Leben mit Schuld – eine Befreiung
Klaus Straßburg | 16/05/2022
1. Schuld als Problem
Man kann wohl mit Fug und Recht behaupten, dass wir ein gebrochenes Verhältnis zur eigenen Schuld haben – und zur göttlichen Gnade. Kirchen und christliche Gemeinschaften haben über Jahrhunderte hin den Menschen ihre Schuld vor Augen gehalten oder ihnen auch Schuld eingeredet – und sind damit selber schuldig geworden. Sie haben mit ihrer Schuldtheologie unaussprechliche Seelenqualen ausgelöst. Sie haben Menschen dadurch in Abhängigkeit von sich gehalten und ihre eigene Macht zementiert. Ja, sie haben ihren Reichtum dadurch vergrößert, dass sie den angeblichen Freikauf von Höllenqualen ermöglichten. Schuld- und Angstgefühle wurden dadurch einerseits ungerechtfertigt erzeugt, andererseits ebenso ungerechtfertigt getilgt.
Die heutige Situation scheint eine vollkommen andere zu sein. Von Schuld wird zumindest in den Kirchen nur noch am Rande geredet, dafür umso mehr von der Gnade und Liebe Gottes. Gnade und Liebe scheinen das Reden von Schuld entbehrlich gemacht zu haben. Was es an Schuld noch geben mag, ist immer schon vergeben, und wem vergeben ist, der braucht sich um Schuld offenbar keinen Kopf mehr zu machen.
So taumelt die Christenheit zwischen der Überbetonung der Schuld einerseits und der Gnade andererseits hin und her, ohne, wie es scheint, in der Lage zu sein, beide in ein rechtes Verhältnis zueinander zu setzen.
Dass Schuld nicht etwa nur innerhalb der Christenheit, sondern auch außerhalb ihrer ein Problem ist, zeigt sich daran, dass wir unter einem extremen Rechtfertigungsdruck stehen und beständig darauf bedacht sind, uns gegen Schuldzuweisungen zu verteidigen. In jedem auch noch so kleinen Streit kommt man schnell an den Punkt gegenseitiger Schuldzuweisungen. Schuld haben immer die anderen. Ich selbst bin frei davon oder bin zu dem, was ich tat, vom anderen getrieben worden, weil er mich angegriffen oder unter Druck gesetzt hat, wogegen ich mich verteidigen musste.
Dass die Schuld damit nicht aus dem Weg geräumt ist, sagen uns Psychologen, die darum wissen, wie sehr verdrängte Schuld einen Menschen zeitlebens verfolgen und extrem schmerzliche psychische Probleme auslösen kann.
2. Schuld als sekundäres Thema
Vom christlichen Glauben her ist Schuld kein primäres Thema. Wird es dazu gemacht, dann kann Schuld nur eine belastende und unterdrückende Funktion ausüben. Gottes Geschichte mit dem Menschen beginnt aber nicht mit menschlicher Schuld, sondern mit göttlicher Gnade und Liebe. Gottes Beseitigung des Urchaos (hebräisch tohuwabohu; 1Mo/Gen 1,2), seine wohlgeordnete, sehr gute Schöpfung, der Garten Eden – das alles zeugt von seiner liebevollen Zuwendung zum Menschen. Erst im zweiten Schritt folgt, unerkennbar woher, die menschliche Schuld, der "Sündenfall". Schuld ist eine sekundäre Wirklichkeit.
Das setzt sich biblisch fort in Gottes gnädiger Bewahrung der schuldig gewordenen Menschheit und im Bundesschluss mit ihr (1Mo/Gen 8,21f; 9,8-11), in der Befreiung der Israeliten aus der ägyptischen Sklaverei (2Mo/Ex 1-15) und in der Erwählung Israels zum Partner Gottes nicht aufgrund einer Qualität des Volkes, sondern allein aufgrund der Liebe Gottes zu diesem Volk (5Mo/Dtn 7,6-8). Das alles besagt, dass Gott die Existenz der von ihm geschaffenen Menschen und des Volkes Israel gutheißt, und zwar trotz aller immer wieder auftretenden Schuld der Menschen. Schließlich tritt Gott selber in der Gestalt Jesu in die Welt ein, um sie freizusprechen von aller vergangenen und zukünftigen Schuld. So wird der Mensch für immer frei von seiner Schuld, wenn er sich diese Befreiung gefallen lässt.
Der Freispruch von Schuld bedeutet nicht, dass die Schuld verharmlost oder beschönigt wird. Der Freispruch ist vielmehr mit der Berufung und Befähigung verbunden, in Zukunft nicht mehr schuldig zu werden. Der Befreite soll ein neues Leben beginnen, zu seines Mitgeschöpfes und seiner selbst Glück. Doch obwohl der Mensch an dieser Berufung immer wieder scheitert, bleibt ihm der Freispruch erhalten. Das einzige, was er tun muss, um in den Genuss dieses Freispruchs zu kommen, ist, ihn für sich gelten zu lassen. Die Begnadigung und die damit verbundene Berufung muss angenommen werden.
Die Schuld bleibt also Thema – aber niemals primäres, sondern sekundäres Thema. Die Vergebung der Schuld ist das Vorzeichen vor der Klammer des Menschenlebens. In der Klammer steht alles, was in einem Menschenleben geschieht. Vor der Klammer aber steht die Vergebung, welche die Schuld tilgt, die in der Klammer steht. Darum kann die Schuld niemals primäres Thema werden.
3. Schuld als Verstrickung
Gehen wir einen Schritt zurück. Man kann fragen, was Schuld eigentlich ist und ob von ihr zu reden überhaupt zeitgemäß ist. Muss man nicht von Prägungen sprechen, die dem Menschen mitgegeben sind und für die er nicht haftbar gemacht werden kann? Ist es nicht das Recht und die Pflicht jedes Menschen, sich durchzusetzen im "Kampf aller gegen alle" (lateinisch bellum omnium contra omnes), wie es der englische Philosoph Thomas Hobbes ausdrückte (gest. 1679)? Oder einfacher gefragt: Muss man sich alles gefallen lassen? Muss man sich nicht auch verteidigen, wenn man angegriffen wird?
Die Fragen sind völlig berechtigt. Gehen wir zunächst davon aus, dass Schuld ein Verhalten ist, mit dem ein Mensch einer anderen Kreatur Leid zufügt. Was sollen wir tun, wenn uns Leid zugefügt wird? Niemand ist gehalten, sich selbst aufzugeben um eines anderen Menschen willen, der über ihn bestimmen will. Niemand muss sich einem anderen wehrlos ausliefern. Wir müssen unser Leben schützen, wenn wir weiterleben wollen.
Zugleich muss aber klar sein, dass jeder Mensch in einem Schuldzusammenhang steht, dem er schier nicht entkommen kann. Unsere Gene beinhalten nicht nur positive Veranlagungen, sondern auch negative. Wir werden in eine Welt hineingeboren, in der wir durch zerstörerische Verhaltensweisen anderer geprägt werden, die uns später selber zu zerstörerischem Verhalten treiben. Wir leben in einer Welt, in der wir Angriffen und Aggressionen ausgesetzt sind, die wir, um weiterleben zu können, mit Gegenangriffen und Aggressionen beantworten müssen. Das alles bedeutet, dass wir in schuldhafte Prozesse lebenslang verstrickt sind und darin selber schuldig werden.
Die traditionelle Theologie hat für diese Schuldverstrickung das missverständliche Wort Erbsünde geprägt. Das Wort ist missverständlich, weil es den Anschein erweckt, dass Sünde durch den Sexualakt vererbt werde. Daran knüpfte sich über Jahrhunderte eine sexualfeindliche Haltung der Kirche an. In der Tat können negative Veranlagungen genetisch weitergegeben werden. Das ist aber nur ein kleiner Teil dessen, was wir unter Schuldverstrickungen verstanden. Das Erbe, das wir alle mit uns herumtragen, ist das, was uns durch andere angetan wurde, und es ist das Erbe der Kultur, in der wir leben, das Erbe irregeleiteter Religiosität, das Eingebundensein in Gemeinschaften und Staatswesen, die nicht frei von Schuld sind. In der globalisierten Welt zeigt sich deutlicher denn je, wie viel Mitschuld wir tragen an weltweiten Versäumnissen und Zerstörungen, derer wir uns oft gar nicht bewusst sind.
Es stellt sich jedoch die Frage, wie der Mensch verantwortlich sein kann für Verstrickungen, denen er schuldlos unterworfen ist. Niemand kann etwas für seine genetischen Veranlagungen, niemand ist dafür verantwortlich, wie andere ihn geprägt haben, niemand für die Kultur, in die er hineingeboren wurde. Die Sozialpsychologie weiß jedoch darum, dass jeder Mensch einerseits von den Gemeinschaften, in denen er lebt, geprägt wird, dass er aber andererseits diese Gemeinschaften selber mitprägt. Es besteht also eine Wechselbeziehung zwischen der Gemeinschaft und dem Individuum. Insofern kann sich niemand der Mitschuld daran entziehen, dass die Gemeinschaft so ist, wie sie ist, und dass sie ihn selbst so prägt, wie sie es tut.
4. Schuld als Kernschuld
Der christliche Glaube kennt allerdings noch eine weitere, und zwar entscheidende Dimension der Schuld, die der säkularen Rede von Schuld fremd ist. Der Kern aller menschlichen Schuld ist nach christlichem Verständnis der Unglaube, das Misstrauen Gott gegenüber, oder anders gesagt: die Ablehnung der Gnade und Liebe Gottes durch den Menschen, die Zurückweisung der göttlichen Zuwendung zum Menschen. Diese Zurückweisung ist Schuld, weil der Mensch Gott gegenüber allen Grund hat, dankbar zu sein: dankbar für seine Existenz, für jeden Tag seines Lebens, für alles, was ihm Gutes im Leben widerfährt. Das Versagen dieser Dankbarkeit und die Ignoranz gegenüber Gottes Wohltaten machen den Menschen schuldig.
Vorausgesetzt ist dabei, dass Gott jeden Menschen erschaffen hat, dass er seine Existenz wollte und will, dass er ihm alles gibt, was er zum Leben braucht – und dass er, wenn sein Leben endet, ein Leben in ewiger Freiheit von allem Zerstörerischen und Todbringenden für ihn bestimmt hat. Diese Liebe und die darin gegebene Geborgenheit will der Mensch nicht wahrhaben. Er lebt lieber in selbstgeschaffenen scheinbaren Sicherheiten als in der Geborgenheit eines Gottes, der ihn über alles liebt und für ihn sorgt. Insofern ist der Mensch ein Kostverächter: Er verachtet es, Zuwendung und Trost, Sinn und Ziel seines Lebens geschenkt zu bekommen. Er ignoriert das Vorzeichen vor der Klammer seines Lebens, das Vorzeichen, das sein ganzes Leben in einem hellen Licht erscheinen ließe.
Diese Dimension menschlicher Schuld ist deshalb die entscheidende, weil alle ethischen Verfehlungen des Menschen in dieser Kernschuld ihren Grund haben. Der Mensch, der keinen Gott zu benötigen meint, muss sich selbst zum Gott machen. Wer aber sich selbst zum Maß aller Dinge macht, wird maßlos. Wer die Liebe Gottes ablehnt, ergeht sich in Selbstliebe. Wer sein Leben nicht immer schon in guten Händen weiß, ist gezwungen, sich sein Leben auf Kosten anderer zu sichern. Wer keine Ewigkeit kennt, muss das Zeitliche bis zum Letzten ausbeuten.
Die Kernschuld ist es, die uns in einer Weise leben lässt, dass wir den Schuldverstrickungen nicht entkommen. Wir haben ihnen nichts entgegenzusetzen. Wir sind geneigt, uns den jeweiligen Gemeinschaften, den jeweiligen Mehrheitsmeinungen, den jeweiligen Gewohnheiten und Moden anzupassen. Und auch ein scheinbar auf alle Meinungen und Moden pfeifender Mensch kann seine Außenseiterposition nur einnehmen, wenn er Gleichgesinnte neben sich hat. Um allein gegen den Strom zu schwimmen, fehlt uns die Kraft, weil wir einen Halt außerhalb unserer selbst brauchen.
Der Mensch Jesus hat deutlich gemacht, dass eine Außenseiterposition auch möglich ist, wenn ein Mensch sich ganz von Gott gehalten weiß. Der Lebensweg Jesu zeigte aber auch, dass damit unweigerlich ein Weg des Leidens verbunden ist. Diesen Weg des Leidens zu gehen sind wir in aller Regel nicht bereit, weil wir meinen, unser Leben bewahren und sichern zu müssen. Wir glauben nicht, dass es schon bewahrt und gesichert ist in den Händen des uns liebenden Gottes.
5. Schuld als vergangene Gegenwart (Vom Umgang mit Schuld)
Schuld belastet. Menschen leiden unter ihr – oder verdrängen sie. Das ist ein Schutzmechanismus. Denn wer sich permanent schuldig fühlt, überfordert sich selbst. Es gibt aber einen Weg, die eigene Schuld nicht zu verdrängen und dennoch sich nicht zu überfordern: Es ist der Weg, das sekundäre Thema nicht zum primären zu machen und das primäre nicht zum sekundären. Gottes Vergebung unserer Schuld ist das primäre Thema. Es ist das Vorzeichen unseres Lebens, was immer in diesem Leben passiert. Wenn unsere Schuld uns zur Last wird, können wir uns an das Vorzeichen unseres Lebens erinnern. Das Vorzeichen, die unwiderrufliche Liebe und Gnade Gottes, kann unsere Gefühle bestimmen und uns vor der Verzweiflung bewahren. Mit diesem Vorzeichen des Lebens können wir glückliche Schuldner sein.
Wir müssen dann unsere Schuld nicht verdrängen oder gar uns für unschuldig halten. Damit würden wir zum Ausdruck bringen, dass wir der Gnade Gottes nicht bedürfen. Dann würden wir uns selbst zur Vollkommenheit erheben – zu einem göttlichen Wesen.
Unsere Schuld ist aber da. Doch sie ist vergebene Schuld. Sie ist, wenn sie geschieht, immer schon vergangen, obwohl sie noch gegenwärtig ist. Sie gehört einer alten, vergehenden Welt an. Wenn wir es zulassen, dass sie uns erlassen wird, haben wir den Status der Freigesprochenen, obwohl wir noch Schuldner sind.
So sind wir zwar Schuldige, aber begnadigte, freigesprochene, geliebte und gewollte Schuldige. Dennoch mag unsere Schuld eine peinliche und immer wieder belastende Unruhe bleiben – nicht, um uns zu erniedrigen, sondern um uns zu einem neuen, gänzlich anderen Leben zu erhöhen, zu dem uns Gott befähigen will. Zu diesem Leben reichen unsere eigenen Fähigkeiten nicht aus. Aber das ist ein anderes Thema.
Die Hoffnung all derer aber, die sich auf diesen Gott und seine Befähigungen einlassen, ist eine Zukunft in himmlischer Vollkommenheit nach diesem irdischen Leben; eine Vollkommenheit, in der sie endgültig mit all ihrer Schuld versöhnt sein werden – so wie mit Gott, der schon jetzt die ganze Welt mit sich versöhnt hat, damit wir versöhnt mit ihm leben können (2Kor 5,19f).
* * * * *
bei uns im Konfirmandenunterricht war noch Luthers Beichtgebet auswendigzulernen. Mal sehen, was ich aus dem Kopf noch zusammenbekomme:
"Ich armer, sündiger Mensch klage und bekenne Gott, meinem himmlischen Vater, dass ich nicht allein in Sünden empfangen und geboren bin, sondern die ganze Zeit meines Lebens viele wirkliche Sünden begangen und die allerheiligsten Gebote Gottes gröblich und mannigfaltig, wissentlich und unwissentlich, übertreten habe, mit sündigen Gedanken, Worten und Werken. Solches alles reuet mich und ist mir von Herzen leid, und bitte dich, mein Herr und mein Gott, du wollest dich meiner in Gnaden erbarmen und um des teuren Verdienstes deines lieben Sohnes Jesu Christi Willen mir all meine Sünden aus Gnaden verzeihen und vergeben und nun hinfort zur Besserung meines Lebens deinen heiligen Geist mildiglich verleihen."
Da ist schon so einiges mit verpackt, was traditionellem kirchlichen Denken enspricht. Ich fand diese rituelle Selbstbezichtigung damals schon ziemlich übertrieben. Immerhin mussten wir nicht zur Einzelbeichte wie die Katholischen bei der Erstkommunion. Die meisten, die ich kenne, wussten da nichts Gescheites zu sagen, hätten auch vorsichtigerweise bestimmt nicht das erzählt, was wirklich heikel war, und deshalb wurden Tipps ausgetauscht, was man denn da erzählen könnte.
Schuld und Vergebung sind nach wie vor ein großes Thema für alle, und wenn die Kirchen hier wirklich überzeugend könnten, ginge es ihnen besser. Im Moment sehe ich da aber ein Hin und Her zwischen Tradition und Moderne, bei dem ich keine wirklich schlüssige Position erkennen kann.
Viele Grüße
Thomas
wir mussten im Konfirmandenunterricht gefühlt das halbe Gesangbuch und zig Bibelstellen auswendig lernen, vom Katechismus mal ganz abgesehen. Es war eine Katastrophe, auch wenn ich von manchen Gesangbuchversen bis heute profitiere. Aber für uns Jugendliche war es eine Zumutung, die nur von der Kirche wegführen konnte. Dass wir Luthers Beichtgebet auswendig lernen mussten, erinnere ich nicht. Vielleicht habe ich das aber auch verdrängt.
Das Thema "Schuld" wurde mir dann einige Zeit nach der Konfirmation zu einem Problem, auf das mir der Unterricht natürlich keine Antwort gegeben hatte. Die Befreiung davon habe ich durch Luther und Karl Barth erfahren, die beide Gottes Gnade über alles groß machen.
Die Kirchen machen ja bis heute Gottes Gnade groß, aber es ist, mit Bonhoeffer zu reden, billige Gnade. Also Gnade, die keine Folgen für die Menschen hat. Man behandelt alle Getauften als Christen, egal was sie sonst tun, oder besser gesagt, solange sie sich an den kirchlichen Mainstream halten. Wer niemals einen Gottesdienst besucht, nicht in der Bibel liest und sich auch anderweitig nicht in der Gemeinde engagiert, wird durchaus als Christ behandelt. Wenn er sich aber z.B. gegen die Eröffnung von Moscheen ausspricht (was ich nicht gutheißen will), rümpft man die Nase. Und wer z.B. AfD-nahe Positionen vertritt (was ich natürlich ebenfalls nicht gutheißen will), den würde man am liebsten aus der Kirche rausschmeißen.
Mich würde interessieren, wie für dich eine überzeugende Position der Kirchen zu Schuld und Vergebung aussehen würde? Was würde deiner Meinung nach die Position der Kirchen in dieser Frage attraktiv machen?
Viele Grüße
Klaus
danke für deinen wichtigen Text, der präzise argumentiert und komplex zugleich ist. "Wir haben den Status der Freigesprochen obwohl wir noch Schuldner sind" - auch wenn wir uns als "glückliche Schuldner" fühlen können. Auch wenn wir Schuld heute nicht sofort auf einen Aspekt von weltlicher "Verantwortung" reduzieren sollten, steckt doch im Begriff der Schuld heute ein Impuls uns immer auch selbst die Frage zu stellen, inwieweit dieser Begriff für uns heute nach wie vorund gerade heute lebenswichtig ist. Vielleicht reichen unsere Fähigkeiten nocht aus aber sie werden doch zumindest angesprochen und aktiviert: Wie kann ich es vermeiden in Zukunft weiterhin schuldig zu werden? Dieser Frage kann ich permanent nicht ausweichen ...
Beste Grüße
Michael
danke für deine Rückmeldung. Ich denke, uns bleibenden Schuldnern ist es unmöglich, nicht schuldig zu werden. Als Beziehungswesen ist es für uns fatal, dass die Beziehungsebenen (Mensch - Gott, Mensch - Mitmensch, Mensch - Kreatur) offensichtlich gestört sind. Insofern gilt: Wir können nicht nicht schuldig werden, ebenso wie wir nicht nicht kommunizieren können. Wir können aber von der Vergebung unserer Schuld her leben und um die Kraft Gottes, welche die Kraft der Liebe ist, bitten. Darin besteht unsere Menschenwürde.
Viele Grüße
Klaus
du stellst mir mal eben so die Frage, wie die Kirchen denn wohl eine überzeugende Position zu Schuld entwickeln sollten. Schwierig zu beantworten, erst recht im Umfang eines solchen Kommentars. Die katholische Kirche hat mit ihrer Sündenbuchhaltung, ihrer Nutzung von Schuldgefühlen von Menschen zum eigenen Machtausbau und zur materiellen Bereicherung viel falsch gemacht. Luther hat damit in seiner Lehre komplett gebrochen, was in der konkreten Situation richtig war, es aber vielleicht nicht für alle Zeiten ist, eben wegen des Problems der "Billigen Gnade".
Wenn ich die Bibel lese, finde ich viele Beispiele für Sünde, Strafe, Buße und Vergebung. Die Sintflut, Sodom und Gomorra. Jakob, der seinen Bruder Esau um sein Erstgeburtsrecht betrügt, aber letztlich damit erfolgreich wird, während Esau eine Randfigur bleibt. David, der die Ehe von Batseba und Uria bricht und obendrein Uria im Krieg verheizen lässt. Er wird von Nathan gestellt, tut Buße, bekommt Strafe (das Kind stirbt). Aber letztlich kommt er auch damit durch. Das zweite Kind, Salomo, wird sogar ein bedeutender König. Uria dageben bleibt eine Randfigur.
Schließlich Jesus. Eigener Umgang mit Schuld "der werfe den ersten Stein", d. h. keiner soll sich über den anderen erheben, weil jeder irgendwo sündig und mit Schuld behaftet ist. Dann seine Kreuzigung als stellvertretende Strafe. Ein Mechanismus, der sich bereits anderweitig andeutet (Sündenbockverfahren oder auch Jona-Mythos), aber irgendwo auch absurd und ungerecht wirkt, wenn man darüber nachdenkt. Dann Paulus, der erfolgreichste Missionar aller Zeiten, der mit seinem Erlösungsversprechen (z. B. Kolosser 2,14) ins Schwarze trifft, was aber vielleicht auch nur situativ richtig war und knapp 2000 Jahre später nicht mehr ohne weiteres nachzusprechen ist.
Kirche sollte aus meiner Sicht aufhören, so zu tun, als wäre sie in der Lage, aus dem in der Bibel vorgefundenen, von ganz verschiedenen Autoren aus ganz verschiedenen Zeiten stammenden inhomogenen Material eine schlüssige und ein für alle Mal gültige Gesamttheorie zu schaffen. Das muss ggf. mit so vielen Zusatzannahmen versehen werden, dass es sehr esoterisch wirkt und trotzdem in sich noch zu Problemen führt (Machtmissbrauch der Kirche vs. Billige Gnade).
Ich denke, Kirche könnte individuell bei Menschen, die spezielle Probleme mit ihrer Schuld und Schuldverstrickung haben, mit Hilfe der verschiedenen, uralten, und bewährten Ansätze der Bibel bei der Aufarbeitung helfen. Aber die Lösung ein für allemal und für alles hat die Kirche nicht und da sollte sie auch ehrlich sein.
In Stichworten ist mir zu diesem Thema noch ein Gedicht von Fontane eingefallen:
Die Flut steigt bis an den Arrarat
Und es hilft keine Rettungsleiter,
Da bringt die Taube Zweig und Blatt –
Und es kribbelt und wibbelt weiter.
Es sicheln und mähen von Ost nach West
Die apokalyptischen Reiter,
Aber ob Hunger, ob Krieg, ob Pest,
Es kribbelt und wibbelt weiter.
Ein Gott wird gekreuzigt auf Golgatha,
Es brennen Millionen Scheiter,
Märtyrer hier und Hexen da,
Doch es kribbelt und wibbelt weiter.
So banne Dein Ich in Dich zurück
Und ergieb Dich und sei heiter;
Was liegt an Dir und Deinem Glück?
Es kribbelt und wibbelt weiter.
Viele Grüße
Thomas
danke für deine ausführliche Stellungnahme. Vielleicht ist es leichter zu sagen, wovon sich die Kirchen verabschieden sollten. Du benennst ja Einiges: Sündenbuchhaltung, Nutzung von Schuldgefühlen zum Machtausbau und zur materiellen Bereicherung. Auf der anderen Seite billige Gnade. Darin sehe ich auch ein Problem.
Die biblischen Geschichten, die du nennst, erinnern mich an das Moment der Strafe, das in ihnen vorkommt. Vielleicht sollte das auch mal wieder ernster genommen werden, wenn auch nicht als Prinzip, das immer und überall festzustellen ist. Strafe könnte man dabei einerseits als Akt Gottes verstehen, andererseits aber auch als Folge des Fehlverhaltens selber: Die Strafe ist mit dem Fehlverhalten schon mitgegeben und bedarf gar keines zusätzlichen Aktes Gottes mehr. Aber es ist schon richtig, dass man daraus kein System machen darf, das immer und überall zutrifft.
Mit einer Gesamttheorie ist es also schwierig, da stimme ich dir zu. Andererseits sollte die Theorie aber in sich schlüssig sein. Die Schlüssigkeit könnte aber auch darin bestehen, dass gerade nicht ein Schema entwickelt wird, das für alle Situationen gilt, sondern dass man unterschiedliche Situationen mit Hilfe unterschiedlicher biblischer Geschichten zu deuten versucht. So verstehe ich auch deinen Absatz vor dem Gedicht.
In dem Gedicht wird schön deutlich, was wohl ein Hauptaspekt der Gnade Gottes trotz aller menschlichen Schuld und Zerstörung ist: die Schöpfung besteht weiter. Er erträgt uns noch. Er macht uns keine Ende, sondern lässt uns leben. Er bewahrt seine Schöpfung, zu deren Bewahrung wir offensichtlich nicht in der Lage sind. Ich kann für mich sagen: Das ist meine Hoffnung und nicht unser oft wenig Hoffnung erweckendes Verhalten.
Viele Grüße
Klaus