Jede Jeck is anders
Klaus Straßburg | 19/02/2023
Ich komme aus Minden in Ostwestfalen-Lippe. Das sagt eigentlich alles. Dort ist man hauptsächlich evangelisch und hat folglich mit Karneval nichts am Hut. Karneval gab es bei uns nicht, und wenn es ihn irgendwo gab, dann wurde er ignoriert. Ganz Minden war von Karneval frei.
Ganz Minden? Nein! Ein von unbeugsamen Karnevalisten bevölkertes Haus hörte nicht auf, dem Karneval Einlass zu gewähren. Und das war unser Haus.
Es gab wahrscheinlich noch viel mehr Häuser dieser Art. Aber das ging an mir vorbei, denn ich war noch klein. Aber ich weiß, dass meine Mutter am Rosenmontag schon vormittags den Schwarzweiß-Fernseher anstellte. Und allein das war schon eine Sensation; denn vormittags wurde bei uns sonst nie ferngesehen.
Aber am Rosenmontag war es anders. Und meine Mutter ließ ihre Hausarbeit Hausarbeit sein und guckte in die Röhre, um die Rosenmontagsumzüge in Köln, Düsseldorf, Mainz und was weiß ich wo zu sehen.
Ich weiß bis heute nicht, was meine Mutter zu dieser revolutionären Tat veranlasste. Vielleicht, so kann ich nur mutmaßen, wurde doch am nächsten Tag hier und da über die Rosenmontagsumzüge, die man im Fernsehen gesehen hatte, getuschelt. Und da wollte meine Mutter natürlich nicht zurückstehen.
Aber vielleicht war sie auch wirklich interessiert. So wirkte es jedenfalls auf mich. Und opportunistisch war sie noch nie. Also guckte sie Karneval, auch wenn es sonst niemand tat.
Ich saß auf dem Fußboden und guckte auch. Die vielen Wagen mit den komischen Figuren waren schon interessant – jedenfalls eine Zeit lang. Von den Kamellen hätte ich sicher auch gern ein paar gehabt, aber die kamen nun mal nicht aus dem Fernseher.
Wenn Rosenmontag vorbei war, war für uns auch Karneval vorbei. Mit Karneval hatte man bei uns, wie gesagt, nichts am Hut.
Das geht mir bis heute so. Karneval spricht mich nicht an. Aber eins find ich richtig gut: Den kölschen Satz Jede Jeck is anders.
Zum einen hat der Satz eine selbstkritische Note: Im Karneval sind alle Jecken. Zu Hochdeutsch: Narren.
Was ist ein Narr? Heute gibt es keine Hofnarren mehr wie im Mittelalter. Heute ist "Narr" eher ein Schimpfwort. Vielleicht könnte man sagen: Ein Narr ist ein Törichter, Unwissender, Unweiser, Dummer.
Der kölsche Satz sagt also: Wir sind alle irgendwo unwissend, dumm, töricht. Wir sind nicht die Klugen, Wissenden und Weisen, für die wir uns oft halten. Und wir dürfen sogar närrisch und töricht sein – und darüber lächeln.
Nicht dass es eine Tugend ist, töricht und dumm zu sein (außer natürlich im Karneval). Aber wenn man schon mal etwas Törichtes und Dummes getan hat, dann tut es gut, darüber lachen zu können.
Aber der Spruch hat auch noch eine andere Note: eine tolerante. Denn er sagt: Anders zu sein ist nichts Befremdliches, sondern das Normale. Jede Jeck is evve (eben) anders. Und das ist auch gut so.
Was wäre das für eine langweilige Welt, wenn wir alle gleich wären!? Man stelle sich das einmal vor! Es gäbe nichts Interessantes mehr am anderen, nichts Spannendes, nichts Bereicherndes. Wir würden in jedem anderen immer nur – uns selbst erkennen. Davor sei der Himmel!
Apropos Himmel: Gott ist auch tolerant. So tolerant sogar, dass er den Widerspruch gegen sich selbst erträgt und nicht alles zermalmend mit der Faust auf den Tisch haut – oder auf unsere Welt.
Damit entspricht Gott der lateinischen Grundbedeutung des Wortes tolerantia, das nämlich folgende Haltung beschreibt: etwas ertragen, was eigentlich nicht sein sollte. Naja, eigentlich ist es natürlich umgekehrt: Die lateinische Grundbedeutung entspricht dem, was Gott tut. Er erträgt nämlich den Widerspruch gegen sich in Geduld und – leidet darunter.
Wir haben dem Wort Toleranz heute eine andere Bedeutung gegeben. Eine ziemlich jeckiche. Meistens meinen wir mit Toleranz eine Haltung, die alles als gleichermaßen gültig betrachtet. Das würde dem Satz entsprechen: Jede Jeck hätt rääch (hat recht).
Bezogen auf die verschiedenen Religionen würde das heißen: Jede Religion hat recht. Oder besser noch: Alle Religionen sagen das gleiche. „Wir glauben alle an denselben Gott", ist dann zum Leitsatz geworden. All Jecken jlauve dasselbe.
Das glaub ich nicht. Denn dass jede Jeck anders ist und glaubt, ist damit vollständig eingeebnet. Und welche Jeck glaubt eigentlich wirklich, dass alle Jecken dasselbe glauben? Man muss schon ziemlich jeckich sein, um das für wahr zu halten.
Es gibt nämlich keinen gemeinsamen Nenner aller Religionen. Nicht einmal in der Mystik. Die meisten Juden und Muslime würden sich strikt dagegen verwehren, wenn wir behaupten würden, sie glaubten an denselben Gott wie wir.
Der Einheitsbrei der Religionen ist das Ergebnis eines Harmonisierungswunsches, der alle Unterschiede einebnet. Man könnte auch sagen: Er ist eine Reduktion von Komplexität. Denn die Religionen sind viel zu komplex, als dass man sie auf einen mystischen Einheitskern zusammenstauchen könnte.
Das hat auch mit Toleranz nichts zu tun. Denn indem man die Unterschiede zwischen den Religionen einebnet, gibt es nichts und niemanden mehr zu tolerieren. Es ist ja sowieso alles eins.
Aber diese Haltung ist nicht nur nicht tolerant, sondern sogar gefährlich. Denn sie kann dazu beitragen, den religiösen Fundamentalismus zu fördern, der sich gegen die Einebnung und Vergleichgültigung wesentlicher Glaubensaussagen zur Wehr setzt.
Damit ist nicht der religiöse Fundamentalismus gerechfertigt, sondern auf eine Gefahr der vornehmlich westlichen Harmonisierungssehnsucht hingewiesen. Der Fundamentalismus ist nicht minder gefährlich, weil er mit seinem Absolutheitsanspruch eben jene Reaktion der Harmonisierung mitbewirkt.
Beide, Harmonisierungssehnsucht und Fundamentalismus, reduzieren Komplexität. Und beide tun sich schwer damit, die Andersartigkeit des anderen auszuhalten. Aber was ist so schwer daran? Vielleicht der Umstand, dass wir selbst so verunsichert sind in Glaubensfragen?
Dem Satz Jede Jeck is anders zu entsprechen, würde heißen: Wir ertragen den Widerspruch der Andersglaubenden. Wir halten es aus, dass unser Glaube in Frage gestellt wird. Ja, wir können es vielleicht sogar als Bereicherung erfahren. Denn die Fragen des Andersglaubenden führen uns dazu, unseren eigenen Glauben zu überdenken und zu präzisieren.
Das wäre allemal schwerer, als den Andersglauben einfach mal abzuschaffen. Aber es wäre auch weiterführender. Vor allem aber liebevoller. Denn dann würden wir den anderen mit seinem andersartigen Glauben ernst nehmen – auch wenn wir darunter leiden müssen. Und dafür wäre uns ja der christliche Gott ein gutes Beispiel.
Denn Gott nimmt uns so, wie wir sind, auch wenn wir eigentlich anders sein sollen. Insofern ist Gott Karnevalist. Denn er weiß: Jede Jeck is anders.
Der erste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Konrad Adenauer, soll übrigens hin und wieder gesagt haben: "Man muss die Menschen nehmen, wie sie sind. Es gibt keine anderen." Er war ein Kölner ...
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Foto: Ben Kerckx auf Pixabay.
Danke für diese Aufklärung über den Humor. Als gebürtige Ostwestfalen haben wir ja Humor wirklich bitter nötig. Ich las gerade etwas von Woody Allen: "Die Ewigkeit dauert lange. Vor allem gegen Ende." Man sollte doch immer auch lachen können dürfen ...
In diesem Sinne: Minden?? ALAAF!!!!
HG Michael
"das Gelächter ist der Hoffnung letzte Waffe" (Harvey Cox, amerikanischer Theologe). Es lebt von der christlichen Hoffnung auf eine neue Welt und ist zugleich Protest gegen Unrecht, Gewalt und Tod in der gegenwärtigen Welt. Darum gehört Lachen zur christlichen Existenz.
Viele Grüße
Klaus