Jesus und die Queen als Identifikationsfiguren
Klaus Straßburg | 10/09/2022
Vorgestern ist Queen Elisabeth II. gestorben. Weltweit trauern Menschen um sie: Die Flaggen wehen wahrscheinlich in allen 56 Staaten, die zur britischen Commonwealth-Gemeinschaft gehören, auf Halbmast. Unmengen von Blumen werden für die Queen abgelegt, unzählige Tränen werden geweint. Menschen sind geschockt, obwohl die Königin schon 96 Jahre alt war und man mit ihrem baldigen Tod rechnen musste.
1. Wir brauchen Menschen, mit denen wir uns identifizieren können
Ich weiß nicht, was für ein Mensch die Queen war. Aber offensichtlich war sie für viele Menschen eine Sympathieträgerin und eine Identifikationsfigur.
Wir brauchen wohl solche Menschen, mit denen wir uns identifizieren können: Menschen, die etwas darstellen, was wir vermissen, die uns tief beeindrucken und die uns ein Vorbild des Menschseins sind. Denn wie alt wir auch sind, wir sind unser Leben lang auf der Suche nach uns; wir sind niemals ganz eins mit uns. Darum tut es gut, Menschen zu kennen, die das ausdrücken, was wir an uns selbst und an anderen vermissen.
Mit solchen Menschen identifizieren wir uns, so dass wir Anteil bekommen an dem, was uns an ihnen so tief beeindruckt. Es wird sozusagen ein Teil von uns. Wir projizieren unsere Wünsche und Vorstellungen vom Menschsein auf sie und denken: So wie dieser Mensch ist, so sollten alle Menschen sein. Dann wäre das Leben einfacher, erträglicher, menschlicher.
Andere moderne Identifikationsfiguren sind zum Beispiel: Mahatma Gandhi, der Dalai Lama, die Päpste oder Mutter Theresa. Aber auch Stars der Musikszene und des Sports bieten vielen Menschen Orientierung. All dies sind Menschen, die herausragen, weil sie vielen Menschen etwas zu sagen haben.
Ich weiß noch, wie wichtig in meiner Jugend meine musikalischen Helden für mich waren: Ich wollte wenigstens ein wenig von ihnen haben, habe mit ihren Liedern Gitarre spielen gelernt und habe mich dann, wenn ich ihre Songs spielte, ein bisschen wie sie gefühlt. So konnte ich mich größer fühlen, als ich war.
Ich denke, den Erwachsenen geht es nicht anders. Sie haben vielleicht andere Vorbilder, aber ohne Vorbilder kommen auch sie nicht aus.
2. Was die Queen so wichtig für viele Menschen machte
Was hat die Queen so wichtig für viele Menschen gemacht? Ich könnte mir vorstellen, dass sie, besonders in ihrem hohen Alter, ganz einfach menschlich wirkte. Man konnte an ihr bewundern, wie sie noch mit über 90 Jahren ihre Aufgaben erfüllte und dabei Menschlichkeit und Würde ausstrahlte – vielleicht sogar so etwas wie Weisheit. So vermittelte sie etwas von der Würde des Menschseins. Sie hatte ja eigentlich keine Macht. Aber gerade dies könnte sie so sympathisch gemacht haben: dass sie, ohne Macht zu haben, durch ihre Persönlichkeit und ihre Worte Autorität hatte und Orientierung bot. Immerhin verband sie als Oberhaupt der Commonwealth-Gemeinschaft 56 Staaten mit fast einem Viertel der Weltbevölkerung miteinander und wurde so auch zum Symbol weltweiten Zusammenhalts und Friedens.
Damit deckte sie etwas ab, wonach sich wohl die meisten Menschen sehnen: Sie möchten als ein Mensch wahrgenommen werden, der eine Würde hat, die ihm nichts und niemand nehmen kann. Sie sehnen sich nach einem menschlichen Miteinander und einer menschlichen Welt. Sie suchen Orientierung in einer unübersichtlichen Welt und wünschen sich Zusammenhalt und Frieden unter den Menschen. Wahrscheinlich fanden viele Menschen dies alles und sicher noch mehr in der Queen: Sie schauten ihr ins Herz und entdeckten dort ihre geheimsten Sehnsüchte.
3. Mit Jesus kann man sich identifizieren
Als ich die Bilder der um die Queen trauernden Menschen sah, habe ich mich gefragt, warum Jesus für viele Menschen keine solche Identifikationsfigur ist.
Jesus lebte vor 2.000 Jahren. Es gibt keine Bilder von ihm und seinem Wirken. Man kann ihn nicht live erleben und seine Worte nicht hören. Vielen Menschen ist er einfach nur eine antike Gestalt. Sie kennen ihn nicht und können nicht in sein Herz schauen. So bleibt er ihnen ein Fremder, der ihnen nichts zu sagen hat.
Dabei ist von kaum einem antiken Menschen so viel bekannt wie von Jesus. Die biblischen Geschichten erzählen von seinen Worten und Taten. Sie liefern keine exakten Reportagen über das, was er sagte und tat, so wie es heute Radio und Fernsehen tun. Aber sie zeichnen ein treffendes Bild seiner Persönlichkeit. Die Menschen seiner Zeit jedenfalls waren von seiner Person offenbar tief beeindruckt.
Vielleicht verspüren heute viele Menschen auch deshalb eine Distanz zu Jesus, weil er als Sohn Gottes bezeichnet wird. Ein Sohn Gottes scheint von uns "normalen" Menschen meilenweit entfernt. Mit ihm kann man sich schlecht identifizieren, denn wir sind nun mal keine Söhne Gottes. Oder doch?
Immerhin nennt das Neue Testament diejenigen, die an Jesus glauben, Kinder Gottes (z.B. Joh 1,12). Die Glaubenden werden also Jesus, dem Sohn Gottes, in gewissem Sinne gleichgestellt. Er bleibt dennoch von ihnen in der Weise unterschieden, dass er vollkommen mit Gott, seinem und unserem Vater, eins ist, was man von keinem anderen Menschen behaupten kann.
Der römische Statthalter Pontius Pilatus stellte nach Joh 19,5 den ausgepeitschten und mit einer Dornenkrone verspotteten Jesus vor die Menschenmenge und sagte: "Siehe, der Mensch" (das bekannte lateinische "Ecce homo").
Demnach ist der unschuldig geschundene Jesus das Urbild eines jeden Menschen. Er zeigt zum einen, wie wir nach Gottes Willen sein sollen, nämlich unschuldig und voller Liebe. Und er zeigt zugleich, wie wir tatsächlich sind, nämlich schuldig, und wozu wir von unseren Mitmenschen gemacht werden, nämlich zu einem verurteilten und geschundenen Wesen. Dadurch, dass Gott den verurteilten und hingerichteten Jesus von den Toten auferweckt hat, zeigt Jesus außerdem, was wir in Gottes Augen sind: schuldige, aber dennoch geliebte und zum Leben berufene Menschen.
Weil Jesus das Urbild des Menschen ist, dürfen wir uns nicht nur mit Zöllnern und Sündern identifizieren, sondern auch mit Jesus. Jesus will Mensch unter Menschen sein. Er will vorangehen, damit wir ihm nachfolgen. Er zeigt uns, wie Gott uns gedacht hat und dass wir ganz anders sind, als Gott uns gedacht hat. Er zeigt uns, was andere Menschen für uns bestimmt haben und was Gott trotz unserer Unvollkommenheit für uns bestimmt hat.
4. Wir sollten von dem Jesus an unserer Seite sprechen
Die Kirchen und Gemeinschaften, alle Christinnen und Christen sollten versuchen, Jesus den Menschen unserer Zeit so nahezubringen:
- Jesus ist einer von uns. Er ist kein jenseitiges Wesen, sondern ein diesseitiges, ein Mensch an unserer Seite. Er ist Gott nur deshalb, weil er dieser Mensch an unserer Seite ist. Und er ist dieser Mensch nur, weil er mit Gott eins ist. Deshalb lässt sich in Jesus Gott selbst ins Herz schauen.
- Jesus ist kein längst Verstorbener aus grauer Vorzeit, sondern er ist lebendig unter uns. Wir können ihn nicht sehen, aber er sieht uns und bewirkt verborgen Gutes unter uns.
- Jesus hat uns etwas zu sagen. Er weiß um unsere Nöte, weil er sie selbst durchlitten hat. Und er zeigt uns, dass wir durch nichts und niemanden unsere Würde verlieren können, weil Gott uns würdigt, seine Kinder zu sein.
- Jesus ist ein einzigartiges Vorbild. Er will uns Orientierung bieten und ruft uns zu Frieden, Gerechtigkeit, Mitmenschlichkeit, Zusammenhalt. Er weiß, dass wir uns, um dies alles zu erreichen, zurücknehmen und vielleicht auch leiden müssen. Darin besteht die Macht, welche die Welt verändert und zu einer lebenswerten Welt für alle macht.
Vielleicht sind wir viel zu schüchtern, den Menschen Jesus groß zu machen. Vielleicht glauben wir lieber an den fernen Gott im Jenseits als an den nahen im Diesseits. Vielleicht identifizieren wir uns lieber mit einem allmächtigen Gott als mit einem im Leiden mächtigen Menschen.
Wir sollten öfter fragen: Was würde Jesus dazu sagen? Was würde er heute tun? Solche Fragen werden schnell als naiv abgestempelt. Manche sagen: Das ist überheblich. Wir können doch gar nicht wissen, was Jesus dazu sagen würde und was er heute tun würde. Auf diese Weise kann man Jesus schnell ausschalten, ihn mundtot machen und in große Ferne rücken.
Dabei könnte Jesus ein einzigartiger Sympathieträger und eine große Identifikationsfigur sein – wenn wir uns auf ihn als einen Menschen an unserer Seite einließen.
* * * * *
Foto: Pexels auf Pixabay
Du schreibst: Jesus zeigt sich uns als Mensch an unserer Seite. Er weiss, daß wie uns zurücknehmen und leiden müssen.
Unsere Gesellschaft heute erwartet das genaue Gegenteil: "Werde du selbst, sei authentisch, lebe kreativ, sei dein eigener Mittelpunkt". In dieser systematisch, verzerrten Wirklichkeit ist es für die meisten schwer Jesus als einzigartige Orientierungsfigur zu sehen.
ja, genau so ist es! Selbstverwirklichung wird als Gegensatz zur Selbstzurücknahme verstanden, obwohl wir uns gerade dadurch verwirklichen könnten, dass wir uns selbst auch zurückzunehmen lernen. Freiheit wird als Gegensatz zur Bindung verstanden, obwohl wir gerade in der Bindung an die "Macht der Liebe" (gemeint ist Gott in seiner Liebe) frei werden. Leid wird weit weggeschoben und soll möglichst vermieden werden, obwohl es unabänderlich zu unserem Leben gehört und wir es leichter annehmen könnten, wenn wir uns bewusst machen würden, dass Jesus als Leidender an unserer Seite steht. Man sieht daran, wie der von Gott entfremdete Mensch sich unweigerlich auch von sich selbst entfremdet und sich der Möglichkeit beraubt, im Glauben inneren Frieden zu finden (einmal etwas thesenartig formuliert).