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Im Leiden leben (Teil 2)

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Veröffentlicht von in Lebenshilfe · 11 November 2020
Tags: LeidTodHoffnungSchöpfungGottverlassenheitGerichtStrafeAnfechtungTat_und_Folge

Im Leiden leben (Teil 2)
Klaus Straßburg | 11/11/2020

Im ersten Teil meiner Ausarbeitung zu diesem Thema habe ich einige grundsätzliche Gedanken zum Leid in Gottes Schöpfung gemacht, außerdem zur Frage nach dem „Warum?" von Leid und zur Sinnfrage. Danach habe ich zwei Wege aufgezeigt, mit Leid umzugehen. Der erste Weg besteht darin, die Welt nicht als Jammertal zu verstehen und vor dem Leid zu resignieren, sondern möglichst vor dem Leid die Flucht zu ergreifen und, wenn das nicht möglich ist, auch im Leid nach Lebensfreude zu suchen. Der zweite Weg besteht darin, sich nicht in sein Leid zu vergraben, sondern von Gott die zeitliche und ewige Überwindung des Leids zu erhoffen.

In diesem zweiten Teil meiner Gedanken zum Thema werde ich auf weitere Möglichkeiten hinweisen, mit Leid umzugehen. Es bleibt aber bei dem, was ich schon in Teil 1 betont habe: Jedes Leid und jeder Mensch ist anders. Darum muss jeder leidende Mensch seinen eigenen Weg finden, mit Leid umzugehen. Ich kann hier nur Möglichkeiten aufzeigen, mehr nicht.


6. Die Beziehung zu Gott suchen

Die sogenannte „Vertreibung aus dem Paradies" in 1Mo/Gen 3,14-24 hat schwerwiegende Folgen. Versteht man die Erzählung nicht als Bericht über historische Ereignisse, sondern als Bezeugung grundlegender Wahrheiten über den Menschen, dann bedeutet sie: Der Mensch, der getrennt von Gott lebt, erfährt seine Welt anders als der Mensch, der in der Gemeinschaft mit Gott lebt. Der getrennt und fern von Gott lebende Mensch muss seine Probleme lösen, ohne sich an Gott wenden zu können.

Auf der Erzählebene hört sich das so an: Der in der Gemeinschaft mit Gott lebende Mensch konnte zum Beispiel angesichts des Problems seiner Einsamkeit noch auf Gottes Hilfe setzen (1Mo/Gen 2,18.20b.22f). Für den von Gott getrennt lebenden Menschen hingegen veränderte sich die Situation fundamental: Die wesentlichen Aufgaben zur Erhaltung seines Lebens sind nun mit Schmerz und Mühsal verbunden (1Mo/Gen 3,16-19). Zwar bleibt ihm die Fürsorge Gottes erhalten (1Mo/Gen 3,21), aber das ändert nichts daran, dass die Trennung von Gott Leiden mit sich bringt, die es in der Gemeinschaft mit Gott noch nicht gab. Man könnte auch sagen: Zwar bleibt Gott dem Menschen verbunden, nicht aber der Mensch Gott.

Auf der Erlebnisebene sind diese beiden andersartigen Dimensionen nicht zwei nacheinander sich vollziehende Weltzeitalter (das Leben im Paradies vor dem Sündenfall und das Leben außerhalb des Paradieses nach dem Sündenfall). Beides ereignet sich vielmehr in jedem Menschenleben als Beziehung zu Gott und Trennung von Gott, als Glaube und als Unglaube. Glaube und Unglaube sind aber im Menschen nicht strikt voneinander geschieden, sondern miteinander vermischt. Darum geht es hierbei nicht um ein Nacheinander, sondern um ein Ineinander von Gottesnähe und Gottesferne. Zwar gibt es ein Nacheinander bezüglich der Glaubensstärke eines Menschen, aber auch der stärkste Glaube ist nicht vollkommen und insofern von Unglaube durchsetzt.

Deshalb bleibt auch der glaubende Mensch immer auf der Suche nach Gott und der Gemeinschaft mit ihm. Diese Wechselhaftigkeit und Unstetigkeit der Gottesbeziehung aber bringt Leid mit sich. Das Alte Testament drückt auch diese Tatsache erzählerisch aus: Kain, der seinen Bruder ermordete, muss sich wegen seiner Schuld vor Gott verbergen, das heißt die Nähe zu Gott vermeiden, und lebt deshalb heimatlos und ziellos in der Welt (Luther übersetzte: „unstet und flüchtig"). Würde Gott ihn nicht vor dem Schlimmsten bewahren, so wäre er dem Tode geweiht (1Mo/Gen 4,13-16).

Der Tod aber ist des Menschen Feind (1Kor 15,26). Denn das Ende des Lebens besiegelt die Schuldverfallenheit des Menschen. Wenn der Mensch tot ist, kann er keine Schuld mehr bereinigen, was sowieso nicht immer möglich ist. Er beendet sein Leben endgültig als ein schuldig Gewordener. Darum ist die Endlichkeit der Stachel im Leben eines jeden Menschen (1Kor 15,56). Nur im Glauben kann der Mensch dem Stachel der Endlichkeit seinen Schmerz nehmen, indem er sich Gott annähert. Denn der Glaube besteht in dem Vertrauen, dass Gottes Liebe auch dem schuldig gewordenen Menschen unwiderruflich gilt. Deshalb kann sich der glaubende Mensch auch am Ende eines von Schuld und Sinnlosigkeit geprägten Lebens von Gott geschätzt und anerkannt wissen.

So kann es für glaubende Menschen ein Sterben geben, das die Bibel „lebenssatt" nennt (1Mo/Gen 25,8; 35,29; Hi 42,17), ein Sterben im Einklang mit Gott und sich selbst – trotz aller Leiden und Entbehrungen, Versäumnisse und Verfehlungen. Und Paulus spricht einmal davon, Sterben sei für ihn ein Gewinn (Phil 1,21). Die Endlichkeit hat dann ihre Schrecken verloren. Doch nicht jeder glaubende Mensch stirbt so. Es ist ein Geschenk Gottes, das Gott uns zuwenden kann, aber nicht muss. Darum kann man ein solches Sterben von keinem glaubenden Menschen einfordern, als müsste man in der Gelassenheit des Glaubens sterben. Man kann um ein solches Sterben nur bitten und es dankbar empfangen.


7. Leid annehmen und aktiv ertragen

Das Ende unseres Lebens zieht einen radikalen Schlussstrich unter etwas, was noch nicht zum Abschluss gekommen ist. Es ist immer noch etwas offen, wenn wir sterben. Darum blenden wir die Endlichkeit des Lebens weitgehend aus. Das ist ein Stück weit normal und lebensnotwendig, hat aber auch Schattenseiten. Wer Tod und Leiden verdrängt, überspielt oder verharmlost, wird später um so heftiger davon betroffen. Dann kann der Tod eines weit über 80jährigen Menschen für die Hinterbliebenen „unfassbar" sein. Das Bemühen, Krankheit und Tod möglichst zu verdrängen, kann am Ende nicht gelingen. Deshalb ist es besser, die Verletzlichkeit und Vergänglichkeit des Lebens beizeiten als etwas anzunehmen, was zum Leben einfach dazugehört.

Das bedeutet anzuerkennen, dass es kein Leben ohne Leid geben kann. Deshalb strebt christlicher Glaube auch nicht wie der Buddhismus nach einem leidfreien Leben. Das Leid muss vielmehr ertragen werden, aber nicht passiv und resigniert, sondern aktiv und hoffnungsvoll. Das bedeutet: Der leidende Mensch findet sich nicht einfach mit seinem Leiden ab. Er unterdrückt nicht den Schmerz und verbietet sich nicht das Klagen. Vielmehr: „Leidet jemand unter euch, der bete! Ist jemand guten Mutes, der singe Loblieder! Ist jemand krank unter euch, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, und sie sollen über ihm beten, nachdem sie ihn im Namen des Herrn mit Öl gesalbt haben" (Jak 5,13f). Mit anderen Worten: Lass deinen Gedanken und Gefühlen freien Lauf! Sprich alles im Gebet aus! Klage und weine, wenn dir danach zumute ist, und sei dankbar, wenn es Grund zur Freude gibt! Und suche die Gemeinschaft mit Christ*innen! Verheimliche ihnen dein Leid nicht, sondern lass dir Gutes von ihnen tun und lass sie für dich beten!

Den Gedanken und Gefühlen freien Lauf zu lassen, heißt auch, Gott sein Leid zu klagen. Die Klagepsalmen sind Beispiele dafür (siehe Teil 1 Abschnitt 5). Angst und Zorn, Fragen und Zweifel müssen nicht unterdrückt werden. Da Gott sowieso all unsere Gedanken kennt (Ps 94,11; 139,2), müssen wir sie nicht vor ihm verheimlichen. Auch im Klagen und Protestieren gegen das Leid verdrängen wir das Leid nicht, sondern nehmen es wahr, schreien es heraus und geben ihm so einen Ort in unserem Leben.

Sogar aufgekommene Hassgefühle gegenüber demjenigen, der dem betenden Menschen Leid zufügt, haben Eingang in die Psalmen gefunden (z.B. Ps 109,6-20, 137,7-9; 139,19-22). Die damit verbundenen schlechten Wünsche für den gehassten Menschen stehen allerdings oft nicht mit der Liebe in Einklang und sind daher abzulehnen. Jedenfalls soll aber der aufgestaute Hass nicht unterdrückt, sondern vor Gott ausgesprochen werden. Das kann bewirken, dass der Hass nicht weiter im Menschen gärt, sondern ebenfalls seinen ihm gemäßen Ort erhält: Der von Hass erfüllte Mensch übt keine Selbstjustiz, sondern überlässt Gott die Durchsetzung der Gerechtigkeit.

Es gibt auch ein Leiden um des Glaubens willen. Der Glaube, zu dem ein Mensch sich bekennt, kann also nicht nur Trost im Leid sein, sondern kann auch ins Leid führen. In nicht wenigen Ländern der Erde sind Christ*innen um ihres Glaubens willen massiven Verfolgungen ausgesetzt. Den Evangelien zufolge hat Jesus selbst diese Verfolgungen angekündigt (z.B. Mt 10,17f; 24,9). Paulus, der ebenfalls Verfolgungen ausgesetzt war, stellt diese neben die Verfolgung Jesu Christi: Der an Christus glaubende Mensch teilt, wenn er Verfolgungen erleidet, das Geschick Christi (Phil 3,10). Für das Neue Testament ist das nichts Ungewöhnliches (1Petr 4,12f).

In einem Land wie unserem, in dem die freie Religionsausübung garantiert ist, sind Christ*innen von staatlicher Sanktionierung verschont. Sie können aber dennoch die Ablehnung ihrer Mitmenschen erleben, Hohn und Spott ausgesetzt sein sowie unter Umständen berufliche Nachteile erfahren. Jeder Mensch, der aus seinem Glauben kein Hehl macht, wird sich als Fremder in dieser Welt fühlen, sobald er den geschützten Bereich der Mitglaubenden verlässt, und manchmal sogar innerhalb dieses Bereiches. Paulus deutet auch solches Leiden nicht als etwas Sinnloses. Er kann ihm vielmehr den Sinn abgewinnen, dass der um seines Glaubens willen leidende und bewusst in diesem Leid lebende Mensch das Leiden und Leben des auferweckten Jesus Christus widerspiegelt (2Kor 4,10f). Letztlich dient also dieses Leiden, Kämpfen und Überwinden des Christen der Verkündigung Jesu Christi, der zuvor auch Leid und Tod überwunden hat.


8. Im Glauben reifen und wachsen

Es ist eine Lebenserfahrung, dass unser Leben oft erst im Leid Tiefgang gewinnt. Wenn wir leiden, verlassen wir die Oberfläche unserer täglichen Geschäftigkeit und der Zerstreuungen und beginnen zu fragen, was es mit unserem Leben eigentlich auf sich hat, wohin es uns führt und was wir vielleicht ändern sollten. Unsere Begrenztheit tritt uns vor Augen, und es tut sich die Frage auf, was jenseits unserer Grenzen liegt. So kann es geschehen, dass gerade im Leid ein Mensch seinen Blick auf die Macht außerhalb seiner selbst richtet, die wir Gott nennen (2Kor 1,9; 4,7). Er erkennt, dass er seines Lebens nicht mächtig ist, und öffnet sich für die Lebensmacht Gottes (Phil 4,13). Ein Mensch hingegen, dessen Leben allzu glatt verläuft, der keine Misserfolge kennt und dessen Leben einem Höhenflug gleicht, wird in der Regel die Begrenztheit seiner Macht unterschätzen und zur Überheblichkeit neigen (2Kor 12,7).

So kann gerade das Leid einem Menschen die Tür zum Glauben öffnen. Doch wird es, wie jeder christliche Glaube, ein angefochtener Glaube bleiben. Die Bibel weiß um Prüfungen und Erprobungen des Glaubens gerade bei den Menschen, die als Beispiele festen Glaubens gelten (z.B. 1Mo/Gen 22,12f; Hi 1f; 1Petr 1,6f). Diese „Prüfungen" haben aber nicht das Ziel, Schulnoten für die Stärke des Glaubens zu verteilen. Es geht vielmehr darum, dass der Glaube aus der überwundenen Anfechtung gestärkt hervorgeht (Röm 5,3-5; Ps 119,67.71). Die Stärkung kann darin bestehen, dass der glaubende Mensch die Erfahrung macht: Meine Wünsche und Sehnsüchte werden nicht sofort erfüllt. Ich muss vielmehr Geduld aufbringen, und wenn ich geduldig an meinem Vertrauen zu Gott festhalte, wird sich das auszahlen. Diese Erfahrung wird den Menschen auch in künftigen Herausforderungen darin bestärken, auf den Gott zu hoffen, der ihn schon zuvor durch das Leid hindurchgeführt hat.

Indem also Herausforderungen bestanden werden, wird der Glaube widerstandsfähig. Damit ist schon gesagt, dass der Glaube auch Kampf ist. Er steht uns nicht zur Verfügung, sondern muss immer wieder errungen werden. Dabei steht der glaubende Mensch nicht allein. Der Glaube und auch die Überwindung von Anfechtungen sind Gaben Gottes, die der Mensch nur empfangen kann (1Kor 2,4f; 2Kor 4,7; Eph 2,8). Gott wird den Menschen also nicht über die Maßen der Versuchung zum Unglauben ausgesetzt sein lassen. Er wird ihm vielmehr die Kraft geben, die Versuchungen zu überwinden (1Kor 10,13).

Glaube ist demnach keineswegs ein beständiges seliges Glücksgefühl. Das Kämpfen bleibt dem glaubenden Menschen nicht erspart (Phil 3,12-14). In diesem Kampf steht ihm Gott selbst zur Seite. Aber auch die Gemeinschaft der Glaubenden kann Kraft geben. Dazu ist eine Gemeinde nötig, die den Glauben nicht als selbstverständlichen Besitz betrachtet und alle Zweifel leugnet, sondern um die Herausforderungen des Glaubens weiß und dem Zweifelnden in seinem Kampf beisteht. Und der Zweifelnde selbst muss bereit sein, seinen Glauben nicht als Privatsache zu betrachten, über die man mit niemandem spricht, und sich stattdessen für den Trost und die Hilfe der Mitglaubenden zu öffnen.

Zum Schluss sei noch bemerkt, dass aber gerade die Mitglaubenden auch zum Problem werden können. Es gibt christliche Menschen, die ihren Mitmenschen in erster Linie mit religiösen Forderungen entgegentreten und die kein Verständnis für menschliche Schwächen und religiöse Zweifel haben. Gegen solche belastenden Forderungen hat sich schon Jesus gewandt (Lk 11,46; Mt 23,4). Er hat sich stattdessen denen zugewendet, die als religiös unzulänglich und sündig galten, und hat ihnen das Heil verheißen (z.B. Mt 9,9-13; 21,31b; Lk 19,1-10).


9. Ein gutes Leben führen

„Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein" (Spr 26,27a) – das ist eine Lebenserfahrung. Es gibt aber auch die andere Erfahrung, dass es einem Menschen, der Böses tut, ausgesprochen gut dabei geht. Beide Erfahrungen lassen sich schon in der Bibel finden. Da ist zunächst die Überzeugung, dass die schlechten Taten eines Menschen ihn irgendwann selber treffen: Das Böse, das er tut, ist auch das Böse, das er erleiden muss (z.B. Ps 7,17; 9,16). Doch diese Rechnung geht nicht immer auf und wird darum schon in der Bibel hinterfragt (z.B. Ps 73,3-5.12; 94,3-7; Hi 21,7-16a).

Dennoch ist es für das eigene Leben allemal besser, ein Leben nach Gottes Geboten zu führen und dabei die Liebe, das Gottvertrauen, die Weisheit und die Vernunft sprechen zu lassen (z.B. Spr 2,1-9; 3,1-8.13-22). Das kann zum Beispiel bedeuten, die eigene Gesundheit und das eigene Ansehen nicht zu ruinieren (Spr 23,20f), sich den Mitmenschen gegenüber freundlich zu verhalten (Spr 16,24) und durch eigene Arbeit zum Broterwerb beizutragen (Spr 11,16b). Das biblische Buch der Sprüche, das zur alttestamentlichen Weisheit zählt, weiß viel über ein solches Leben zu sagen. Es kann aber auch der Liebe und Weisheit entsprechen, bestimmte Übel an der Wurzel zu packen und die leidbringenden religiösen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern. Das erkannten vor allem die Propheten Israels. Sie werden nicht müde, ungerechte Strukturen anzuprangern (z.B. Am 2,6-8; 5,21-24; Jer 7,1-11; Ez 34). Ebenso hat Jesus die Missstände im Jerusalemer Tempel beklagt (Mk 11,15-19).

Es ist nicht selten, dass Menschen erst durch Leid lernen, was schief läuft in ihrem Leben und in ihrer Welt. Erst das Leiden am Unklugen macht uns klug. So kann Gott uns leiden lassen, um uns zum Guten anzuleiten. Die Bibel übersetzt dieses Handeln Gottes manchmal mit dem Wort „Züchtigung" (Spr 3,11f; Hebr 12,4-11; Offb 3,19). Doch dieses alte Wort weckt falsche Assoziationen. Es geht darum, dass Gott uns eine Zeit lang und „in Maßen" leiden lässt (Jer 10,24; 46,28), damit wir umdenken und unser Leben ändern. Die „Züchtigung" ist also keine willkürliche Strafe, wie sie unter Menschen vorkommt, sondern liebevolle Wegweisung, Hinführung zu einem guten Weg (Hebr 12,10!). Weil wir mitunter erst dann zum Umkehren bereit sind, wenn wir Schmerz empfinden, kann diese Wegweisung mit Leid verbunden sein. Doch wenn Gott uns Schmerzen zufügt, tut er das nicht mit Freude oder um seinen Zorn an uns auszulassen, sondern um uns zum guten Leben anzuleiten.

Ähnliches gilt für die Stellen, an denen die Bibel von Gottes Gericht spricht. Dass Gott den Menschen richtet, bedeutet, dass er ein Urteil über den Menschen spricht, der sich von Gott entfernt hat. Aber dieses Urteil legt den Menschen nicht auf seine Gottesferne fest, sondern will ihn zur Umkehr bewegen. So schließt das Gericht über Adam und Eva ein, dass Gott weiterhin für sie sorgt und ihr Leben weitergeht (1Mo/Gen 3,16-24); dasselbe gilt für Kain, der seinen Bruder erschlug (1Mo/Gen 4,11-16). Und obwohl nach der Sintfluterzählung Menschen und Tiere in den Fluten umgekommen sind, weil die Menschen von Grund auf böse sind, gewährt Gott dem Leben auf Erden Bestand bis zum Ende der Tage (1Mo/Gen 8,20-22). Nach Paulus dient Gottes irdisches Richten gerade dazu, dass die Christ*innen im Jüngsten Gericht nicht zusammen mit den Ungläubigen verurteilt werden (1Kor 11,32). (Mehr zum Gericht Gottes findest du in den beiden Artikeln "Die Gerichte der Liebe" Teil 1 und Teil 2.)

Wenn auch dem Sünder das Gericht und somit Unheil droht, so kann doch von dem Unheil, das einem Menschen widerfährt, nicht der Rückschluss gezogen werden, dass dieser Mensch ein schwerer Sünder sein müsse. Das war schon der Fehler der Freunde Hiobs. Jesus hat diesen Rückschluss ausdrücklich abgelehnt und stattdessen das Unheil als Ruf zur Umkehr gedeutet (Lk 13,1-5). Nach dem Johannesevangelium kann das Unheil eines Menschen auch dazu dienen, dass Gottes Handeln anderen Menschen offenbar wird (Joh 9,2f).

So können Leiden sogar in vielfältiger Weise dem Mitmenschen dienen. Die Art, wie Jesus stirbt, wird einem römischen Hauptmann zum Zeugnis für seine Gottessohnschaft (Mk 15,39). Das Leid des Paulus wird zum Zeugnis des Evangeliums und ermutigt die Mitchristen zum furchtlosen Bekennen (Phil 1,12-14; Apg 16,25-34). Nur wer im Leid Trost erfahren hat, ist auch in der Lage, einem anderen Trost zu spenden (2Kor 1,4.6). Die Bereitschaft zum Leiden ermöglicht es, dass einer des anderen Last trägt (Gal 6,2). Christ*innen, die das Leid nicht scheuen, das mit dem Christwerden und Christsein verbunden sein kann, werden zum Vorbild für viele andere Glaubende (1Thess 1,6f; 2Thess 1,4).

Das besagt nicht, dass Leid das Ziel christlichen Lebens ist. Doch wenn man als Christ*in schon leiden muss, ist das Leid nicht sinnlos, sondern kann Gutes entweder beim leidenden Menschen selbst oder bei seinen Mitmenschen bewirken.


10. Gottes Leiden und unser Leiden mit ihm

Das Rätsel des Leids bleibt trotz all dieser Sinngebungen bestehen. Denn die Frage ist nicht beantwortet, warum Gott nicht eine Welt geschaffen hat, in der es zumindest kein schweres Leid gibt. Andererseits besteht der Trost in allem Leid gerade darin, dass es nicht das blinde Schicksal ist, das uns ins Leid stürzt, sondern dass auch die leidbringenden Mächte letztlich Gott unterstehen. Wir sind also im Leid nicht in der Hand unpersönlicher Chaosmächte, die wahllos Zerstörung bringen, sondern in der Hand des liebenden Gottes. Nur darum können wir uns im Leid an Gott wenden und um seine Hilfe bitten.

Auch Jesus erlebte sein Leiden und Sterben nicht spannungslos. Einerseits bittet er Gott, dass ihm sein Tod erspart bleibe (Mk 14,33-36; Mt 26,37-39; Lk 22,41-44), und er erlebt das Verlassensein von Gott (Mk 15,34; Mt 27,46). Andererseits zeigt gerade sein Schrei am Kreuz, dass er bis zuletzt an diesem Gott, der ihn verlassen hat, festhält. Der Evangelist Lukas beschreibt mit anderer Akzentsetzung als Markus und Matthäus gerade dieses Festhalten an Gott (Lk 23,46).

Nach christlichem Verständnis zeigt Jesu Leiden nicht nur, dass Gottes Sohn auf Erden leiden musste, sondern es zeigt zugleich, dass Gott selbst ein leidender Gott ist. Gott ist kein unbeteiligter Zuschauer des unermesslichen Leids, das es auf Erden gibt. Er ist vielmehr, weil er seine Geschöpfe liebt, unmittelbar von deren Leid betroffen. Er erfährt unseren Schmerz, als wäre es der seine, und er empfindet Erbarmen mit uns. Dieses Erbarmen ist kein Prinzip, nach dem Gott eben handeln muss, sondern es ist eine innere Empfindung Gottes, ein schmerzliches Betroffensein von unserem Leiden.

Von Jesus wird immer wieder berichtet, dass er angesichts der Not der Menschen „Erbarmen fühlte" (Luther übersetzte: „es jammerte ihn") (z.B. Mk 6,34; Mt 9,36). Im biblischen Originaltext steht an diesen Stellen ein Wort, das mit dem griechischen Wort für „Eingeweide" zusammenhängt. Wenn Jesus Erbarmen fühlte, dann ist das also kein pflichtgemäßes Fühlen von Mitleid, sondern man könnte übersetzen: „Es ging ihm an die Nieren", „es ging ihm durch und durch". Er wird eins mit unserem Leiden. Ebenso heißt es im Alten Testament, dass Gott die Leiden Israels und der anderen Völker kennt (2Mo/Ex 3,7) und mit ihnen fühlt (z.B. Hos 11,8; Jer 8,18-19,11; 48,31f.35f). Wenn Gott unsere Leiden kennt, ist das kein Wissen um sie aus der Distanz heraus, sondern ein Wissen, das in der Erfahrung seines Mitleidens gründet.

Es mag überraschen, von einem leidenden Gott zu sprechen. Und tatsächlich stellte man sich schon in der Antike die Götter so vor, dass sie allem Leiden enthoben waren. Sie waren gar nicht fähig zu leiden. Ein Gott, der leidet, ist bis heute den meisten Religionen fremd. Aber gerade das zeichnet das jüdische und christliche Verständnis Gottes aus: dass er, weil er liebt, ein mitfühlender und darum leidender Gott ist.

Gott leidet aber nicht nur mit uns, sondern auch für uns. Er zieht es vor, unter unserem Fehlverhalten zu leiden, statt diesem Fehlverhalten ein Ende zu machen, indem er uns dem Tode preisgibt. Der Richter über unser Leben lässt sich selber richten, damit wir weiterleben können. Der Herr über alles Leben wird zu einem, der sich von uns seine Göttlichkeit absprechen lässt, der sich mundtot machen und als Gott ignorieren lässt. Er lässt sich quasi töten, weil er uns am Leben lassen will. Er tut das aus Liebe zu uns. (In meinem Buch Versöhnte Welt habe ich diese Zusammenhänge ausführlich erklärt.)

An dieser Liebe hängt unser Leben: Gott lässt uns das Leben und lässt sich von uns als Gott, dem Lob und Ehre gebührt, töten. Gott lässt es geschehen, dass wir ihn ignorieren und ihn so als einen, der uns liebt, dem Tode preisgeben. Aber Gottes Liebe hat Bestand auch über dieses Preisgegebensein hinaus. Jesus ist auferstanden, und er lebt und liebt uns bis heute.

Weil Gott uns liebt, können wir in der Liebe zu ihm leben. Das heißt aber auch, an den Leiden Jesu teilzuhaben. Wir haben das Gefühl, von Gott verlassen zu sein. Wir flehen um ein Ende des Leids. Wenn das Ende ausbleibt, können wir vielleicht in Gottes unerklärlichen Willen einwilligen. Das Leid bleibt uns ein Rätsel, aber wir halten daran fest, dass Gott bei uns ist, auch wenn wir ihn nicht spüren und von ihm verlassen zu sein scheinen. Wir ringen um das Vertrauen, dass er uns trotz allem mit großem Erbarmen begegnen und schließlich von unserem Leid befreien wird (Jes 54,7f).


Literatur:
Gerhard Gerstenberger / Wolfgang Schrage: Leiden. Verlag W. Kohlhammer. Stuttgart u.a. 1977.


* * * * *




7 Kommentare
2020-11-14 13:10:37
zu Punkt 6:
Die Endlichkeit hat nicht nur durch den eigenen Glauben an die Liebe unseres himmlischen Vaters und in der Hoffnung durch die Liebe seines himmlischen Sohnes ihren Schrecken auf den Tod verloren, insbesondere durch die erwiesene Tatsache, dass der Weg der Liebe, der Weg des ewigen Lebens ist. Wenn für uns Christus das Leben ist, dann ist das Sterben definitiv ein Gewinn!
2020-11-14 19:36:53
Ja, die Liebe gehört dazu. Glaube, Hoffnung und Liebe gehören zusammen und sind Gaben Gottes, d.h. nicht unser Werk, sondern das Werk dessen, der in uns lebt (Gal 2,20). Darum sind nicht wir das Leben, sondern Christus ist es, und nur weil er es ist, kann Sterben für uns ein Gewinn sein.
2020-11-16 09:18:43
Zu Punkt 7:
Da kann man eigentlich nichts hinzufügen. So ist es! Vielleicht dies: Auf dem christlichen Weg tauscht man im Allgemeinen das Leid der Nicht-Christen ein gegen ein anderes Leid, das Leid eines Christen, der für das Gute in der Liebe Gottes als der Wahrheit Zeugnis ablegen möchte.
2020-11-16 13:15:20
Bei Punkt 8 denke ich an Petrus und Thomas, wie gegensätzlich Menschen im Glauben sein können. Und doch benötigen beide Mitgefühl, Petrus im Versagen aufgrund Übermaß an Glauben und Thomas im Versagen aus Mangel an Glauben. Beide litten wegen ihres Glaubens aus unterschiedlichen Gründen und doch hatte Jesus immer das nötige und benötigte Mitgefühl und Verständnis als Antwort parat. Gott möchte das wird wachsen, nicht auf menschliche weise sondern auf göttliche Weise, bei allem Leid. Und da kommt man an einem Grundsatz nicht vorbei: Für ein Kennenlernen ist Vertrauen und Glauben unerlässlich, was in Endlichkeiten unumgänglich ist.
Frank-Peter
2020-11-16 13:49:54
Ungern mische ich mich in diese Diskussion ein! Nur ist mir "Lebensmüde" voller Gnade zuteil geworden. Fast alle meine Charismen wurden mir entzogen und ich bin völlig entwurzelt worden. 19 Jahre in der "Hölle" und ich habe momentan das Gefühl, dass ich meine Entgleisungen abgetragen habe. Ich erwarte nichts mehr und Jesus hat mir die Bahn gewiesen in die Tora und das alte Testament. Täglich (meist stündlich) betreibe ich Exegese und / oder Hermeneutik (nur habe ich leider die mir wichtigsten Instrumente und das dringend notwendige Inventar nicht mehr. (seit circa 10 Monaten bin ich Wohnungslos) Als die Theologische Universitätsbibliothek noch in der Sedanstraße lag in Hamburg, da hatte ich den vollen zugriff und als ich intensiv begann Hebräisch und geringes elementares Griechisch zu lernen (Kai und und und) aber ich freue mich auf meinen Tod und hoffe so sehr, dass die Schmerzen nicht sehr schlimm werde (die Palliativ Medizin hat immense Fortschritte gemacht) Sollte euer nicht vorliegende Disput von meinem geschreibsel (Nein! Es ergänzt sich ja sehr schön!) Dann bitte rausnehmen! Mein Vater starb mit 39 und ich bin inzwischen 51. Übrigens habe ich sehr gut zugehört und in der Bibel steht auch "wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen" Denn als wir bei euch waren, haben wir euch die Regel eingeprägt: Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen. 11Wir hören aber, dass einige von euch ein unordentliches Leben führen und alles Mögliche treiben, nur nicht arbeiten." - 2. Brief des Paulus an die Thessalonicher[wp] 3,10-11 Also der Behinderten Werkstatt versage ich mich, Lust auf Arbeit habe ich viel! Über einen Zeitraum von fast 4 Jahren hatte ich eine 7 Tage / 16 Stunden gehabt. Und was Research / Forschung betrifft bin ich sofort dabei. Wer kennt die Erkrankung besser als der Betroffene und der Arzt und Laut Bibel ist Jesus Arzt. Christus medicus (Wikipedia)Seit 19 Jahren beschäftige ich mich intensiv und durch das AT blieben mir wichtiges bis vor ein paar Jahren verborgen! Danke an den Autor dieser Homepage!
2020-11-16 19:52:14
@pneuma:
Vielen Dank für die Ergänzungen! Vielleicht war das "Übermaß an Glauben" bei Petrus aber doch letztlich nur ein Mangel an Glauben, oder? Aber bestimmt waren, wie du sagst, beide Persönlichkeiten und so auch beider Unglaube höchst unterschiedlich strukturiert.
2020-11-16 20:39:56
@Frank-Peter:
Es freut mich, dass du - trotz deiner misslichen Lage - so eifrig am Studieren bist und darin sogar "volle Gnade" erblicken kannst. Dass du keine Lust auf Arbeit hast, kann man wirklich nicht sagen, und ich denke, es ist gut, dass du dich exegetisch beschäftigst. Es zählt eben nicht nur Erwerbsarbeit, sondern andere Arbeit kann sinnvoller und auch erfüllender sein. Zu essen hast du ja wohl genug, und die Wohnungslosigkeit wird ja wohl auch bald ein Ende haben.

Paulus sieht sich und die Glaubenden übrigens "als Sterbende, und siehe, wir leben, als Gezüchtigte und doch nicht getötet, als Betrübte, aber allezeit fröhlich, als Arme, die aber viele reich machen, als solche, die nichts haben und doch alles haben" (2Kor 6,9f). Vielleicht kannst du dich ja auch darin wiederfinden und gehörst dann zu jenen, die mit Paulus zusammen ihren schweren Weg in Vertrauen und Frieden gehen können.

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