Solidarität mit Israel und Palästinensern?
Bemerkenswerte Stimmen und biblische Aspekte
Klaus Straßburg | 17/11/23
Bei dem brutalen Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober wurden mindestens 1.400 Jüdinnen und Juden gefoltert und getötet, 4.100 verletzt und rund 250 entführt [1]. Seitdem wird Israel von ranghohen deutschen Politikerinnen und Politikern immer wieder die unverbrüchliche Solidarität der Bundesrepublik Deutschland zugesagt. In einem gemeinsamen Entschließungsantrag von CDU/CSU, SPD, Grünen und FDP verurteilte der Bundestag den Terror der Hamas und forderte die Bundesregierung auf, Israel "volle Unterstützung und jedwede Solidarität zu gewähren" [2].
Ich denke, jeder, der mit den betroffenen jüdischen Zivilisten mitfühlt, wird diese Solidarität für berechtigt halten. Jedes Volk, das auf grausame Weise angegriffen oder terrorisiert wird, sollte unserer Verbundenheit und tatkräftigen Unterstützung versichert werden. Genau das meint der Begriff "Solidarität": eine Haltung der Verbundenheit und des Zusammenhalts, eine prinzipielle Übereinstimmung sowie konkrete Unterstützung und helfendes Eintreten für die Angegriffenen [3].
Jüdinnen und Juden bedürfen dieser Unterstützung in besonderer Weise, da sie durch ihre Geschichte hindurch oft antisemitischen Strömungen ausgesetzt und als Gipfel der Perversion dem Vernichtungsterror des Hitlerregimes ausgeliefert waren. Gerade Deutschland steht deshalb bei Israel in der Schuld. Auch die Nachgeborenen, die keine persönliche Verantwortung für die Taten der Nationalsozialisten trifft, können sich nicht einfach der Geschichte ihres Landes entziehen. Denn weil sie von dem profitieren, was ihre Vorfahren für sie erarbeitet haben, können sie das, was ihre Vorfahren verbrochen haben, nicht einfach abschütteln, als hätten sie damit nichts zu tun.
Doch die Solidarität mit Israel ist auch in der Bundesrepublik Deutschland umstritten. Nicht nur hier lebende palästinensische und muslimische Menschen, sondern auch Deutsche plädieren und demonstrieren für eine Solidarität mit den Palästinensern, die – so die Meinung – unter der israelischen Politik seit Jahrzehnten leiden.
Wie ist es also um die Solidarität mit Israel bestellt? Wie weit muss sie oder darf sie gehen? Hat sie eine Grenze? Schließt Solidarität mit Juden die Solidarität mit Palästinensern aus? Ich möchte, um diese Fragen zu beantworten, zunächst einen Blick auf die biblischen Aussagen über das besondere, in biblischer Sicht sogar einmalige Volk Israel werfen. Anschließend werde ich, einige gegenwärtige Stimmen aufnehmend, den aktuellen Krieg in Gaza beleuchten.
1. Gottes erwähltes Volk
Im Alten Testament wird immer wieder festgestellt, dass Gott sich das Volk Israel zum Volk seines Eigentums erwählt hat [4]. So heißt es zum Beispiel in 5. Mose/Deuteronomium 7,6-11:
(6) Du bist ein heiliges Volk dem Herrn, deinem Gott. Dich hat der Herr, dein Gott, erwählt zum Volk des Eigentums aus allen Völkern, die auf Erden sind.
(7) Nicht hat euch der Herr angenommen und euch erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völker – denn du bist das kleinste unter allen Völkern –,
(8) sondern weil er euch geliebt hat und damit er seinen Eid hielte, den er euren Vätern geschworen hat. Darum hat der Herr euch herausgeführt mit mächtiger Hand und hat dich erlöst von der Knechtschaft, aus der Hand des Pharao, des Königs von Ägypten.
(9) So sollst du nun wissen, dass der Herr, dein Gott, allein Gott ist, der treue Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit bis ins tausendste Glied hält denen, die ihn lieben und seine Gebote halten,
(10) und vergilt ins Angesicht denen, die ihn hassen, und bringt sie um und säumt nicht, zu vergelten ins Angesicht denen, die ihn hassen.
(11) So halte nun die Gebote und Gesetze und Rechte, die ich dir heute gebiete, dass du danach tust.
Die Formulierung, dass Gott sich Israel zum "Volk des Eigentums" erwählt hat (Vers 6), mag uns merkwürdig vorkommen. Der Kontext zeigt, dass es beim Volk Israel nicht um eine Sache geht, die sich Gott genommen hat, um mit ihr nach Gutdünken zu verfahren, sondern vielmehr um eine Liebesbeziehung (Vers 7f). Gott hat Israel geliebt und deshalb aus der Sklaverei in Ägypten befreit (Vers 8).
Ein anderer Begriff für Gottes einzigartige Beziehung zu Israel ist der Bund, den Gott mit diesem Volk geschlossen hat (Vers 9). Der Bund ist kein Vertrag, den zwei gleichberechtigte Partner miteinander schließen. Vielmehr hat Gott diesen Bund gestiftet, er ist der Initiator dieses Bundes. Er bleibt diesem Bund durch alle Wechselfälle des Lebens hindurch treu, denn es ist ein "ewiger Bund" (1Mo/Gen 17,7). Und Israel ist gehalten, diesem Bund entsprechend zu leben (Vers 11).
Zur Gabe des Bundes gehört die Gabe eines eigenen Landes, in dem Israel leben kann. Das wird deutlich in 2. Mose/Exodus 6,4.7f:
(4) Ich habe meinen Bund mit ihnen aufgerichtet, dass ich ihnen geben will das Land Kanaan, das Land, in dem sie Fremdlinge gewesen sind. [...]
(7) Ich will euch annehmen zu meinem Volk und will euer Gott sein, dass ihr's erfahren sollt, dass ich der Herr bin, euer Gott, der euch wegführt von den Lasten, die euch die Ägypter auflegen.
(8) Und ich will euch in das Land bringen, über das ich meine Hand zum Schwur erhoben habe, dass ich's geben will Abraham, Isaak und Jakob; das will ich euch zu eigen geben. Ich bin der Herr.
Gott hat sein Volk aus der Sklaverei befreit, damit es fortan nicht mehr unter Fremdherrschaft leben muss, sondern sein eigenes Land hat, in dem es in Freiheit leben kann. Doch ist dieses Land, wie die ganze Welt (Ps 24,1), letztlich Gottes Eigentum. Er hat Israel das Land sozusagen zum treuhänderischen Besitz übergeben (3Mo/Lev 25,23):
Das Land gehört mir, und ihr seid Fremde und Gäste bei mir.
Im Land Gottes ein "Fremder" zu sein, ist etwas vollkommen anderes, als im Land Ägypten fremd zu sein. Denn von Gott wird man nicht unterdrückt, sondern befreit. Man ist, auch wenn man Gott fremd ist, ein willkommener Gast in seinem Land.
Das Alte Testament schildert die Gabe des Landes so, dass Israel, noch bevor es ins Land einzieht, auf das Halten der Gebote Gottes verpflichtet wird. Der Besitz des Landes wird geradezu vom Halten der Gebote abhängig gemacht. Sollte Israel sich von Gott und seinen Geboten abwenden, dann wird es das Land verlieren (5Mo/Dtn 4,1.25f).
Tatsächlich haben die alttestamentlichen Propheten später herbe Kritik an Israel geübt. Dabei ging es einerseits darum, keine weiteren Götter neben dem Gott Israels anzubeten. Andererseits verurteilten die Propheten die Ungerechtigkeit, die im Land herrschte: Die Armen wurden unterdrückt und ausgebeutet von den wirtschaftlich Überlegenen (Am 2,6f; 5,10-12; 8,4-6). Gerechtigkeit soll dabei auch den im Land wohnenden Fremden widerfahren (Jer 7,6f). Konkret beklagt beispielsweise der Prophet Jesaja (Jes 5,8; ähnlich Mi 2,2):
Weh denen, die Haus an Haus reihen und Acker an Acker rücken, bis kein Platz mehr ist und ihr allein Besitzer seid mitten im Lande!
Man könnte die Erwählung Israels mit Bezug auf unser Thema der Solidarität so zusammenfassen:
- Gott ist der Erste, Verlässlichste und Hilfreichste, der absolut solidarisch mit Israel ist und bleibt.
- Zu Gottes Solidarität gehört Israels Befreiung aus der Sklaverei und die Gabe eines eigenen Landes.
- Gott garantiert Israel ein bleibendes Existenzrecht.
- Gott fordert Israel auf, Gerechtigkeit gegenüber jedermann walten zu lassen und so seiner Solidarität zu entsprechen.
2. Israelkritik und Antisemitismus
Die gegenwärtige Diskussion dreht sich vielfach um Antisemitismus. Manchmal wird Israelkritik fälschlicherweise mit Antisemitismus gleichgesetzt. Aber Solidarität mit Israel und Israelkritik schließen sich nicht aus – so wenig, wie sich die Liebe zu einem anderen Menschen und die Kritik an ihm nicht ausschließen. Kritik kann vielmehr dem anderen Menschen dienen, da wir alle der Korrektur bedürfen.
Das ist bei Staaten nicht anders. Darum gebietet Solidarität mit Israel, mögliche Fehlentwicklungen anzusprechen und gemeinsam nach Alternativen zu suchen. Wenn die rechtsnationale Regierung Israels die Zwei-Staaten-Lösung ablehnt, wenn die Siedlerbewegung den Palästinensern das Land raubt, wenn die Menschenrechte der Palästinenser nicht gewahrt bleiben, dann ist das kritikwürdig. Denn Israel, das ein unverbrüchliches Existenzrecht hat und damit auch das Recht auf einen eigenen Staat, ist als Gottes auserwähltes Volk in besonderer Weise zum Halten der göttlichen Gebote und zur Wahrung von Recht und Gerechtigkeit angehalten.
Wäre Israelkritik Antisemitismus, dann wären die alttestamentlichen Propheten, die im Namen Gottes Israel kritisiert haben, Antisemiten gewesen. Das anzunehmen ist absurd.
Kritik an der israelischen Politik stellt also nicht Israels Existenzrecht in Frage. Sie ruft auch nicht zur Israelfeindschaft auf. Manchmal wird argumentiert, dass Israelkritik in der jetzigen, emotional aufgeladenen Situation Antisemitismus bei anderen befördere. Das ist zu vermeiden, indem deutlich für das Existenzrecht Israels und gegen jede Israelfeindschaft eingetreten wird. Es könnte jedoch auch sein, dass gerade die Kritik an jeder Israelkritik den Antisemitismus nicht vermeidet, sondern im Gegenteil steigert. Denn wenn jede Kritik, an wem auch immer, gesellschaftlich sanktioniert wird, werden diejenigen, die diese Kritik äußern wollen, erst recht ein Feindbild entwickeln.
Vizekanzler Robert Habeck hat in seiner denkwürdigen Online-Rede vom 2. November zum Thema gesagt [5]:
Ich machte klar, dass bei uns Kritik an Israel natürlich erlaubt ist. Und dass es eben nicht verboten ist, für die Rechte der Palästinenserinnen und Palästinenser und auch ihr Recht auf einen eigenen Staat einzutreten. Aber der Aufruf zur Gewalt gegen Juden oder das Feiern der Gewalt gegen Juden, die sind verboten – und zwar zu Recht! [...] Der Tod und das Leid, das jetzt über die Menschen im Gazastreifen kommt, sind schlimm. Das zu sagen, ist so notwendig wie legitim. Systematische Gewalt gegen Jüdinnen und Juden aber kann damit dennoch nicht legitimiert werden. Antisemitismus kann damit nicht gerechtfertigt werden. Natürlich muss sich Israel an das Völkerrecht und internationale Standards halten. Aber der Unterschied ist: Wer würde solche Erwartungen je an die Hamas formulieren?
Hier ist klar zwischen Antisemitismus und Israelkritik unterschieden. Und es ist angedeutet, dass Solidarität mit Israel Solidarität mit den Palästinensern nicht ausschließt. Wohl aber ist Antisemitismus, ist Israelhass, ist Gewalt gegen Jüdinnen und Juden und der Aufruf dazu sowie der Jubel darüber ausgeschlossen. Und wenn Habeck fragt, wer entsprechende Erwartungen an die Hamas formulieren würde, dann kann ich nur sagen, dass Gottes Gebote auch für die Hamas gelten und die Einhaltung dieser Gebote deshalb von ihr eingefordert werden muss – auch wenn man damit wohl kaum auf offene Ohren bei der Hamas stoßen wird.
3. Der historische Kontext
Der aktuelle emotional aufgeladene Streit geht auch darum, ob und wieweit der historische Kontext für Handlungen der einen oder der anderen Seite herangezogen werden darf. Darf man die brutale Terroraktion der Hamas vom 7. Oktober in einen historischen Kontext einordnen? Ist andererseits die Reaktion Israels durch den Kontext, nämlich den Terrorangriff der Hamas, gerechtfertigt?
Die jüdische Schriftstellerin amerikanisch-deutscher Herkunft Deborah Feldman hat in der Sendung "Markus Lanz" vom 1. November ein beeindruckendes Statement abgegeben und mit Blick auf die Angriffe der Hamas vom 7. Oktober gesagt [6]:
Es gab eine sehr emotionale Diskussion, nachdem wir über diese Angriffe erfahren haben, und es wurde immer wieder wiederholt: Es gibt keinen Kontext, keine Rechtfertigung, keine Erklärung für diese Gewalt. Im selben Atemzug sagen wir: Es gibt einen Kontext für die Gewalt gegen Palästinenser. Wir können nicht auf beiden Hochzeiten tanzen. Entweder gibt es keine Rechtfertigung der Gewalt gegenüber allen unschuldigen Zivilisten, oder wir müssen dann anfangen, über Kontext immer zu reden.
Feldman fordert, entweder immer über den historischen Kontext politischer Aktionen zu reden oder jede Gewalt gegenüber Zivilisten abzulehnen. Mir scheint es keine Frage zu sein, dass jede menschliche Aktion in Zusammenhang mit anderen vorangegangenen Aktionen steht. Insofern hat sie immer einen historischen Kontext. Die Auseinandersetzung dreht sich allerdings darum, ob der historische Kontext Gewalt gegen Zivilisten durch die eine oder andere Seite rechtfertigt. Diejenigen, die im Blick auf den Hamas-Angriff jede Heranziehung eines historischen Kontexts ablehnen, wollen vermeiden, dass dadurch der Angriff gerechtfertigt wird. Und diejenigen, die die Ursache für den Hamas-Angriff in der vorangegangenen Gewalt Israels gegen die Palästinenser sehen, wollen diesen Angriff dadurch rechtfertigen. Dasselbe gilt für die militärische Reaktion Israels im Gaza-Streifen, die durch den Hamas-Angriff gerechtfertigt werden soll – oder eben nicht.
Man kann es auch anders ausdrücken: Jede Seite behauptet für sich, sich doch nur gegen die vorangegangene Gewalt der anderen Seite zu verteidigen. Es ist wie in jedem Krieg: Alle Seiten führen ihn angeblich nur, um sich zu verteidigen. So simpel ist Weltgeschichte.
Wenn man dieser Vereinfachung ausweichen will, muss man darauf hinweisen, dass beide Seiten in dem jahrzehntelangen Konflikt Schuld auf sich geladen haben. Wer diese – auch theologische – Einsicht ablehnt, verfällt einer Ideologisierung. Zugleich ist festzuhalten, dass die Schuld der jeweils anderen Seite theologisch keine Rechtfertigung für eigenes schuldhaftes Verhalten sein kann, sondern nur ein Ruf zur Umkehr an beide Seiten.
Auch Robert Habeck hat in seiner Stellungnahme auf die Gewalt Israels hingewiesen [5]:
Ja, das Leben in Gaza ist Leben in Perspektivlosigkeit und Armut. Ja, die Siedlerbewegung in der Westbank schürt Unfrieden und nimmt Palästinensern Hoffnung und Rechte – und zunehmend auch Leben. Und das Leid der Zivilbevölkerung jetzt im Krieg ist eine Tatsache, eine fürchterliche Tatsache. Jedes tote Kind ist eines zu viel.
Wie bereits dargestellt, lehnt Habeck zu recht jeden aus der elenden Situation der Palästinenser sich ableitenden Antisemitismus und jede Gewalt gegen Israel ab. Seine Solidarität mit Israel führt aber nicht zu einer Blickverengung, die das Leid des palästinensischen Volkes gar nicht mehr wahrnimmt oder an diesem Leid nicht Anteil nehmen will. Jedes menschliche Leben hat dasselbe Lebensrecht. Kein Volk hat das Recht, ein anderes zu unterdrücken oder ihm Leid zuzufügen.
Darum wird im Alten Testament das Eigentumsvolk Gottes, das Volk Israel, immer wieder aufgefordert, die im Land lebenden Fremden nicht zu unterdrücken. Gerade das auserwählte Volk steht in der besonderen Verantwortung, Gottes Lebenswillen für alle Völker zu verwirklichen – so wie auch Christinnen und Christen in der besonderen Verantwortung stehen, Gottes Liebe zu allen Menschen ohne Unterschied in ihrer Lebenspraxis umzusetzen. Echte Solidarität mit dem Volk Israel fordert darum geradezu Solidarität auch mit dem Leid des palästinensischen Volks.
Um einmal ein Stück weit zu konkretisieren, worum es dabei geht: Bis zum 7. November wurden in Gaza offenbar 10.569 Menschen durch die israelischen Angriffe getötet. 67 Prozent davon sind Frauen und Kinder. Außerdem wurden 220.000 Wohngebäude teilweise oder ganz zerstört sowie 120 Krankenstationen, 278 Schulen, 68 Moscheen und 3 Kirchen [7].
Die Zahlen stammen vom Gesundheitsministerium von Gaza, das von der Hamas geleitet wird. Sie sind deshalb mit Vorsicht zu genießen. Die UN hält die Zahlen des Gesundheitsministeriums allerdings für glaubwürdig, weil dessen Zahlen aus früheren Konflikten überprüft wurden und sich als zutreffend erwiesen haben [8]. Auch von internationalen Experten werden die Zahlen deshalb als relativ verlässlich eingestuft [9]. Die Zahlen sind demnach nicht hundertprozentig richtig, aber doch relativ glaubwürdig. Sie müssen dennoch differenziert betrachtet werden. Zum Beispiel "zählt jeder Tote unter 18 Jahre als Kind, ungeachtet dessen, dass die Hamas auch Minderjährige rekrutiert" [10].
Der Vergleich von Opferzahlen ist immer eine höchst fragliche Sache, weil jedes Opfer, jeder getötete oder verkrüppelte Mensch einer zu viel ist. Dennoch werfen die rund zehntausend (oder seien es auch nur acht- oder neuntausend) Palästinenser, die durch das israelische Militär getötet wurden, vor allem Frauen und Kinder, eine Frage auf: die Frage, ob diese vielen Opfer wirklich "nötig" waren und ob die Verhältnismäßigkeit gegenüber den etwa 1.400 durch den Hamas-Angriff Getöteten gewahrt ist.
Und es stellt sich die Frage, wie ein Ende der Gewalt möglich sein soll, wenn der Kreislauf der jeweiligen Vergeltungsschläge nicht irgendwann einmal durchbrochen wird.
4. Die Gewaltspirale
Die Hamas ist eine Terrororganisation, der Menschenleben offenbar nichts wert sind – wahrscheinlich auch das eigene Leben nicht (siehe den Artikel Warum ich das Leben liebe). Die Hamas hat Israel angegriffen und Menschen brutal getötet, gefoltert und als Geiseln genommen. Sie schreckt auch nicht davor zurück, ihre eigene Bevölkerung als Schutzschild zu missbrauchen.
Israel hat das Recht, die militärischen Strukturen der Hamas zu zerstören. Nur darum kann es gehen, nicht darum, die Hamas zu zerschlagen, wie jetzt oft gesagt wird. Denn eine Ideologie kann man nicht mit Gewalt zerschlagen, weil sie dadurch nur gestärkt wird und in den Köpfen unzähliger Menschen weiterlebt.
Es ist gut, dass Israel den palästinensischen Zivilisten die Flucht in den Süden des Gazastreifens ermöglicht. Das könnte darauf hinweisen, dass es Israel nicht um die Tötung von Zivilisten geht. Andererseits wird der Tod vieler Zivilisten durch die Angriffe des israelischen Militärs auf die Infrastruktur der Hamas in Kauf genommen. Die Hamas ist daran mitschuldig, was aber für ihre Anhänger offenbar kein Problem ist.
Beide Seiten stehen sich unversöhnlich gegenüber: Die Hamas will die Zerstörung Israels, Israel will die Zerstörung der Hamas. Es lässt sich nahezu täglich beobachten, wie dieser Krieg den Hass der Anhänger auf beiden Seiten schürt. Wie soll so ein Ende der Gewalt möglich werden?
Deborah Feldman hat diese Frage aufgegriffen [11]:
Es gibt eine erhebliche Stimme in der israelischen Gesellschaft und in der Diaspora, die nach einem Ende der Gewaltspirale schreit. Ich bin eine dieser Stimmen. Ich habe vor zehn Tagen einen Brief zugeschickt bekommen von einem amerikanischen Akademiker, der in Deutschland wohnt. Viele jüdische Künstler, Intellektuelle, Schriftsteller, Akademiker, Wissenschaftler haben diesen Brief unterschrieben. In diesem plädieren sie dafür, Menschen aufgrund ihrer palästinensischen Identität, aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Geschichten nicht zu verdammen und nicht in einem Bild des Fremden und des Bedrohlichen aufzulösen. [...] Ich bin der festen Überzeugung, dass es nur eine einzige legitime Lehre des Holocaust gibt, und das ist die absolute, bedingungslose Verteidigung der Menschenrechte für alle. Punkt. [...] Ich werde die Palästinenser nicht hassen. [...] Und ich bitte Sie und ich bitte die Menschen in diesem Land, ich bitte die Politiker, die in diesem Land das Sagen haben: Bitte heben Sie die Stimmen dieser Menschen hervor, es ist womöglich unsere allerletzte Chance umzulenken. Wenn diese Eskalation der Gewalt nicht jetzt zu beenden ist, erleben wir möglicherweise eine dramatische, gefährliche Änderung in der Welt und in unserer Gesellschaft, die wir vielleicht nicht mehr in den Griff kriegen. Ich fürchte mich vor dem Zivilisationsbruch, weil: Wir reden so lange über die Werte, über die wir uns angeblich geeinigt haben seit dem Zweiten Weltkrieg, aber inzwischen sind wir nicht mehr so gut darin, es zu verstecken, dass wir diese Werte nur selektiv einsetzen.
Feldman fordert ein Ende der Gewaltspirale. Das heißt konkret: Eine der beiden Seiten muss aufhören mit der Gewalt. Wenn die Hamas es nicht tut, dann sollte Israel es tun. Aufhören mit der Gewalt heißt auch: aufhören mit der Verdammung des Feindes, mit seiner Verteufelung, mit dem Hass. Es heißt, dass die Menschenrechte für alle gelten und dass darum auch das Leid der palästinensischen Zivilisten unsere Anteilnahme verdient. Jeder Mensch hat ein Lebensrecht. Wenn wir uns nur für das Lebensrecht einer bestimmten Gruppe einsetzen, werden wir mit unseren in der Politik gerade viel zitierten Werten unglaubwürdig – was mit den sogenannten westlichen Werten ja auch gerade geschieht.
Natürlich muss auch Israel das Lebensrecht seiner Bevölkerung sichern. Das israelische Territorium muss also gegen einen erneuten Angriff der Hamas gesichert werden. Ich bin kein Militärexperte, aber ich denke, das wäre auch ohne eine Bombardierung des Gaza-Streifens möglich. Und ich könnte mir vorstellen, dass der Schaden durch Raketen, die aus dem Gaza-Streifen heraus abgefeuert werden, durch eine intensivierte Raketenabwehr zumindest eingedämmt werden könnte.
Wenn außerdem Israel den Palästinensern – nicht der Hamas – politisch entgegenkommen würde, könnte das der arabischen Welt zeigen, dass Israel das Lebensrecht der Palästinenser ernst nimmt. Eine politische Kehrtwendung hin zu einer Zwei-Staaten-Lösung könnte eventuell der Hamas die ideologische Grundlage entziehen. Diese Kehrwendung ist aber von der gegenwärtigen Regierung, die Feldman "rechtsnational" nennt, nicht zu erwarten. Eine Garantie für das Gelingen solcher Versuche gibt es auch nicht. Aber die Rettung tausender Menschenleben wäre es wert, dass solche Versuche unternommen werden.
Mir ist es in der gegenwärtigen Situation vollkommen fremd, dass auf Demonstrationen in Deutschland immer nur für eine der beiden Seiten Solidarität bekundet wird. Ich konnte deshalb noch an keiner dieser Demonstrationen teilnehmen. Warum gibt es eigentlich keine Demonstration, in der man sich solidarisch mit den Leiden beider Völker zeigt? Ist ein israelischer Mensch, ein israelisches Kind weniger wert als ein palästinensisches – und umgekehrt? Vom christlichen Glauben her jedenfalls nicht.
5. Gibt es einen Weg zum Frieden?
Wie kein zweiter Konflikt zeigt dieser, der schon Jahrzehnte andauert, dass Gewalt Hass erzeugt und Hass neue Gewalt. Die Gewaltspirale schaukelt sich hoch, offensichtlich ohne Ende. Immer wieder Gewalt anzuwenden, Schuld auf sich zu laden, hilft letztlich keiner Seite. Der Konflikt wird dadurch fortgesetzt und erzeugt immer neues Leid.
Wenn man versucht, Konflikte mit militärischer Gewalt zu lösen, besteht die große Gefahr, dass die Konflikte nicht bereinigt werden, sondern früher oder später wiederkehren. Die alttestamentliche Weisheitsliteratur wusste darum und hat es im Bild des Säens und Erntens ausgedrückt:
Soviel ich gesehen habe: Die Unrecht pflügen
und Unheil säen, ernten es auch.
(Hi 4,8)
Wer Unrecht sät, der erntet Unheil,
und der Stock seiner Überheblichkeit bricht entzwei.
Wer gütig blickt, der wird gesegnet,
denn er gibt dem Bedürftigen von seinem Brot.
(Spr 22,8f)
Bezieht man diese Worte auf den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern, dann bedeuten sie: Wer Gewalt übt, wird Gewalt erfahren. Die jahrzehntelange Geschichte dieses Konflikts belegt die Wahrheit dieses Satzes. Keine der beiden Seiten sollte sich die Überheblichkeit anmaßen, Gott die Rache aus der Hand zu nehmen und eigenmächtig Vergeltung zu üben (3Mo/Lev 19,18; Röm 12,19-21; Hebr 10,30). Verheißungsvoll wäre es hingegen, dem "Feind" mit Güte zu begegnen. Wer das tut, wird Gottes Segen erfahren, also von der ewigen Gewaltspirale erlöst werden. Das gilt für Palästinenser und Israelis gleichermaßen. Das gilt besonders für Israel, weil Gott in besonderer Weise mit ihm solidarisch ist, aber es gilt auch für die Palästinenser.
Paulus drückte denselben Sachverhalt später so aus:
Irrt euch nicht! Gott lässt sich nicht verspotten. Denn was der Mensch sät, das wird er auch ernten. [...] Lasst uns aber nicht müde werden, das Gute zu tun! Denn zur bestimmten Zeit werden wir ernten, wenn wir nicht matt werden.
(Gal 6,7.9)
Auf unser Thema bezogen würde Gott zu verspotten bedeuten, dass Palästinenser und Israelis Gewalt üben in der Annahme, dadurch von Gewalt befreit zu werden. Dies aber ist ein Irrtum. Der Gewalt abzusagen braucht es allerdings einen langen Atem; man kann dabei ermüden und ermatten. Paulus weiß um die Schwierigkeiten, die der auf sich lädt, der Gewalt durch Entgegenkommen ersetzen will. Das Entgegenkommen ist Widerständen ausgesetzt; es bedeutet, ein Risiko einzugehen; und der Erfolg stellt sich nicht so schnell und deutlich sichtbar ein wie die Ziele, die mit der Ausübung von Gewalt verfolgt werden. Dennoch ruht Gottes Segen auf dem langmütigen und beschwerlichen Weg des Entgegenkommens.
Ich würde die These aufstellen, dass das Entgegenkommen nicht einfach deshalb verheißungsvoll ist, weil es in der Bibel steht, sondern weil es den Ordnungen, Prozessen und Realitäten entspricht, die unserer Welt innewohnen. Grundsätzlich kann das Entgegenkommen auch scheitern. Im aktuellen Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern sehe ich allerdings im Entgegenkommen eine Chance, denn es würde den Feind beschämen und international so sehr unter Druck setzen, dass er seine feindselige Haltung wahrscheinlich aufgeben müsste. Auch darum wusste schon die alttestamentliche Weisheit (Spr 25,21f; Röm 12,20):
Wenn deinen Feind hungert, so speise ihn,
dürstet ihn, so gib ihm zu trinken;
so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln,
und der Herr wird's dir vollenden.
Man kann daraus den Schluss ziehen, dass der Konflikt nur zu lösen ist, wenn man die Ursachen analysiert, also den historischen Kontext bedenkt, und wenn mindestens eine der beiden Seiten bereit ist, ihre Mitschuld einzugestehen und sich ein Stück weit zurückzunehmen.
Meine Hoffnung ist, dass durch den jetzigen Krieg Vernunft einkehrt. Solidarität ist auch helfendes Eintreten für den anderen, hatte ich zu Beginn gesagt. Ich möchte solidarisch mit beiden Parteien sein. Das bedeutet auch, dem Leid für beide Parteien ein Ende zu setzen. Dies ist offensichtlich durch Gewalt nicht möglich.
Dass Gewalt das Leid offensichtlich in den meisten Fällen nicht beendet, sondern verlängert, gilt nicht nur für diesen Krieg. Das meinte auch Jesus, als er sagte (Mt 26,52):
Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen.
Auch dieser Satz ist nicht deshalb wahr, weil er in der Bibel steht, sondern er steht in der Bibel, weil er eine Wahrheit über unser Leben ausspricht.
* * * * *
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Terrorangriff_der_Hamas_auf_Israel_2023
[2] https://taz.de/Scholz-im-Bundestag-zu-Hamas-Angriff/!5966127/
[3] https://neueswort.de/solidaritaet; https://de.wikipedia.org/wiki/Solidarit%C3%A4t
[4] Siehe zu diesem Kapitel Rolf Rendtorff: Theologie des Alten Testaments. Ein kanonischer Entwurf. Band 2: Thematische Entfaltung. Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 2001. S. 20-31.42-46.216f.
[5] https://www.juedische-allgemeine.de/politik/robert-habecks-viel-beachtete-rede-ueber-israel-im-wortlaut/
[6] https://www.zdf.de/gesellschaft/markus-lanz/markus-lanz-vom-1-november-2023-100.html
[7] https://www.nachdenkseiten.de/?p=106425; https://www.ochaopt.org/content/hostilities-gaza-strip-and-israel-reported-impact-day-33
[8] https://www.nachdenkseiten.de/?p=106425, siehe im Artikel die "Zusatzfrage Jung".
[9] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/gazastreifen-todesopfer-zivilisten-liste-hamas-israel-100.html
[10] https://taz.de/Opfer-im-Gaza-Krieg/!5969294/
[11] Wie [6]. Der von Feldman genannte Offene Brief findet sich in einer deutschen Übersetzung unter https://taz.de/Offener-Brief-juedischer-Intellektueller/!5965154/
Grafik: Tumisu auf Pixabay (bearbeitet).
zurzeit läuft parallel zum physischen Krieg zwischen der Hamas und Israel ein Krieg in den Medien. Für mich steht die Solidarität mit Israel im Vordergrund. Ich habe viel Verständnis für die Israelis, die Angehörige in der Shoah verloren haben und sagen: wir werden uns nie wieder ohne Gegenwehr abschlachten lassen. Ich halte mich deshalb mit Äußerungen zurück, weil sich viel zu oft, gewollt oder ungewollt, eine falsche Gleichsetzung der beiden Parteien ergibt. Das palästinensche Volk tut mir leid, aber sie mögen bitte im konkreten Fall die Hamas anklagen, die den Krieg mit Massakern an israelischen Zivilisten begonnen hat und sich jetzt hinter palästinensischen Zivilisten versteckt.
Die Habeck-Rede fand ich gut. Ich halte es ansonsten aber mit den Oppositionellen in Israel, die sagen: Jetzt während des Kriegs halten wir uns mit Kritik zurück, aber danach nehmen wir uns Netanjahu wieder vor. Genau so werde ich es bezogen auf diesen Krieg machen. Im Nachhinein kann man das noch einmal analysieren, aber ich werde nicht jetzt in irgendeiner Weise das Geschäft der Hamas betreiben.
Wenn ich bezogen auf diesen Krieg in der Bibel lese, finde ich auch Stellen wie die gewalttätige Landnahme durch Josua, einschließlich Vollstreckung des Banns. Oder auch die ständigen Kriege Sauls und Davids gegen die Philister (etymologisch wohl mit den Palästinensern verwandt). Aber das ist vermutlich hier kontraproduktiv.
Viele Grüße
Thomas
danke für deine Stellungnahme. Die Texte zur Landnahme und zu Kriegen von Saul und David würde ich auf keinen Fall zur Rechtfertigung von Gewalt heranziehen (was du ja, wenn ich dich richtig verstehe, auch nicht tust). Ich kann aber das Leid der palästinensischen Bevölkerung (nicht der Hamas) nicht ausblenden oder als geringfügiger bzw. weniger bedeutsam und betrauerbar als das Leid von Jüdinnen und Juden bewerten. Hier gilt für mich der Gleichheitsgrundsatz, der ja auch im Alten Testament zur Geltung kommt, indem das von Gott erwählte Volk aufgerufen ist, den Fremden im Land mit gleicher Barmherzigkeit zu begegnen, wie Gott es gegenüber Israel getan hat. Ich denke, es gäbe andere Möglichkeiten, die Leid vermeiden oder zumindest verringern würden und effektiver wären als Gewalt - wie im obigen Artikel ausführlich beschrieben.
Viele Grüße
Klaus
du siehst es richtig, dass ich die von mir angesprochenen Texte nicht als Rechtfertigung von Gewalt sehe. Ich möchte damit nur auf eine immer bestehende Gefahr von Willkür bei einer Auswahl von Auszügen aus dem breiten Textschatz der Bibel hinweisen.
Ich fühle mich jedenfalls auf keinen Fall berufen, Israel in der aktuellen Situation gute Ratschläge zu erteilen.
Dass mir die palästinensischen zivilen Opfer genau so leid tun wie die israelischen, hatte ich, glaube ich, auch schon erwähnt.
Aber wenn du den Gleichheitsgrundsatz als Argument anführst, möchte ich folgendes ergänzen. Es ist nicht nur ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz, Gleiches ungleich zu beurteilen und zu behandeln, sondern ebenso, Ungleiches gleich zu beurteilen und zu behandeln.
Wir sehen hier eine asymmetrische Kriegsführung. Die Hamas hat gezielt Zivilisten mit teilweise bewusst sadistischen Methoden getötet und zum Teil verschleppt - Details wirst du selbst gesehen oder gelesen haben -, und prahlt intern und extern mit Aufnahmen davon. Jetzt nimmt die Hamas auch Teile des palästinensischen Volks als Geiseln und versteckt sich hinter ihnen, um den Hass auf Israel weiter zu schüren, sobald die israelischen Angriffe auch zivile Opfer treffen.
Das ist nicht zuletzt ein Spiel mit Medien und Öffentlichkeit, und ich stehe hier nicht als Mitspieler der Hamas zur Verfügung, auch nicht im Sinne falscher Gleichsetzungen.
Viele Grüße
Thomas
es geht mir nicht darum, Israel gute Ratschläge zu erteilen, sondern eine Stellungnahme aus christlicher Sicht abzugeben. Das ist ein großer Unterschied, und von einer direkten Ansprache an Israel ist in meinem Artikel auch nirgends die Rede.
Ebenso wenig nehme ich die Rolle eines "Mitspielers der Hamas" ein, sondern habe im Gegenteil die Hamas scharf kritisiert. Ich kann auch keine "falsche Gleichsetzungen" in meiner Stellungnahme entdecken, weil ich nicht die ungleiche Kriegführung gleichgesetzt habe, sondern meine Anteilnahme am Leid der Zivilbevölkerung beider Seiten. Auch das ist ein großer Unterschied. Meine Anteilnahme ist unabhängig davon, von wem jemand getötet oder verstümmelt wurde und welche Art der Kriegführung der Tötende oder Verstümmelnde dabei ausübte. Ich halte alle Getöteten und Verstümmelten in gleicher Weise für betrauerbar. Die Art der Kriegführung und das Spiel mit Medien und Öffentlichkeit ist eine ganz andere Frage, die ich in meinem Artikel nirgends angesprochen habe. Oder anders ausgedrückt: Wenn es um das Mitgefühl für die Opfer geht, gibt es für mich kein "Mitleid, aber", wie du es in deinem ersten Kommentar an einer Stelle ausdrückst. Das könnte man als eingeschränkte Anteilnahme interpretieren, die ich dir aber nicht unterstellen will.
Viele Grüße
Klaus
Wenn jeder die eigene Gerechtigkeit für sich beansprucht mit Gewalt durchzusetzen, wo endet so etwas ...
Wenn jeder beansprucht aufgezwungenes Leid mit befreiender Gewalt zu beantworten, wo endet das ...
Die ersten Christen bis zum Untergang des Christentums 325 n. Chr beantworteten dies mit Selbstverleudnung der menschlichen Existenz wodurch sie eine unglaubliche Antwort gaben, die Probleme löst, wofür sie leider von der fleischlichen Unvernunft nur Spott erfahren.
danke für deine Erinnerung an die Gewaltlosigkeit der frühen Christinnen und Christen. Mit der Einführung des Christentums als Staatsreligion unter Kaiser Konstantin änderte sich vieles, unter anderem auch der urchristliche Pazifismus. Dennoch ist das Christentum nicht "untergegangen", denn es gibt die "unsichtbare", nämlich geistlich geleitete Kirche noch heute - quer durch alle Konfessionen und Denominationen. Und diese Kirche wird niemals untergehen, weil sie nicht durch sich selbst getragen wird, sondern durch den Geist.
Wie wahr.
"Untergang" ist zugegeben etwas sehr polarisierend, wobei "unsichtbar" es sicher etwas besser trifft ... vielleicht kann man es mit einer Art verdrängenden "Substitution" durch einer weitreichenden "Fehlleitung" beschreiben. An dem Zeitpunkt sind die Mehrheit der Christen definitiv falsch abgebogen.
Mein Freund würde sagen ... da wurde ein guter/schmaler Branch leider wieder in den schlechten/breiten Main Stream und Branch geschickt überführt und integriert.
ich fühle mich nicht kompetent zu entscheiden, ob und wo eine Mehrheit oder Minderheit von Menschen falsch abgebogen ist. Sicher ist aber, dass die Ernennung zur Staatskirche zumindest manche problematischen strukturellen Folgen zeitigte.
Die Deutschen sind auf den Nürnberger Prozessen nicht kollektiv verurteilt worden, die alttestamentarische Sippenhaft ist neueren Datums. Also, wie kommen die dazu, den ganzen Staat in ihre Gewalt zu bringen? Die Kirche als Institution hat die Pflicht, sich mit der Gesetzeslage auseinander zu setzen. Das Meinungsspektrum wird in den letzten Jahrzehnten auffällig verengt. Das ist Diktatur.
Die Kirche hat im 3. Reich schon mal total daneben gelegen. Und sie liegt wieder daneben.
Zudem kann man sehr wohl hinterfragen, ob "auserwähltes Volk" nicht eine Schöpfung von Menschen ist? Alle Kulturen haben einen Schöpfungsbericht und die stehen dem kanaanitischen in keiner Weise nach.
Der ganze Glaube ist an der Jungfrauengeburt aufgehängt, aber steht in der Bibel wirklich Jungfrau, oder steht da junge Frau? Wenn Gott der Vater Jesu wäre und Jesus ist ein Jude, dann müßte auch Gott ein Jude sein? Ist das nicht ziemlich blasphemisch?
Was die Kirche verbreitet, erlöst nicht. Da kann man beten, so viel man will.
danke für deine Stellungnahme. Du sprichst viele verschiedene Themen an, auf die ich kurz eingehen will.
Zur historischen Verantwortung Deutschlands: Ich bin der Meinung, dass der Holocaust eine solche Verantwortung für Deutschland bedeutet. Das heißt für mich aber nicht, dass Deutschland sich jede Kritik an Israel versagen und bedingungslos mit Israel solidarisch sein muss. Ich habe das im Artikel oben näher ausgeführt.
Dass Merkel und jetzt auch Scholz sich zur Begründung der Solidarität mit Israel auf die Staatsräson berufen, kann man kritisch beurteilen. Dass eine Staatsräson nach dem Grundgesetz verboten ist, ist mir allerdings nicht bekannt.
Ich sehe auch, dass das veröffentlichte Meinungsspektrum sich verengt hat. Das bedeutet eine Gefährdung der Demokratie. Dass wir bereits in einer Diktatur leben, würde ich aber nicht sagen.
Zur Rolle der Kirche: Die ev. Kirche ist in weiten Teilen der Nazi-Ideologie des Dritten Reichs gefolgt. Sie hat sich damals nicht gegen die Judenvernichtung eingesetzt. Das ist eine große Schuld. Heute zeigt sich die ev. Kirche mit Israel solidarisch. Besteht deine Kritik in dieser Solidarität der Kirche mit Israel? Ich kann diese Solidarität nachvollziehen, aber sie bedeutet meiner Meinung nach, wie oben gesagt, nicht, dass jede Kritik an Israel verboten ist.
Zu biblischen Aussagen: Was die Jungfrauengeburt betrifft und zur Frage, was wirklich in der Bibel steht, kann ich dich auf meinen Artikel Die Sache mit Jesus verweisen. Darin habe ich Folgendes geschrieben:
Im Alten Testament steht, dass der Messias von einer „jungen Frau" geboren werden wird (Jesaja 7,14). Für „Jungfrau" hat das Hebräische ein anderes Wort. Die Übersetzung des Alten Testaments ins Griechische benutzte dann ein Wort, das ebenfalls „junge Frau" bedeutet, aber auch „unverheiratetes Mädchen" und „Jungfrau". Dieses Wort steht nun im Matthäus- und Lukasevangelium, und dort ist eindeutig „Jungfrau" gemeint. Beide Evangelien wollten damit die Göttlichkeit Jesu betonen.
Muss man das eigentlich glauben?
Meine Antwort wäre: Die Göttlichkeit Jesu sollte man als Christ auf jeden Fall glauben. Die Jungfrauengeburt hingegen ist zweitrangig; man muss sie nicht glauben. Sie ist ein Gleichnis für die Göttlichkeit Jesu. Die Göttlichkeit Jesu gehört allerdings zum christlichen Glauben unbedingt dazu.
Zum "auserwählten Volk" kann ich nur sagen: Für mich ist die Bibel Gottes Wort im Munde von Menschen. Das heißt: Ich verstehe sie nicht in fundamentalistischer Weise wörtlich von Gott eingegeben, sondern als Worte von glaubenden Menschen. Darum stelle ich die biblischen Texte in den historischen Kontext, in dem sie entstanden sind. Dadurch werden manche Texte gegenüber einem fundamentalistischen Verständnis relativiert. Dennoch sind die Texte für mich der Maßstab meines Glaubens. Auch dazu habe ich schon viel in diesem Blog geschrieben, zum Beispiel in dem Artikel 5 Tipps zum rechten Verstehen der Bibel.
ich habe so meine Probleme mit dem Begriff "Solidarität" biblisch begründet. Ist Gott nur solidarisch mit Israel? Um zu beschreiben was ich meine folgendes Beispiel: Wenn ich öffentlich meine Solidarität mit meiner Frau bekunden würde, dann würde sie sicherlich Gesprächsbedarf bei mir anmelden, weil die Ehe zwischen einem Mann und einer Frau aus einer tieferen Quelle schöpft als aus Solidarität, einem Begriff der erst im 19. Jh. aufgekommen zu sein scheint und dessen Gebrauch in den späten 70er Jahren des 20. Jh. ein Maximum hatte (Quelle: https://www.dwds.de/wb/solidarisch).
Diplomatisch scheint mir Solidarität auch eher zum kleinen Wechselgeld zu gehören. Wenn etwa der französischen Präsident einen Solidaritätsbesuch in Israel macht und erklärt voll auf der Seite Israels zu stehen, zurück dann aber in Frankreich unter dem Druck der Strasse von Israel die Einstellung aller militärischen Aktionen fordert. Auch ist es so, dass die Zivilgesellschaft in Deutschland sich ganz unterschiedlich solidarisch zeigt in bezug auf die Ukraine und Israel, wie mir scheint aus innenpolitisch/gesellschaftlichen Gründen, die ähnlich geartet sind wie jene in Frankreich.
Nach den Geschehnissen des 7. Oktobers -- im historischen Kontext eine Zäsur -- scheint mir, dass politischer Frieden im Nahen Osten eine völlige Entwaffnung des Gazastreifens voraussetzt, sodass gar keine Raketen mehr aus diesem Gebiet auf Israel abgefeuert werden können. Ich vermute dass Israel genau das auch anstrebt. Technische Lösungen wie eine verbesserte Raketenabwehr wird es sicherlich geben, aber die kontrollierte Entwaffnung hätte sogar auch eine biblische Parallele in 1. Sam. 13, 19-22.
danke für deine Stellungnahme. Ich sehe auch, dass der Begriff "Solidarität" nicht ganz passend ist. Aber er ist nun mal das Wort, das in Hinsicht auf den gegenwärtigen Nahost-Konflikt ständig benutzt wird. Darum habe ich aus der biblischen Erwählung Israels Gottes Solidarität mit Israel abgeleitet. Gottes Erwählung bedeutet natürlich sehr viel mehr als nur Solidarität. "Liebe" wäre sicher ein passenderes Wort und zudem ein biblisches. Aber auch der Begriff "Liebe" ist heute leider ziemlich abgegriffen. Vielleicht können sich manche Menschen sogar unter Gottes Solidarität mehr vorstellen als unter Gottes Liebe. Ich denke, um in der säkularen Welt verstanden zu werden, müssen wir auch deren Sprache sprechen. Außerdem finde ich es nicht falsch, in Bezug auf Israel von Gottes Solidarität zu sprechen. Man könnte vielleicht sagen: Solidarität ist zwar weniger als Liebe, aber immerhin ein Teil von ihr.
Eine völlige Entwaffnung des Gaza-Streifens mag wohl möglich sein. Aber wenn Israel aus dem Streifen raus ist, wird er doch wieder neu bewaffnet. Das Ziel, die Hamas zu vernichten, halte ich für eine Illusion, da man dann die israelfeindliche Ideologie vernichten müsste. Das aber ist durch Gewalt nicht möglich, im Gegenteil: Der Israelhass in der arabischen Welt wird dadurch nur vergrößert. Wenn ich jetzt höre, dass im Norden des Gaza-Streifens 95 Prozent der Häuser zerstört oder beschädigt sind, kann ich nur sagen: Das dient ganz gewiss nicht dem Frieden, sondern macht ihn unwahrscheinlicher. Dennoch hoffe ich auf Gottes Einwirken auf die Konfliktparteien.
Den Hinweis auf 1Sam 13 kann ich nicht nachvollziehen. Ich habe in drei Übersetzungen nachgelesen, aber von einer Entwaffnung war dort nirgends die Rede, nur davon, dass Israel keine Waffen zur Verfügung standen. Israel hat aber dann dennoch den Kampf gewonnen, wie Kapitel 14 berichtet. Daraus eine Parallele zu konstruieren, finde ich schwierig.
der Hintergrund in 1 Sam 13 scheint ein technologischer Vorsprung der Eisen-Bearbeitung zu sein, den die Philister gegenüber Israel verteidigen wollten. Israel durfte kein Eisen bearbeiten, gegen die Zahlung eines Pim (ein Gewicht, wie man erst seit kurzem weiss) konnten sie ihre Erntewerkzeuge bei den Philistern herstellen lassen.
Im Kleinen ist es ähnlich den internationalen Bemühungen, dass der Iran keine technologischen Fortschritte in Sachen Anreicherung waffenfähigen Urans macht, was durchaus sinnvoll ist. Rüstungskontrolle nennt man das.
danke für die Erläuterung. Der technologische Vorsprung ist bis heute ein entscheidender Faktor in militärischen Auseinandersetzungen. Die Hamas wird sich aber das, was jetzt an Waffen und Infrastruktur zerstört wird, wieder aneignen. Darum frage ich mich, ob die massiven Zerstörungen im Gaza-Streifen, die ja vor allem die Zivilbevölkerung treffen, sinnvoll sind. Ich bin zwar kein Militärexperte, aber wie viel persönliches Leid durch die Zerstörung von Wohnungen sowie Hab und Gut angerichtet wird, kann ich nachempfinden.
die massiven Zerstörungen im Gaza-Streifen sind Folge der Hamas-Aktionen wie jahrelangem (teils täglichem) Raketenbeschuß auf Israel, Terrorattacken und dem Terrorangriff am 07. Oktober 2023 uaf Israel. Die Hamas selbst ist also für die Zerstörung der eigenen zivilen Infrastruktur im Gazastreifen verantwortlich. Das will scheinbar nur niemand sehen(?). Da schaut man wohl lieber weg(?).
Ein anderer Gedanke bzw. eine andere Frage: Wie viele Ressourcen (finanziell / materiell / personell) wurden von der Hamas seit 2007 - nach dem Abzug der Israelis aus dem Gazastreifen - in 'militärische' Aktionen gesteckt (Tunnelbau, Raketenbeschuß auf Israel, Terror) und wie viele Ressourcen im gleichen Zeitraum in den Aufbau ziviler Infrastruktur (also den zivilen Aufbau eines eigenen Staates)?
danke für deine Stellungnahme. Ich argumentiere von einem christlichen Standpunkt her und denke, dass beide Seiten in dem jahrzehntelangen Konflikt Schuld auf sich geladen haben. Dass Israel - auch theologisch - ein unverbrüchliches Existenzrecht hat, habe ich bereits in meinem Artikel dargelegt. Ich denke aber, dass vor allem die stärkere Seite in einem Konflikt auf die schwächere Seite zugehen sollte, damit Friede möglich wird. Das sollte eine minimale Konsequenz aus der Bergpredigt Jesu sein. Die Hamas-Terroristen müssen dabei nicht geschont werden, wohl aber das palästinensische Volk. Leider werden beide Seiten von derart extremen Positionen dominiert, dass ein Aufeinander-zugehen im Moment nicht in Sicht ist. Auch jetzt werden meiner Meinung nach wieder beide Seiten schuldig.