Schrei nach Leben!
Klaus Straßburg | 14/08/2021
Je älter ich werde, desto unwirklicher erscheint mir dieses Leben, das wir führen – oder sollte ich besser sagen: das uns führt? Dieses aufgeblasene Leben, aufgeblasen mit angeblichen Wichtigkeiten, die auf uns eindrängen, mit rasendem Tempo, gleißenden Lichtern und Aufmerksamkeit heischendem Getöse, so dass kaum noch Raum bleibt für das Wesentliche, das es nur im Innehalten gibt und in der Stille und im Schließen der Augen, mit denen wir in die Weite blicken, die Jesus Christus uns eröffnet hat, und gerade so bei uns selbst sind. Stattdessen wollen wir uns ausdehnen, wollen woanders sein als dort, wohin uns Christus gestellt hat, wollen mehr sein als der Mensch, als der wir geschaffen sind und anders als so, wie wir geschaffen sind. So zieht es uns immer in das Unwirkliche, und das wirkliche Leben bleibt ungelebt zurück, während wir rastlos an ihm vorbeirauschen. Wir sind betäubt vom Lärm und geblendet vom grellen Licht, mit sehenden Augen, die nicht erkennen und hörenden Ohren, die nicht verstehen (Mk 4,12). Je verzweifelter unsere Situation, desto lauter, greller und scheinbar fröhlicher gebärden wir uns, gebärdet sich das Leben um uns her. Je größer die Leere, desto mehr pressen wir in unser Leben hinein, auf dass es angefüllt werde mit belanglosen Inhalten. Manchmal möchte ich weinen, wenn ich spüre, dass dies alles nicht das wirkliche Leben ist.
Ich will keineswegs behaupten, dass unsere Zeit schlimmer sei als vergangene Zeiten. Jede Zeit hatte ihren Lärm, ihre Lichter und ihre Rastlosigkeit. Und die Menschen, immer auf der Suche nach dem wirklichen Leben, haben sich ihnen hingegeben. Die Namen haben gewechselt, aber die Heilsversprechen sind dieselben geblieben: „Hier ist des Herrn Tempel, hier ist des Herrn Tempel, hier ist des Herrn Tempel!" (Jer 7,4) Und die Menschen strömten in die Tempel, die Tempel der Propaganda, Ideologien und Revolutionen, der Lügen, Kriege und Zerstörungen, des Profits, Konsums, Unrechts und Selbstbetrugs, der betäubenden Zerstreuungen und oberflächlichen Erfüllungen. Alles um der angeblich guten Sache, des wirklichen Lebens willen.
Doch am wirklichen Leben zogen sie vorbei, lauthals ihre Parolen rufend und sich der angeblich lichten Zukunft verschreibend oder aber schweigend mit nach unten gerichtetem Blick sich den weltweit abrufbaren scheinbaren Wahrheiten hingebend, jedenfalls aber die Gegenwart so schnell als möglich hinter sich lassend.
Dem müssten wir, Christinnen und Christen aller Völker, das wirkliche Leben entgegensetzen. Doch was ist das wirkliche Leben?
Es müsste ein Feuer sein, das aus der Tiefe der Seele kommt. Das nicht von außen her allererst entfacht und immer neu entzündet werden muss, sondern das in uns Wohnung genommen hat, weil Christus in uns wohnt (Joh 14,23; Eph 3,17; 2Tim 1,14). Ein Feuer, das nicht von uns selbst entfacht wird, aber dennoch in uns brennt, ja gerade deshalb in uns brennt, weil es nicht von uns gemacht ist (Lk 12,49). Eine wahrhaft wärmende Flamme, ein ewiges Licht, kein Strohfeuer, das uns in der Kälte zurücklässt, kein greller Blitz, der nur für Sekunden das Leben erhellt und uns hernach in umso größere Finsternis stürzt. Eine Flamme müsste es sein, die uns selbst brennen lässt für das, was mit Recht Leben heißt, so dass wir des Schmerzes gewahr werden angesichts alles Oberflächlichen, das sich der Tiefe dieses Lebens verweigert, angesichts der Verzweiflung, die sich nur schwerlich noch verbergen lässt, angesichts unserer selbst, die wir uns vom sogenannten Leben, das doch nur der Schatten eines Leben ist, mitreißen lassen, so dass wir, dieses Schmerzes gewahr, endlich wieder weinen können.
Der Schmerz ist der Anfang der Verwandlung. Er ist zuerst das Weh über uns selbst, die wir uns bequem eingerichtet haben in diesem unwirklichen Leben, so dass wir des Selbstbetrugs gar nicht mehr gewahr werden. Der Schmerz macht ihn spürbar und macht ihn unerträglich. Und endlich, endlich werden wir wieder schreien nach dem echten, dem wahrhaft erfüllten Leben, nach dem Leben im Miteinander, Zueinander, Füreinander, nach dem Leben im Einssein mit dem Göttlichen und darum auch dem Natürlichen. Wir werden uns ausstrecken nach der himmlischen Heimat (Phil 3,12-14), dem Einssein mit Christus, und darum auch nach der Zärtlichkeit, der Freude aneinander, der Fülle des Miteinanders, des Mitfühlens, des tiefgehenden Sprechens, Hörens und Verstehens, des Lernens jenseits aller Rechthaberei, aller Vorspiegelung falscher Tatsachen, alles Größenwahns. Wir werden innehalten in unserer geschäftigen Raserei, werden neu sehen lernen, werden schätzen, was Menschen, Tiere, Pflanzen uns zu geben haben, werden Menschen sein statt Etwas zu haben. Wir werden dem Rad, das immer schneller sich dreht, in die Speichen greifen, werden die Schmerzen ertragen und stillstehen und im Stillstehen das wahre Fortkommen, das wirkliche Leben entdecken.
Und dann, erst dann werden wir das wahre Ausmaß unserer Verirrung erkennen und werden dankbar sein für die Schmerzen, die wir ertragen mussten, weil nur sie uns zur Erkenntnis führen konnten, und wir werden dieses unwirkliche Leben, das uns fest im Griff hatte, für Kot achten (Phil 3,8) und ausscheiden und stattdessen den Herrn des Lebens – auch an ihm waren wir blind vorbeigeeilt in unserem Wahn – gewinnen und mit ihm das wirkliche Leben.
Ich will das Leben im Diesseits nicht verherrlichen. Es wird immer ein schwacher Widerschein des vollkommenen Lebens sein. Es wird angefochten sein, auch von den Mitchristinnen und -christen, die diesen Weg nicht mitgehen, und von denjenigen Kirchen, die sich wegducken, weil sie um Macht und Pfründe fürchten. Es wird im Diesseits keine Einigkeit geben. Es werden die, deren Augen geöffnet werden, eine Minderheit bleiben. Aber das kann sie nicht aufhalten. Sie müssen ihren Weg gehen, weil in ihren Herzen ein Feuer brennt, das niemand löschen kann. Sie können nicht leben, als sei nichts geschehen, als sei Christus nicht geboren worden und habe uns nicht heimgesucht (Lk 7,16).
So bleibt uns nur das Bitten und Flehen, Christus möge in uns das Feuer entfachen und uns losreißen von unserer trägen Bequemlichkeit, mit der wir uns treiben lassen, von unserer Ignoranz, Gleichgültigkeit und Gedankenlosigkeit, mit denen wir Wort und Tat entleeren und der Sinnlosigkeit preisgeben. Mögen wir den neuen Weg gehen, aufrichtig suchend das Leben, das es nur bei Christus gibt. Dann wird das Christus- und Lebensfeindliche, das noch nicht vertilgte, am Rande stehen, und wir werden es nur eines kurzen Blickes würdigen und uns dann wieder dem wirklichen Leben zuwenden, und es wird noch wüten und toben, aber keine Macht mehr über uns haben; denn die Macht, dessen werden wir gewiss sein, liegt bei dem Herrn der Welt, dem allein wir uns hingeben werden. So werden wir neue Worte und Taten finden, mutig und gestärkt von der guten Macht, die uns umgibt, und das Feuer in uns wird brennen, entzündet von Christus selbst, und wir werden es nicht mehr auslöschen, sondern wissen, dass es unser Leben ist. Und es wird blühen das Zarte, Sanfte, Friedvolle, Würdevolle, Stille und Leuchtende. Und das Blut der Liebe wird lauter reden als Abels Blut (Hebr 12,24). Und unser Herz, ergriffen von der Kraft Christi, wird springen vor Freude, Liebe und Dankbarkeit zu allem, was ist, und wir werden Sehende sein und vereint sein mit dem Herrn der Liebe und Fülle und mit dem Leben, das er uns geschenkt hat.
Ist das alles ein Traum? Eine Illusion? Eine bodenlose Phantasie? Für diejenigen, die das unwirkliche Leben am Rande des Todes leben, ist es nicht mehr als das. Für die anderen aber, die gesegnet sind, weiter zu blicken, ist es der Ort ihrer Sehnsucht, der Ort, der denen Heimat wird, die im unwirklichen Leben ihre Heimat nicht mehr finden können und deshalb Fremde sind unter denen, die das Leben verloren haben. Ihnen ist es kein Traum, sondern das wirkliche Leben, die Wirklichkeit schlechthin, die nicht beobachtbare und fixierbare (Lk 17,20f), aber dennoch gegenwärtige und noch zukünftige Wirklichkeit, die Realität aller Realitäten, in der allein das Leben seine Wahrheit, seine Würde und seinen Sinn hat und die allein unsere Sehnsucht stillt und uns das sein lässt, als das wir geschaffen sind: wahre, würdevoll und sinnvoll lebende Menschen.
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Danke für deine intensiven Gedanken, deren kritische Schlussfolgerungen berechtigt sind, mich aber auch zum Widerspruch reizen: ist es denn nicht auch etwas sehr moralisch zwischen einem wirklichem und einem unwirklichen Leben so eindeutig zu unterscheiden? Oder sind es nicht vielmehr gerade auch die vielen uneindeutigen Zwischen- und Grenzbereiche zwischen diesen beiden Extremen, die unser Leben so lebendig machen? Bin ich z. B. im Museum oder im Kino lebendig oder unwirklich? Meistens fühle ich mich dort wirklich u n d unwirklich zugleich.
vielen Dank für deine Anfragen an meinen - sicher etwas provozierenden - Artikel. Es ist wohl wirklich oftmals schwierig für uns, zwischen wirklichem und unwirklichem Leben eindeutig zu unterscheiden. Ich könnte mir aber vorstellen, dass das damit zusammenhängt, dass das Leben uns zu nah ist. Wir können keinen Standpunkt außerhalb des Lebens einnehmen, um es dann eindeutig zu analysieren. Ich denke aber, dass es einen Unterschied zwischen wirklichem und unwirklichem Leben gibt. Was ich mit unwirklichem Leben meine, habe ich versucht zu umschreiben - wobei es schon richtig ist, dass nicht jede Temposteigerung und jeder Lichtreflex ein Aspekt des unwirklichen Lebens sein muss. Ich wollte eher eine Gesamtsicht des Unwirklichen beschreiben und habe das mit den Metaphern "extreme Geschwindigkeit", "blendende Lichtreflexe" und "ohrenbetäubendes Getöse" versucht. Dieses unwirkliche Leben raubt uns das, was dem wirklichen Leben näherkommt: innehalten, sich besinnen, mit den Augen des Herzens sehen, still werden, ausbrechen und sich befreien lassen aus dem alltäglichen Tempo, den grellen Lichtern und dem lautstarken Getöse. Sicher gibt es Zwischen- und Grenzbereiche, die nicht unbedingt schon unwirkliches Leben sind. Was sie für mich sind, hängt wohl auch mit ihrer Bewertung durch mich ab.
Dieses Gefühl, das du beschreibst, dass man sich wirklich und unwirklich zugleich fühlen kann, mag es geben, könnte aber schon auf das Unwirkliche hinweisen, das ich nicht positiv bewerten würde oder so, dass es unser Leben erst lebendig macht. Wenn ich im Kino oder Museum war, habe ich, wenn ich darüber nachdenke, mich entweder in einer unwirklichen Welt (das ist langweilig, belanglos, das betrifft mich nicht, das geht am Wesentlichen vorbei) oder in einer wirklichen Welt (das geht in die Tiefe, das ist wichtig für mein Leben, das ist Wahrheit) gefühlt.
Ich würde das nicht als moralisierend beurteilen, sondern so, dass jeder Mensch es in der Hand hat, welchen Dimensionen des Lebens er sich hingibt, auf welche er sich einlässt und welche er zu seinen Lebensmaximen macht. Insofern ist es natürlich eine ethische Frage, also die Frage: Was sollen wir tun? Aber jeder Glaube, jede Hoffnung und jede Liebe haben doch diese ethische Dimension: Was will ich glauben, worauf hoffen, was lieben?
Mir fällt gerade noch ein Beispiel ein, das es mir leichter macht, das Problem und vielleicht auch deinen Einwand zu verstehen: Die "Lichter der Großstadt", die auch auf dem Foto zu sehen sind, symbolisieren für mich etwas von diesem sich in den Vordergrund drängenden unwirklichen Leben. Andererseits liebe ich es, eine Zeit lang diese Lichter wahrzunehmen und zu genießen. Vielleicht ist es das, was du mit "wirklich und unwirklich zugleich" meinst. Doch die Grenze zwischen wirklich und unwirklich geht wohl quer zwischen laut und leise, hell und dunkel, schnell und langsam hindurch. NUR Stille, NUR Besinnlichkeit, NUR Lichtlosigkeit kann geradezu tödlich sein - also gewiss kein wirkliches Leben. Eine gesunde Mischung ist wohl das Richtige. Auch die weltlichen Lichter und Geräusche sind Gaben Gottes. Daraus folgt aber wieder, dass es an UNS liegt, welchen Dimensionen des Lebens wir uns hingeben und wie wir sie bewerten.
Meine Kritik war: Die gegenwärtige Menschheit huldigt in ihrer großen Mehrheit dem unwirklichen Leben und verliert dabei das wirkliche. Die Versuchung, dies auch zu tun, trifft uns alle. Wir erliegen ihr wahrscheinlich auch immer wieder. Umso wichtiger ist es, sich beide Dimensionen des Lebens bewusst zu machen und uns dem Unwirklichen (das durchaus auch mal hell, schnell und laut sein kann) nicht hinzugeben.
Ich hoffe, meine Position ist dadurch etwas deutlicher geworden (mir selbst auch). Deine Fragen haben mich zum weiteren Nachdenken angeleitet. Wenn du noch Einwände hast oder es ähnlich siehst, lass es mich wissen.