderen in der Lage ist, den Gang der Weltgeschichte in die Hände einer guten Macht abzugeben – einer Macht, die weiter blickt und stärker ist, als es Menschen jemals vermögen. Denn wir kämpfen nicht einfach mit Fleisch und Blut, sondern mit der für uns nicht fassbaren Macht der Sünde, die nach der Welt und nach uns selbst greift und derer wir allein nicht Herr werden können (siehe Eph 6,12). Darum bedarf es der Kraft Gottes, um die Sünde zu besiegen – auf dass nicht geschehe, was Friedrich Nietzsche so ausgedrückt hat [10]:
Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.
* * * * *
[1] Sönke Neitzel / Harald Welzer: Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben. S. Fischer Verlag, 2. Aufl. Frankfurt am Main 2012. S. 204.
[2] nach:
- Rolf P. Knierim: Zur Gestalt alttestamentlicher Hamartiologie. In: Sigrid Brand u.a (Hg.): Sünde. Ein unverständlich gewordenes Thema. Neukirchener Verlag, 2. Aufl. Neukirchen-Vlyun 2005. S. 71-114. Dieser Aufsatz auch zu Kapitel 2.
- Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament. Hg. von Ernst Jenni. Christian Kaiser Verlag / Gütersloher Verlagshaus. Band I: Gütersloh 1971. Sp. 243-249. 251-258. 541-549. 583-587. Band II: Gütersloh 1975. Sp. 26-31. 488-495. 794-803. 813-818.
[3] Heike Littger: Lagerfeuer. Mitten durch Freundes- und Feindesland. In: Freund & Feind. Kursbuch 214 (Juni 2023). Hg. von Armin Nassehi u.a. S. 42-51. Die folgenden Zitate auf S. 47f.
[4] nach:
- Herfried Münkler: Was macht den Feind zum Feind? Und was den Freund zum Freund? Eine kleine Typologiereise. In: Kursbuch 214 (s.o. [3]). S. 54.
- Wikipedia: Marseillaise.
[5] Herfried Münkler: Was macht den Feind zum Feind? (s.o. [4]). S. 54.
[6] Zitiert nach: Herfried Münkler: Was macht den Feind zum Feind? (s.o. [4]). S. 56. Dort zitiert nach: Carl von Clausewitz: Vom Kriege. Hg. von Werner Hahlweg. 19. Aufl. Bonn 1980. S. 193.
[7] Zitate aus: Sönke Neitzel / Harald Welzer: Soldaten (s.o. [1]). S. 84f.87.107.126f.135.
[8] Herfried Münkler: Was macht den Feind zum Feind? (s.o. [4]). S. 58f.
[9] Armin Nassehi: Der zivilisierende Staubsauger. Wie man mit Freunden und Feinden leben kann. In: Kursbuch 214 (s.o. [3]). S. 99-112. Das folgende Zitat auf S. 112.
[10] Zitiert nach: Constanze Stelzenmüller: Die Wiederkehr des Feindes. Die Dabatte um einen ukrainischen Kompromissfrieden und die Denklücken der Sicherheitspolitik. In: Kursbuch 214 (s.o. [3]). S. 130. Dort zitiert nach: Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Leipzig 1886. Aphorismus 146. Das Zitat wurde orthographisch angepasst an die neue deutsche Rechtschreibung.
Foto: Engin Akyurt auf Pixabay.
das sind wahrscheinlich konfessionelle und weltanschauliche Unterschiede, aber Sünde hat m. E. sehr viel mit dem freien Willen des Menschen zu tun. Als Soldat im Krieg muss man Befehlen gehorchen, was die persönliche Schuld einschränkt. Bei den Beispielen die Du bringst hätten sich die Soldaten hingegen wahrscheinlich auch anders verhalten können.
Das Milgram-Experiment, in dem Testpersonen andere Menschen scheinbar quälen können oder nicht, zeigt m. E. ganz deutlich die Bedeutung des freien Willens auch in einer Situation des äusseren Zwangs. Auch das Konformitätsexperiment von Asch weist in diese Richtung. Ich habe mal wo gelesen, dass man unter der Extremsituation des Konzentrationslagers entweder "zum Schwein oder zum Engel geworden" ist.
Der andere Aspekt ist dass das Böse, das zur Sünde verleitet, anders als im Krieg, nicht offen sondern getarnt daher kommt (vgl. Mt 13,25) . Etwa die anonyme Sterilität, in der hunderttausende Kinder abgetrieben werden. Die Menschen empfinden es innerlich (=von Gott her) als Unrecht, und dennoch gibt es einen gesellschaftlichen Druck, der dies sogar als Recht einfordert. Die Lyrikerin Eva Strittmatter hat sehr drastisch gegen dieses Tabu angeschrieben (Interruptio): "Und mag auch Gott mir verzeihen / Ich verzeih mir nicht" und zuletzt "Die unsühnbare Sünde / Unterscheidet mich vom Tier".
vielen Dank für deine Ergänzungen. Dass die Sünde sich oft vor uns verbirgt oder sich tarnt, sehe ich auch so. Das ist ein wichtiger Aspekt, den ich in meinem Artikel nicht genannt habe. Zum "Schwangerschaftsabbruch" möchte ich auch schon länger etwas schreiben, bin nur noch nicht dazu gekommen. Ich hoffe, es klappt bald.
Die Experimente, die du nennst, kenne ich auch. Die einen entscheiden sich so, die anderen so. Aber warum? Mit dem freien Willen ist es so eine Sache. Wir stehen alle in Beziehungen, die uns prägen, in Weltsichten, die wir verinnerlicht haben, und in zahlreichen anderen Verstrickungen. Das ist das unauflösliche Gewebe, von dem ich gesprochen habe. Nach Paulus ist die Sünde eine Macht, die uns beherrscht. Der Theologe Klaus Berger nannte sie eine Sucht. Ich denke, dass wir von der Macht der Sünde nur durch die Macht Gottes befreit werden können, dass wir das also nicht selber schaffen. Dass Menschen in bestimmten Situationen der Sünde widerstehen, während andere ihr erliegen, könnte doch eine Befreiungstat Gottes sein - auch an Menschen, die gar nicht an ihn glauben.
Ich bete jedenfalls, dass Gott auch einen gewissen Herrn Putin dazu bewegen möge, von seiner Sünde abzulassen. Und ich denke, dass Gott täglich Menschen vor Sünde bewahrt und zur Liebe hinführt. Sonst sähe es wahrscheinlich noch viel schlimmer in der Welt aus. Natürlich bleibt es immer eine Entscheidung des einzelnen Menschen, ob er Gottes Macht in sich wirken lässt oder sich ihr verschließt. Aber dass er sich ohne Gottes Macht von der Sünde befreien kann, glaube ich nicht.
was ich gelesen habe ist die jüdische Vorstellung die, dass der Mensch einen freien Willen hat und sowohl die Veranlagung zum Bösen (yetzer hara) als auch die Veranlagung zum Guten (yetzer hatov) besitzt. In Verbindung mit dem im Artikel genannten ra-a oder mit hara taucht dann nisayon (Test, Probe, Versuchung) auf. In hebräischen Übersetzungen des Vaterunser habe ich letzteres auch gesehen und mir eingeprägt.
Wie man sich zwischen Gut und Böse entscheidet kenne ich unterschiedliche Vorstellungen. Einer indianischen Legende zufolge hat der Mensch zwei Wölfe in sich, einen guten und einen bösen. Und jener Wolf wird sich durchsetzen, den man mehr füttert. Auch wenn es nicht christlich ist, so hat es wohl etwas Wahrheit. Eine Fundgrube ist für mich auch die Rede Benedikts XVI. vor dem Bundestag, wo er u. a. einer Rechtstheorie nachgeht, derzufolge Gott seinen guten Willen zuerst in die Schöpfung gelegt hat. Yetzer hatov oder der gute Wolf wäre also ursprünglich im Vorteil. Ich meine aus persönlicher Erfahrung etwa dass der Mensch eine natürliche Hemmung besitzt, allem was zwei Augen besitzt (Mensch, Katze, Hase, ...) zu schaden. Dass Gott uns auch unmittelbar bei der Entscheidung zwischen Gut und Böse hilft, davon bin ich auch fest überzeugt (siehe 2. Link).
(Links: https://www.bundestag.de/parlament/geschichte/gastredner/benedict/rede-250244 https://www.hebrew4christians.com/Blessings/Daily_Blessings/Yetzer/yetzer.html )
du sprichst viele interessante Fragen an. Mit dem Naturrecht hatte ich immer Schwierigkeiten, weil ich denke, dass man aus der Natur alles Mögliche ableiten kann, und so ist es auch in der Geschichte oft gewesen. Ich sehe auch nicht, dass jeder Mensch aus der Natur dieselben ethischen Konsequenzen zieht - wenn man nur daran denkt, was Menschen gerade heute in der industrialisierten Landwirtschaft den Tieren mit zwei Augen antun und das für völlig berechtigt halten.
Die Frage, ob der Mensch eine Veranlagung zu Guten und zum Bösen in sich hat und ob beim Tun des Guten Gott und Mensch zusammenwirken, ist wohl schon so alt wie das Christentum. Martin Luther war bekanntlich der Ansicht, dass der Mensch entweder von Gott oder vom Teufel geritten wird und dass er selber nicht darüber entscheiden kann, wer ihn reitet. Das Judentum geht von einer freien Entscheidungsfähigkeit des Menschen aus, und es gab auch immer christliche Strömungen, die das taten. Die Frage ist also, welchen Anteil an unseren Entscheidungen Gott hat und welchen Anteil wir selbst.
Paulus geht davon ausgeht, dass kein Mensch Gutes tut und dass es keinen Grund gibt, uns vor Gott zur rühmen. Schon Jesus sagte, dass nur einer gut ist, nämlich Gott. Im Alten Testament lese ich, dass das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens böse ist von Jugend an. Daraus ziehe ich den Schluss, dass es dem Menschen nicht möglich ist, sich von sich aus zum Guten zu entscheiden, sondern dass er von Gott bzw. seinem Geist dazu getrieben wird. Allerdings ist es dem Menschen möglich, den Geist zu betrüben und zu dämpfen, also nicht zur Wirkung kommen zu lassen.
Ich stelle mir den Menschen wie einen Bettler vor, der am Verhungern ist und das rettende Brot gereicht bekommt. Nun kann er es eigentlich nur dankbar annehmen. Aber das Unglaubliche geschieht: Der Mensch lehnt es ab. Wenn man so will, ist das seine "Entscheidung". Ich würde eher sagen: Es ist das Unbegreifliche, Irrationale, vollkommen Verirrte. Und wenn ein Mensch das rettende Brot annimmt, würde ich sagen: Das ist das Selbstverständliche, Normale, der lebendige Impuls. Beides ist für mich keine abwägende Entscheidung, die ein Mensch, nachdem er darüber nachgedacht hat, trifft, sondern es ist für mich entweder das spontane, selbstverständliche Annehmen oder das verirrte, unnormale Ablehnen. Auf diese Weise halte ich den Anteil des Menschen so klein wie möglich und den Anteil Gottes so groß wie möglich.
"Lasst euch versöhnen mit Gott", rief Paulus. Wir können nur zulassen, was Gott in uns legt, können seinen Geist wirken lassen, wie ein Bettler sich das Leben schenken lässt - das ist aber keine "freie Tat" unsererseits, sondern das Selbstverständliche, Spontane, Lebenrettende, das man natürlich tut, wenn einem das Leben geschenkt wird. Wir können aber meiner Meinung nach nicht von uns aus der Versöhnung zustimmen. Denn dann hätten wir einen Grund, uns vor Gott zu rühmen und unser Recht auf das Heil einzufordern. Und das lehnt Paulus entschieden ab. Aber darin unterscheiden wir uns sicher nicht.
Jesus sagt aber auch (Mt. 7,11) "Wenn nun schon ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gebt, was gut ist, wie viel mehr wird euer Vater im Himmel denen Gutes geben, die ihn bitten." Dabei geht er meiner Meinung nach schon von einem naturrechtlichen Vorverständnis bei seinen Hörern aus, dass man seinen eigenen Kindern nicht schadet und sogar Gutes tut, selbst wenn man böse ist (traurig genug, dass nicht mal das in unserer Gesellschaft noch selbstverständlich ist). Selbst wenn man alle Ethik, Naturrecht und Religion ablehnt, meine ich dennoch, dass ein Mensch eher einen inneren Impuls zum Guten spürt, mindestens eine ursprüngliche Voreingenommenheit dahingehend, ehe er von was auch immer verführt oder indoktriniert wird.
Bei dem Bettler vor Gott dachte ich an Deinen neulichen Beitrag über die Seligpreisung der Armen. Eigentlich könnte man das griechische Wort für Armen auch als Bettler übersetzen. Dann wären diejenigen, die um den Geist betteln, die Seligen. Weshalb ein Mensch das Brot ablehnt, das ihm hingehalten wird: ich vermute es geschieht -- in unserer Gesellschaft oft aus Gleichgültigkeit. Wie in einer Betäubung kann es sein, dass man selbst das Leben gar nicht mehr will. Die bunte digitale Glitzerwelt tut ihr Übriges, weil sie das eigene (analoge) Leben völlig wertlos erscheinen lassen kann.
Den Anteil des Menschen klein halten, den Anteil Gottes so groß wie möglich: es hört sich zuerst sehr demütig an, aber gilt es dann auch für die Sünde? Welchen Anteil hat ein Mensch dann an seiner persönlichen Schuld?
danke für dein Zitat von Mt 7,11, das mir zu Denken gegeben hat. Das Bösesein der Menschen wird in dem Satz festgehalten, aber es schließt nicht aus, dass sie auch Gutes tun können. Man könnte noch Vers 12 hinzunehmen: Die Menschen wissen deshalb um das Gute, weil sie wollen, dass andere ihnen Gutes tun. Sie erfahren im täglichen Miteinander mit anderen Gutes, und wenn sie sich darauf besinnen, muss ihnen auch klar werden, worin das Gute besteht.
Insofern weiß jeder Mensch "irgendwie" um das Gute. Ob das darin gründet, dass das Gute von Natur aus in ihm ist oder dass es ihm in seinem Leben von Beginn an durch andere begegnet, ist dann vielleicht gar nicht mehr so entscheidend. Ich würde eher der zweiten These zustimmen.
Eine naturrechtliche Ethik bedeutet, dass man das Gute aus den Gegebenheiten der Natur ableitet. Eine solche Ableitung ist schon oft missbraucht worden. Man kann zum Beispiel die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk oder einer "Rasse" als naturgegeben ansehen und daraus für den Volksangehörigen die Vorrangstellung dieses Volkes oder dieser "Rasse" gegenüber allen anderen Völkern oder "Rassen" ableiten.
Im Deutschland der 20er und 30er Jahre des letzten Jahrhunderts ging man biologisch von verschiedenen menschlichen Rassen aus, die durch die Vernunft erkannt und voneinander unterschieden werden können. Man hat damals einer Vernunfterkenntnis den Rang einer theologischen Offenbarung zugeschrieben und daraus die bekannten schlimmen Schlüsse gezogen. Heute ist der Rassebegriff in der Anthropologie sehr umstritten, weil bestimmte Merkmale wie Haut- und Haarfarbe oder Größe der Lippen herausgegriffen werden, um daraus eine Kategorisierung zu entwickeln. Die genetischen Unterschiede innerhalb einer "Rasse" können jedoch weit größer sein als die zwischen Populationen, die üblicherweise verschiedenen "Rassen" zugerechnet werden. Ich will damit nur zeigen, wie willkürlich aus scheinbar natürlichen Gegebenheiten ethische Folgerungen gezogen werden können.
Was du über die "Betäubung" und die "bunte digitale Glitzerwelt" schreibst, die möglicherweise dazu führen, "dass man selbst das Leben gar nicht mehr will", kann ich nur unterstützen. Wer innerlich schon tot ist, kann das Leben nicht mehr schätzen. Das ist ein harter Satz, und ich denke, dass jeder Mensch noch einen Funken Leben in sich trägt, auch wenn er sich noch so stark betäubt oder verirrt ist, aber man kann manchmal schon das Gefühl bekommen, dass ein Menschenleben nicht viel wert ist. Das war aber in früheren Zeiten auch nicht besser, wahrscheinlich sogar oft noch schlimmer als heute.
Wenn ich gesagt habe, dass ich den Anteil Gottes so groß und den des Menschen so klein wie möglich halten möchte, dann meinte ich den Anteil am Tun des Guten, am Annehmen des Geschenks aus Gottes Hand - so wie ein Bettler rein intuitiv nach dem Brot greift, das ihm gereicht wird. Gott ist aktiv, streckt den Arm aus und reicht ihm das Brot, der Mensch aber handelt nur aus Intuition oder spontanem Lebenswillen. Das Brot abzulehnen ist aber allein Anteil des Menschen, weil es keine intuitive oder spontane Handlung ist, sondern eine völlig irrationale und selbstzerstörerische. Wenn man will, kann man vielleicht auch das als fehlgeleitete Intuition verstehen. Jedes Beispiel hinkt, auch das des Bettlers. Es geht mir nur darum festzuhalten, dass "das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens böse ist von Jugend auf" (Gen 8,21; vgl. 6,5) und dass das Gute, das der Mensch tut, ihm von dem einen Guten (Mt 19,17 u.ö.) geschenkt ist. Das würde dann auch bedeuten, dass wir nicht die freie Wahl zwischen Gutem und Bösem haben, sondern aus eigener Kraft nur das Böse wählen können. "Da ist keiner, der Gutes tut, auch nicht einer" (Röm 3,12). Und Paulus fragt: "Weißt du nicht, dass Gottes Güte dich zur Buße (= Umkehr) leitet?" Die menschliche Schuld besteht dann eben darin, dass er dieses Angebot Gottes, ihn zur Umkehr im Denken, Fühlen und Handeln zu leiten, nicht annimmt.
Dennoch muss ich an Mt 7,11 festhalten, dass auch die Bösen Gutes tun können und ja tatsächlich auch tun. Ich würde dann sagen: Sie tun es aus der Kraft Gottes heraus, die er ihnen geschenkt hat. Oder man kann vielleicht auch so formulieren: Gott lässt es nicht zu, dass die Fähigkeit zum Guten vollkommen aus seinen Geschöpfen verschwindet. So bewahrt er seine Schöpfung vor dem Schlimmsten und erhält ihre Existenz. Denn ohne das viele Gute, das täglich geschieht, gäbe es die Welt wohl schon nicht mehr.