Ist jetzt die Zeit der Feindesliebe?
Klaus Straßburg | 12/06/2023
Vor ein paar Tagen habe ich einen echten Promi gesehen: den ehemaligen Bundesminister Thomas de Maizière.
Bisher kannte ich ihn nur aus dem Fernsehen. Er wirkte immer ganz sympathisch auf mich: ruhig und bedacht. Keiner, der polemisch und aggressiv Politik betreibt. Einer, der überlegt, bevor er spricht. Und ich habe nun tatsächlich etwas von ihm gelernt – oder besser gesagt: Ich habe etwas gelernt, indem ich durch ihn zum Nachdenken angeregt wurde.
De Maizière bekennt sich als Christ. Darum ist er auch Präsident des Evangelischen Kirchentages, der gerade in Nürnberg zu Ende gegangen ist. Und bei dieser Gelegenheit habe ich ihn auch live gesehen.
1. Was ist der höchste Wert?
Es war auf einer Veranstaltung zur evangelischen Friedensethik. De Maizière hielt das Einführungsreferat – mit lauter Stimme und mit Jeans. Sympathisch wie immer, und seine Stimme ließ keinen Zweifel daran, dass er von dem, was er sagte, überzeugt war. Er wollte keine persönliche Stellungnahme zur Friedensethik abgeben, sondern den Stand der Diskussion skizzieren.
Dabei spitzte er die entscheidende Frage in der gegenwärtigen Diskussion um die Friedensethik so zu: Entweder das Leben ist der höchste Wert; dann darf ein Land seine Freiheit nicht militärisch verteidigen, weil es dadurch Leben auslöschen würde. Oder die Freiheit ist der höchste Wert; dann darf ein Land seine Freiheit verteidigen, auch wenn dabei Leben geopfert wird. Denn der Wert der Freiheit steht höher als der Wert des Lebens.
Ich habe bisher immer das Leben als den höheren Wert eingeschätzt. Als ich aber über de Maizières Zuspitzung nachdachte, kam mir noch ein ganz anderer Gedanke.
Wenn ich die biblischen Aussagen dazu überdenke, was der höchste Wert ist, dann ist das weder das Leben noch die Freiheit. Der höchste Wert ist vielmehr eindeutig die Liebe.
Jesus antwortete auf die Frage, was das größte Gebot sei (Mt 22,37-39):
Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Denken. Dies ist das größte und erste Gebot. Das zweite aber ist ihm gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.
Paulus drückte es so aus (1Kor 13,1f.13):
Wenn ich mit Menschen- und Engelszungen rede, habe aber die Liebe nicht, so bin ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich aus Eingebung rede und alle Geheimnisse weiß und alle Erkenntnis und wenn ich allen Glauben habe, so dass ich Berge versetze, habe aber die Liebe nicht, so bin ich nichts. [...] Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.
Die Liebe ist also der höchste Wert – höher als das Leben und die Freiheit. Bei den Werten Leben und Freiheit geht es ja meist um unser eigenes Leben und unsere eigene Freiheit. Sie sollen auch in einem Krieg verteidigt werden. In der Liebe aber geht es nicht um etwas Eigenes, sondern um etwas, was dem Nächsten zukommt: um des Nächsten Wohlbefinden, um sein Heil und seine Heilung, um sein Leben und sein Glück.
2. Der Ernstfall der Nächstenliebe
Jesus und Paulus stellen also das Wohlergehen des Nächsten in den Mittelpunkt. Und bei den Nächsten geht es nicht nur um unsere Freunde oder die, die uns sympathisch sind, sondern auch um unsere Feinde.
Hören wir noch einmal Jesus (Mt 5,44-47):
Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. [...] Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden?
Die Freunde zu lieben ist das, was alle tun. Liebe, die sich an Jesus orientiert, zeichnet sich dadurch aus, dass sie auch die Feinde liebt. Die Feindesliebe ist der Ernstfall der Nächstenliebe.
Diese Liebe ist keine Kuschelangelegenheit. Mit dem Feind liegt man sich nicht in den Armen. Man sieht ihn am liebsten von hinten. Und dennoch sucht man in der Liebe, die Jesus meinte, sein Wohlergehen. Man sucht es auch dann noch, wenn der Feind mir selbst an den Hals geht; wenn mein eigenes Leben auf dem Spiel steht.
Wenn man das Leben und Wohlergehen auch der Feinde sucht, kann das bedeuten, dass man selber Leben und Wohlergehen hingeben muss. Nirgends wird so deutlich wie hier, dass es bei dem, was Jesus und Paulus mit Liebe meinten, nicht um ein nettes und für beide Seiten erhebendes Miteinander geht. In dieser Liebe geht es vielmehr im Extremfall – um Leben und Tod.
Wir hören das nicht gern. Wir glauben lieber an die Liebe, bei der es allen gut geht. Aber diese Liebe ist eine romantische Illusion. Zum Lieben gehört das Leiden. Billiger ist die Liebe nicht zu haben. Wer an der Liebe festhält, auch wenn der andere ihn angreift, begibt sich freiwillig ins Leiden. Das gilt für das persönliche Leben ebenso wie für das Verhältnis der Staaten zueinander.
3. Den Angreifer lieben?
Aber nun stellt sich eine entscheidende Frage: Kann es nicht sein, dass sich Feindesliebe und Nächstenliebe ausschließen – dann nämlich, wenn ich einen Angreifer aus Liebe schone und dadurch dem Angegriffenen die Unterstützung versage? Muss ich nicht die Feindesliebe hintanstellen und zuerst gegenüber dem Angegriffenen Nächstenliebe üben? Mit anderen Worten: Widerstreitet die Feindesliebe der Nächstenliebe?
Wenn die Feindesliebe wirklich der Ernstfall der Nächstenliebe ist, kann das eigentlich nicht sein. Aber bedenken wir die Frage einmal am konkreten Fall des Ukraine-Krieges, der natürlich auch bei Thomas de Maizières Überlegungen im Hintergrund stand.
Die Befürworter einer militärischen Unterstützung der Ukraine könnten sagen: Zuerst müssen wir das Opfer lieben, also die Ukraine, und nicht den Angreifer Russland. Deshalb müssen wir der Ukraine Waffen liefern, damit sie ihre Freiheit verteidigen kann, auch wenn es den Krieg verlängert und viele Menschen das Leben kostet.
Die Gegner einer militärischen Unterstützung der Ukraine könnten sagen: Wir müssen beide lieben, auch den Angreifer. Deshalb dürfen wir den Krieg nicht durch Waffenlieferungen an die Ukraine verlängern, weil das viele Menschen das Leben kostet, auch wenn die Ukraine damit einen Teil ihrer Freiheit verliert.
Aber Moment mal! Jetzt sind wir ja wieder bei der Frage angekommen, ob Freiheit oder Leben der höhere Wert ist. Gleichsam durch die Hintertür ist diese Frage wieder auf den Plan getreten.
Ist also der Widerspruch zwischen Nächstenliebe und Feindesliebe doch unüberwindbar?
Ein absoluter Pazifist würde jetzt sagen: Wenn man strikt an der Feindesliebe festhält, gibt es keinen Widerspruch zwischen Nächsten- und Feindesliebe. Ich finde, dass ein solcher Standpunkt unbedingt zu würdigen ist. Dennoch bin ich kein absoluter Pazifist.
Ich würde daher antworten: Es kann in unserer unerlösten Welt Situationen geben, in denen ich zwischen der Liebe zum Opfer und der Liebe zum Angreifer wählen muss. Die Entscheidung muss dann für das Opfer fallen, so dass die Feindesliebe auf der Strecke bleibt.
Ein Widerspruch zwischen Nächsten- und Feindesliebe kann also dann eintreten, wenn ich nicht selber das Opfer eines Angreifers bin, sondern ein anderer, und ich selbst vor der Entscheidung stehe, ob ich ihm gegen den Angreifer helfen soll oder nicht.
Bezogen auf den Ukraine-Krieg würde das heißen: Christliche Nächstenliebe gegenüber den Menschen in der Ukraine bedeutet, ihnen Waffen zu liefern, damit sie sich gegen den Angreifer zur Wehr setzen können. Die Feindesliebe muss dahinter zurücktreten.
4. Einen Ausgleich suchen?
Diesen Standpunkt kann ich jedoch nicht vertreten. Und zwar deshalb, weil ich eine solche Situation, in der entweder nur Nächstenliebe oder nur Feindesliebe möglich ist und ich mich deshalb für eins von beiden entscheiden muss, gegenwärtig im Urkraine-Krieg nicht sehe. Ich sehe vielmehr eine Reihe von Möglichkeiten, zu einem Ausgleich zwischen der Ukraine und Russland zu kommen. Meine These ist darum: Wenn ich nach einem Ausgleich mit dem Feind suche, helfe ich in diesem Fall zugleich auch dem Angegriffenen.
Der Ausgleich zielt ja darauf, den Krieg zu beenden. Das verlangt einen Kompromiss. Dann müssten beide Seiten ihre Maximalforderungen aufgeben. Für den Ukraine-Krieg würde das bedeuten: Die Ukraine müsste wahrscheinlich Landstriche abgeben. Russland müsste auf eine Eroberung der ganzen Ukraine verzichten. Die Ukraine dürfte der EU, nicht aber der NATO beitreten. Russland müsste die Westorientierung der Ukraine hinnehmen und sich dazu verpflichten, sie nicht erneut anzugreifen. Natürlich müssten diese und auch andere Punkte noch konkret ausgehandelt werden.
Der Gewinn solch einer Lösung bestände darin, dass tausende, wenn nicht zigtausende von Menschenleben gerettet würden und der Krieg durch einen Waffenstillstand beendet würde. Die Menschen beider Länder würden davon profitieren.
Allerdings würde das nicht bedeuten, dass das Leid ein Ende hat. Die Ukraine würde einen nicht unbeträchtlichen Teil ihres Landes verlieren. Die ukrainefreundliche Bevölkerung in diesen Gebieten würde vielleicht unterdrückt oder müsste ihre Heimat verlassen und in die Restukraine umsiedeln. Die russlandfreundliche Bevölkerung in diesen Gebieten müsste fortan unter dem Autokraten Putin leben. Aber das würde sie wahrscheinlich nicht stören, weil sie ja russlandfreundlich eingestellt ist.
5. Leidende Feindesliebe
Wir erinnern uns: Liebe, und vor allem Feindesliebe, bedeutet nicht, dass das Leid aufhört. Es bedeutet vielmehr, dass man bereit ist, Leid in Kauf zu nehmen um der Liebe willen.
Leid in Kauf zu nehmen kann natürlich niemand der Ukraine vorschreiben. Sie muss selbst entscheiden, wie lange sie sich verteidigen und wie viel Leid sie dafür in Kauf nehmen will. Allerdings tragen auch diejenigen, die Waffen zur Verfügung stellen, Verantwortung dafür, dass durch die Lieferung dieser Waffen Nächsten- und Feindesliebe nicht vollkommen unmöglich werden.
Das heißt für mich: Ich bin gegen Waffenlieferungen, weil sie den Krieg verlängern und das Leid auf beiden Seiten vergrößern. Das ist für mich weder Nächsten- noch Feindesliebe.
Man kann einer solchen Haltung vorwerfen, das wäre keine Nächstenliebe gegenüber den Menschen in der Ukraine, weil man sie schutzlos dem Angreifer ausliefert. Ich muss aber darauf bestehen, dass es Nächstenliebe ist, wenn es in der Ukraine weniger und möglichst bald gar keine Kriegsopfer mehr gibt – auch dann, wenn sogar das ganze Land von Russland eingenommen würde. Denn, wie gesagt: Liebe üben heißt nicht, dass man nicht mehr leiden muss. Im Gegenteil: Gerade die Feindesliebe bringt Leid mit sich.
Solche Feindesliebe darf ein Christ auch von einem Angegriffenen erwarten, wenn dieser um die Lieferung von Waffen bittet. Oder anders ausgedrückt: Wenn mich jemand um Hilfe bittet und ich ihm die Mittel zur Selbsthilfe zur Verfügung stelle, lege ich Wert darauf, dass er diese Mittel im christlichen Sinne verwendet.
Wahrscheinlich gehen an diesem Punkt die Wege auseinander. Der absolute Pazifist hat es einfach, weil er sich all diese Fragen gar nicht stellen muss. Für ihn ist Waffengebrauch tabu, egal, wie die konkrete Situation aussieht. Der absolute Bellizist (also Kriegsbefürworter) hat es auch einfach, weil es für ihn keine Frage ist, dass ein Angegriffener sich mit Waffengewalt verteidigen darf, egal, wie viele Tote es gibt.
Alle anderen müssen sich die Frage stellen: Wie viel Leid will ich dem angegriffenen Land zumuten, wenn es vom Feind besetzt wird? Und umgekehrt: Wie viele Tote ist mir die Verteidigung des Landes wert?
6. Aktives Leiden
Liebe üben bedeutet übrigens nicht, dass man sich alles gefallen lässt. Es gibt Möglichkeiten, sich zu wehren, ohne Gewalt anzuwenden. Ob das im Einzelfall funktioniert, dafür gibt es keine Garantie – wie übrigens auch für eine gewaltsame Verteidigung nicht. Wenn es nicht funktioniert, kann die Liebe dazu führen, dass der liebende Mensch sein eigenes Wohlbefinden und sogar sein eigenes Leben hingeben muss.
Liebe üben bedeutet auch nicht, keine kritischen Fragen zu stellen, sondern alles fraglos hinzunehmen. Eine solche Frage an die westliche Politik wäre, ob es ihr wirklich darum geht, den Menschen in der Ukraine zu helfen, oder nicht vielmehr darum, ihren geopolitischen Einflussbereich zu sichern. Dass das ein Motiv für die Waffenlieferungen an die Ukraine ist, sagt natürlich keiner. Alle sprechen nur davon, dass sie helfen wollen. Aber ist das glaubwürdig, wenn an so vielen anderen Orten der Welt nicht geholfen wird?
Jesus ist ein Vorbild sowohl für die Lebenshingabe um der Liebe willen als auch dafür, kritische Fragen zu stellen. Er hat sich nicht umsonst mit den Machthabern auseinandergesetzt. Dietrich Bonhoeffer, Martin Luther King und viele andere sind ihm darin gefolgt.
Sie alle haben gezeigt: Die christliche Liebe ist kein passives Erdulden, in dem man alles mit sich machen lässt und alles fraglos hinnimmt. Die Liebe ist vielmehr höchst aktiv: Sie geht auf den Feind zu und sucht nach Auswegen aus dem Konflikt. Sie schwächt den Konflikt ab anstatt ihn verbal und praktisch zu eskalieren. Sie besteht nicht auf Maximalforderungen, sondern ist bereit, Zugeständnisse zu machen und Einschränkungen von Freiheit und Leben in Kauf zu nehmen. Und sie fragt nicht nur den Feind, sondern auch den Freund, ob seine Motive wirklich so lauter sind, wie er vorgibt.
Das ist der Weg der Feindesliebe, den Jesus uns gewiesen hat. Dieser Weg beginnt schon lange vor dem Krieg. Wenn der Krieg beginnt, hat die Feindesliebe schon versagt. Oder besser gesagt: Wir haben versagt. Die Christenheit hat das Wort nicht erhoben, als noch Zeit war, den Krieg abzuwenden. Jetzt wäre die Zeit, den Versuch zu machen, das Versäumte nachzuholen.
Ach ja, das war ja auch das Motto des Kirchentags: Jetzt ist die Zeit. Ob die Kirche sie nutzen wird?
* * * * *
Foto: Klaus Straßburg.
Hallo Klaus
so überzeugend deine Schlussfolgerungen sind - aber hat "die Christenheit" jemals Kriege verhindern können? Waren es denn nicht immer nur einzelne Mahnerinnen und Mahner, die dieses versuchten und scheiterten...? So pessimistisch diese Frage wirkt, desto notwendiger scheint es mir diese trotzdem zu stellen.
Mit herzlichem Gruss
Michael
ja, das ist eine berechtigte Frage. Man könnte sogar noch weiter gehen und darauf hinweisen, dass "die Christenheit" oft genug Kriege angezettelt (Kreuzzüge) oder zumindest die Waffen gesegnet hat.
Meine historischen Kenntnisse sind nicht groß genug, um die Frage zu beantworten, ob Kirchen oder einzelne Christinnen und Christen jemals einen Krieg verhindert haben. Es wäre interessant, der Frage einmal nachzugehen. Manchmal wundert man sich, was dabei herauskommt. Kirche und Politik waren ja von Konstantin bis zum Beginn der Neuzeit derart miteinander verquickt, dass ich mir vorstellen kann, dass ein Papst schon mal gegen einen Krieg votiert hat - vielleicht aber nicht uneigennützig, sondern aus eigenen machtpolitischen Erwägungen. Aber das ist ein weites Feld, auf dem ich mich nicht auskenne.
Und ehrlich gesagt: Es interessiert mich auch nicht für das ethische Handeln heute. Jesus hat nicht gesagt: "Setzt euch für den Frieden ein, wenn ihr die Chance habt, euch durchzusetzen", sondern: "Selig sind die Friedenstifter, denn sie werden Kinder Gottes heißen" (Mt 5,9). Und Paulus hat nicht geschrieben: "Lasst uns dem nachstreben, was die Mehrheit will", sondern: "Lasst uns dem nachstreben, was dem Frieden dient" (Röm 14,19). Im Hebräerbrief steht: "Jagt dem Frieden mit jedermann nach" (Hebr 12,14). Nachjagen klingt nicht gerade nach einem lustigen Happening, zu dem sich alle harmonisch zusammenfinden. Und es klingt auch nicht nach resigniertem Nichtstun, sondern nach mutigem Handeln.
Wenn die Chance auch noch so gering erscheint, sich durchzusetzen, kann das meiner Meinung nach kein Grund dafür sein, die Hände in den Schoß zu legen und die Welt den anderen zu überlassen. Und ich werde die Hoffnung nie aufgeben, dass Gott immer noch die Erde dabei erhält, dass sie sich weiterdreht, und dass er auf verborgene Weise auch in ihrer Geschichte wirkt, und zwar auch durch gesellschaftliche Gruppen und Bewegungen (das Mönchtum in seinen Anfängen, die Reformatoren und ihre Bewegung, die Bekennende Kirche) oder Einzelne (D. Bonhoeffer, M.L. King, aber nicht nur Christen). Und selbst die "Gescheiterten" wirken auf wunderbare Weise weiter bis heute.
Ich sehe es sogar so: Weil das Böse letztlich keine Chance hat, sich durchzusetzen, sondern im Niedergang begriffen ist, weil Gott die Welt regiert und dem Reich Gottes entgegenführt, darum gibt es keine hoffnungslose Situation.
Gustav Heinemann: "Lasst uns der Welt antworten, wenn sie uns furchtsam machen will: Eure Herren gehen, unser Herr aber kommt!"
Hoffnungsvolle Grüße
Klaus
wir haben unsere Positionen ja an anderer Stelle bereits abgeglichen, als tlw. unvereinbar
beurteilt, und ich möchte hier auch nicht alles wiederholen. Nur zwei für mich ganz wesentliche Punkte fallen mir immer wieder ein:
1. Das Jesus zugeschriebene Wort "Mein Reich ist nicht von dieser Welt": Kirche sollte das ernster nehmen als bisher. Wer eine politische Religion will, ist mit dem Islam besser bedient. Das ist gleichzeitig dessen Stärke und Schwäche im Vergleich zum Christentum.
2. Die Feindesliebe ist eine sensationelle Forderung. Sie kann nur individuell konsequent durchgezogen werden und nur so ihre Wirkung entfalten, die selbst dann entsteht, wenn der so handelnde Pazifist selbst dabei untergeht.
Unabhängig davon: mit deinem Vorschlag, sofort die Kampfhandlungen einzustellen und Putin einen Teil der Geländegewinne behalten zu lassen, gibst du ihm letztlich einen Teilerfolg. Er wird erst verhandlungsbereit sein, wenn die Ukraine sich anschickt, einen Teil der Krim zurückzuerobern. Und selbst dann ist die Frage, ob Putin überhaupt als Verhandlungspartner in Frage kommt.
Viele Grüße
Thomas
Hier noch ein systemisch inspirierter Gedanke der ungemeinsam ns helfen könnte:
Jetzt:
Ein gefährdeter, "kalter Frieden" lebt permanent im und vom Risiko, es könnte zum Krieg kommen; Krieg lebt vom Risiko ihn nicht beenden zu können. Man vergisst, dass Krieg und Frieden in jeder Weise Kosten, Opfer und fehlende Zukunft erzeugt.
Zukünftig:
Was leistet dagegen ein zukünftiger Frieden, der an sich glaubt und damit ein Vorbild für die Uukubft sein könnte? Wie können wir
auf einen "kollektiven Friedensmodus" umschalten? Frieden heisst den Krieg dauerhaft "vergessen" zu können, ihn überflüssig zu machen...
Eine friedliche Zukunft wünscht uns
Michael
danke für deine Stellungnahme aus anderer Perspektive. Ich will es auch kurz machen.
Jesu Wort "Mein Reich ist nicht von dieser Welt" gibt die Herkunft seines Reiches an, nicht aber den Ort, an dem es sich ereignet. Natürlich gründet das Reich in Gott und nicht in der Welt, sonst könnte es die Welt nicht erneuern. Aber es ereignet sich eben nicht nur im "Himmel", sondern mitten in der Welt, wie Jesus sagte: "Siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch" (oder: "inwendig in euch". Beide Übersetzungen sind möglich) (Lk 17,21).
Ich bin nicht der Meinung, dass Feindesliebe nur individuell möglich ist. Damit würde man das Verhalten aller Gruppen und eben auch Staaten von der Feindesliebe und im Grunde auch von der Nächstenliebe entbinden. Das kann nicht sein, weil besonders im Alten Testament das ganze Volk Israel zur Nächstenliebe aufgerufen wird. Die Begrenzung der Nächsten- und Feindesliebe auf das Individuum öffnet letztlich einer konservativen Ethik Tür und Tor, die nur Verhaltensregeln für Individuen, aber keine Sozialethik kennt.
Was die Einschätzung Putins und der politischen Lage betrifft: Daran scheiden sich tatsächlich die Geister. Ich denke, wenn man ein Ende des Sterbens will, wird man Kompromisse machen müssen. Man kommt gar nicht darum herum. Das bedeutet, dass, wenn das Sterben im Krieg aufhört, das Leiden nach dem Krieg weitergeht und dass Risiken bleiben. Das ist der Preis der Nächsten- und Feindesliebe, ohne den es sie nicht gibt - übrigens auch im individuellen Bereich nicht.
Liebe Grüße
Klaus
danke für deine Bemerkungen aus systemischer Perspektive.
Was du zum "Jetzt" schreibst, fasst schön zusammen, dass es in unserer unerlösten Welt weder Krieg noch Frieden ohne ein Risiko gibt und dass sowohl Krieg als auch ein "kalter" Frieden (der kein echter ist) Kosten, Opfer und (schön formuliert:) fehlende Zukunft erzeugt, weil die Kosten sich in die Zukunft hinein fortsetzen, mitunter sogar über Generationen hinweg. Anders ist in der unerlösten Welt auch ein "Frieden" (oder Waffenstillstand) nicht zu haben.
Deine Fragen zum "Zufünftigen" sind wichtig, und man müsste sie schon gesellschaftlich diskutieren, bevor der Krieg überhaupt begonnen hat. Dass dies auch in der Kirche nicht geschehen ist, habe ich kritisiert. Ich habe mich auch bequem zurückgelehnt und gemeint, der Friede sei ja nun ein für alle Mal gewonnen.
Einige spontane Ideen: "Was leistet ein zukünftiger Frieden?" Er müsste die permanente Gefährdung des Friedens bewusst halten und deshalb dauerhaft nicht nur die eigenen Interessen, sondern auch die des Gegenübers im Blick behalten. Er müsste sich davon frei machen, jede geopolitische Veränderung sogleich als Bedrohung zu verstehen und infolgedessen ausschließlich die Sicherung und Erweiterung der eigenen Einflussbereiche als Ziel der Politik zu sehen. Ohne eine Minimum an Vertrauen wird es keinen Frieden geben, und auch nicht ohne ein Minimum an Risikobereitschaft. Aufrichtige Suche nach Frieden müsste Alternativen zur rein militärischen Sicht auf die Welt entwickeln.
"Wie können wir auf einen kollektiven Friedensmodus umschalten?" Ich denke, das ist ein politisches und kulturelles Problem. Politisch muss so ein Friedensmodus gewollt sein, was ich bisher nicht sehe. Kulturell müsste eine Bewegung "von unten" entstehen, so wie es ansatzweise im anderen Bereich "fridays for future" war und ist. Dazu bedarf es einiger Wortführer, die andere bewegen und mitreißen können. Theologisch würde ich sagen: Es bedarf des Geistes Gottes. Auf dem gerade zu Ende gegangenen Kirchentag ist mir (leider) klar geworden: Ein Großteil der Menschen lässt sich von "charismatischen" Rednern und von einer allgemeinen "Stimmung" mitreißen, lässt sich leider auch leicht durch Medien manipulieren. Die meisten Menschen können wohl nicht gut "gegen den Strom schwimmen" und sind deshalb auf solche Redner und Stimmungen angewiesen, um ihr Fühlen, Denken und Handeln zu verändern. Das ist nicht überheblich gemeint, sondern beschreibt eine menschliche Grundbefindlichkeit. Um auf einen kollektiven Friedensmodus umzuschalten, ist aber das Schwimmen gegen den Strom zunächst unerlässlich. Es geht ja um einen Umschaltprozess; theologisch würde man sagen um eine Umkehr, die vom Geist Gottes bewerkstelligt wird, der auch durch Menschen und Stimmungen wirken kann.
Inwieweit ist solch ein Umschalten auf einen kollektiven Friedensmodus machbar? Was sagt der soziologisch Gebildete dazu?
Frage: Frieden heißt, den Krieg überflüssig zu machen. Aber heißt es auch, ihn zu vergessen? Oder müssen wir die Erinnerung an ihn nicht gerade wach halten, um seine Grauen im menschlichen Bewusstsein zu bewahren? Mir scheint, dass viele junge Menschen, die weder den heißen noch den kalten Krieg bewusst erlebt haben, nicht mehr wissen, was Krieg bedeutet und ihn deshalb unbewusst verharmlosen.
Mit dennoch hoffnungsvollen Grüßen
Klaus
hg Michael
Fasst alle "Christen" oder "christlichen" Länder laufen nicht 2 oder 3 Meile.
Und ihr eigenes Untergewand geben schon gar nicht her.
Wut und Rache aus Gerechtigkeit ist die Folge. Und die nehmen alle für sich in Anspruch.
So gewinnt man keinen Frieden! So verlieren alle nur im Krieg.
Manchmal muss ich an den Jeremia denken und an das alte unreine Israel.
Was wäre passiert, wenn jenes Israel die militärische Unterstützung von anderen Ländern bekommen hätte. Es hätte nichts am Ausgang geändert.
Der Mensch vergießt allzu gerne ... ihn gehört nichts, nicht das erarbeitete oder geehrte Vermögen, noch sein Körper, noch sein Leben ... Wir sind nur deren Verwalter ...
danke für deine Ergänzungen. "Im Krieg verlieren alle" - das sehe ich genauso. Gerechtigkeit ist sicher ein hohes Gut - leider tritt manchmal die Selbstgerechtigkeit im Gewand der Gerechtigkeit auf.
Gerecht wäre es sicher, der Ukraine würden ihre Gebiete zurückgegeben. Aber muss man nicht manchmal etwas aufgeben, also sein Recht zurückstellen, anstatt auf ihm zu bestehen, um nicht selber ungerecht zu werden? Ein wichtiger Gedanke: Wir haben nichts, was uns nicht gegeben wurde, um es zu verwalten. "Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist, der Erdkreis und die darauf wohnen" (Ps 24,1). Wenn wir zerstören und töten, zerstören und töten wir, was des Herrn ist.