Hybris, Gewalt und die Gnade Gottes
Klaus Straßburg | 08/06/2022
Sünde ist ein schwieriges Wort. Redet man von ihr, wird man mitunter verständnislos angeguckt. Der Begriff scheint aus der Zeit gefallen. Entgegengesetzt wird ihm ein positives Menschenbild: Der Mensch hat einen guten Kern und kann gut handeln. Wer von Sünde redet, scheint den Menschen schlecht zu machen.
Für mich war Sünde immer schon eine Realität. Nicht nur eine Realität der anderen, sondern vor allem eine Realität meines eigenen Lebenswandels. Als Jugendlicher hatte ich die Bibel von vorne bis hinten durchgelesen und gemerkt: Was von mir verlangt wird, schaffe ich nicht. So bildete sich tief in mir das Bewusstsein aus, Gott nicht gerecht werden zu können. Das hat mich in eine schwere Krise gestürzt.
Es ist nicht gut, sich zu sehr auf die Sünde zu konzentrieren. Sie gehört nicht zur Schöpfung, ist nicht von Gott geschaffen. Nirgends in der Bibel wird beschrieben, woher sie kommt. Sie ist einfach da. Der Mensch ist ihr erlegen. Darum sollen wir sie nicht leugnen oder verdrängen, ihr aber auch nicht zu viel Aufmerksamkeit schenken.
Wir sollen ihr deshalb nicht zu viel Aufmerksamkeit schenken, weil Gott es auch nicht tut. Er spricht zur Sünde ein großes "Nein" – und geht über sie hinweg. So hat der evangelische Theologe Karl Barth die Sünde abgewertet und an den Rand gedrängt. Sie führt nur ein unwirkliches Dasein als etwas, was unter dem "Nein" Gottes steht und deshalb kein Recht hat, überhaupt zu existieren. Zu seiner Schöpfung aber, zur Welt, sagt Gott "Ja". Über dieses "Ja" sollen wir in erster Linie reden, nicht über das, was von ihm verworfen ist. Sünde kann für uns bestenfalls ein Nebenthema sein und soll nie zum Hauptthema werden.
Es ist aber auch nicht gut, Sünde schlicht zu leugnen. Denn sie ist nun einmal da. Und wenn man die Welt wahrnimmt, wie sie ist, kommt man nicht um sie herum. Man braucht dazu gar keinen christlichen Hintergrund. Wer mit offenen Augen durch die Welt geht, begegnet der moralischen Seite der Sünde unweigerlich, auch wenn er sie anders nennt.
1. Hybris
Der Journalist Thomas Assheuer hat in der ZEIT vom 25. Mai 2022 einen Artikel über die menschliche Hybris veröffentlicht. Hybris ist die menschliche Überheblichkeit, Selbstüberschätzung, der menschliche Hochmut – das, was der Turmbau zu Babel zeigt: Die Menschen wollen über sich selbst hinaus, wollen einen Turm bis in den Himmel bauen (1Mo/Gen 11,1-9).
Hybris ist ein Menschheitsthema, vielleicht das größte von allen, Die Warnung vor Maßlosigkeit, Übertretung, Hochmut und Anmaßung bildet das narrative Sediment fast aller Geschichten, die Menschen über sich selbst erzählen. (S. 55)
So Assheuer über uns Menschen, und er zählt sogleich einige aktuelle Beispiele auf:
Genozidale Großmachtpolitiker mit Wahnideen aus dem vorletzten Jahrhundert, Maulhelden mit Atomraketen, Neo-Nationalisten mit Spaß am Niederbrennen der Regenwälder, Regime mit digitaler Totalkontrolle über die Bevölkerung, größenwahnsinnige Tech-Milliardäre – ganz zu schweigen von der Zivilisation selbst, die verrückt genug scheint, die Bewohnbarkeit der Erde aufs Spiel zu setzen. (S. 55)
Die Reihe ließe sich fortsetzen. Und Assheuer setzt sie auch fort: Den Industriegesellschaften
ist die Hybris strukturell eingeschrieben, sie müssen "von Natur aus" unersättlich sein und mit organisierter Maßlosigkeit pausenlos produzieren, fabrizieren, konsumieren. Ein grausiger Zwang hat die moderne Gesellschaft befallen, sie steht wie unter einem Bann. (S. 56)
Dieser Bann wird in der theologischen Tradition "Sünde" genannt. Sie ist umfassend. Das Wort "Sünde" kommt bei Assheuer nicht vor, aber er weiß, dass die Hybris nicht nur das Verhalten einzelner Sonderlinge kennzeichnet, sondern alle Menschen erfasst und darum auch unsere moderne Gesellschaft befallen hat. Unser Wirtschaftssystem ist auf Gedeih und Verderb auf Wachstum angewiesen, anders kann es nicht überleben. Ein immer weiter auf Wachstum ausgerichtetes Wirtschaften verbraucht aber zu viele Ressourcen und führt in die Klimakatastrophe. Obwohl es alternative Konzepte des Wirtschaftens gibt, werden diese auf politischer Seite gar nicht diskutiert. Wir verfahren weiter nach dem Grundsatz "Nach uns die Sintflut".
Assheuer zitiert aus dem Buch "Hybris" von Johannes Krause und Thomas Trappe:
Das 20. Jahrhundert macht aus Homo sapiens den Homo hybris. [...] Wir halten uns für allwissend und allmächtig und stehen dabei fast ohnmächtig vor der Aufgabe, dem selbstzerstörerischen Trieb zu entfliehen, der in unserer DNA hoffnungslos verankert zu sein scheint. (S. 56)
Die Hybris ist demnach nicht nur eine Randerscheinung, sondern sie ist tief in uns verankert. Assheuer bestätigt dies ausdrücklich:
Die Hybris [...] gehört sogar zum Kern des menschlichen Wesens. (S. 56)
Und mit Blick auf die fehlende Demut der katholischen Kirche im Umgang mit den Missbrauchsfällen stellt Assheuer fest:
Hybris – das ist die Selbstanbetung der Kirche. (S. 56)
Es ist bedeutsam, wenn ein Journalist uns darauf aufmerksam macht, dass der Mensch einen überheblichen, hochmütigen Kern hat, der geradezu selbstzerstörerisch wirkt und dem der Mensch offensichtlich nichts entgegenzusetzen hat. Auch vor den Kirchen macht diese im Kern aller menschlichen Wesen verankerte Überheblichkeit und dieser Hochmut keinen Halt.
Es gibt viele Menschen, die davon ausgehen, dass der Mensch einen guten Kern hat. Er kann sich moralisch gut verhalten, wenn er nur will. Er kann das Gute, das tief in ihm schlummert, aktivieren.
Die Reformatoren haben diese Sichtweise, die es schon damals gab, vehement abgelehnt. Für sie war klar, dass aus dem Menschen, wie er von sich aus ist, nichts Gutes kommt. Nur aus dem Menschen, in dem Gott wirkt, kann etwas Gutes kommen. Dabei gilt, dass es das Vertrauen zu Gott ist, das den Menschen seine Überheblichkeit überwinden lässt. Er muss nicht mehr wie Gott sein wollen, wenn er Gott als sein vertrauenswürdiges Gegenüber kennengelernt hat. Er muss nicht mehr danach streben, immer mehr zu haben und immer größere Entfernungen zurückzulegen, um glücklich zu sein. Er kann seine Allmachtsallüren aufgeben, demütig werden und so seinen Hochmut überwinden.
Karl Barth hat übrigens die menschliche Sünde als Hochmut, Trägheit und Lüge definiert, wobei alle drei verschiedene Aspekte derselben Sache sind. Die heute mehr denn je sichtbaren zerstörerischen Auswirkungen menschlichen Verhaltens scheinen ihn zu bestätigen.
2. Gewalt
Gewalt ist eine tägliche Realität. Und sie ist wohl auch eine Form der Hybris: Herr sein wollen, im schlimmsten Fall Herr über Leben und Tod. Ich denke dabei nicht nur an offensichtliche körperliche Gewalt, sondern auch an verbale, psychische und soziale Gewalt, die wir oft gar nicht als Gewalt wahrnehmen. Wenn wir eine Jeans für 30 Euro kaufen und die Arbeiterinnen in den Herstellerländern mit ein paar Cent abspeisen, ist das eine Form von Gewalt: Wir können es uns leisten, das zu tun, weil sie auf die paar Cent angewiesen sind und sich dem nicht widersetzen können. Weil wir es uns leisten können, ohne Widerstand zu erfahren, tun wir, was wir tun.
Man kann wohl sagen, dass Gewalt nach biblischem Verständnis die gravierendste Ausprägung der Sünde ist. In der Sintflutgeschichte, die von der Sünde aller Menschen, nicht nur des Volkes Israel, handelt, wird ausdrücklich von der "Gewalttat" gesprochen (1Mo/Gen 6,11.13):
Die Erde ward verderbt vor Gott, und voll ward die Erde von Gewalttat. [...] Da sprach Gott zu Noah: Das Ende alles Fleisches ist bei mir beschlossen; denn die Erde ist voller Gewalttat von den Menschen her. So will ich sie denn von der Erde vertilgen.
Gleich nach der Vertreibung aus dem Paradies zeigt sich die Sünde, indem Kain seinen Bruder Abel ermordet (1Mo/Gen 4,8). Die zweite Sünde, von der berichtet wird, ist die unbegrenzte Blutrache (1Mo/Gen 4,23f). Die Zerstörung des Lebens aber greift das von Gott zum Leben Geschaffene und damit Gott selbst an. Indem der Mörder Leben zerstört, verwirkt er sein eigenes Lebensrecht (1Mo/Gen 9,5f) und darf nur durch Gottes Gnade weiterleben.
Der Sozialwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma hat in zwei Reden seine Sicht der Gewalt dargestellt, und zwar ohne auf den christlichen Glauben Bezug zu nehmen. Er stellt fest, dass in der europäisch-atlantischen Kultur der Moderne Gewalt prinzipiell als Problem behandelt wird: Das Recht auf Gewaltausübung wird grundsätzlich nur dem Staat zugesprochen (staatliches Gewaltmonopol), die Todesstrafe – früher selbstverständlich – wird bestenfalls als notwendiges Übel verstanden, Kriege werden geführt, um weitere Kriege zu verhindern. Gewalt hat also ihr Recht ausschließlich darin, größere Gewalt zu verhindern.
Das war in früheren Jahrhunderten anders. Dennoch ist es der Moderne nicht gelungen, die Ausübung von Gewalt auf diese als legitim angesehene Gewalt zu beschränken. Im Gegenteil: Die Moderne hat Gewalt in einem früher nicht gekannten (und technisch gar nicht möglichen) Ausmaß hervorgebracht.
Reemtsma stellt fest, dass dort, wo der Gewalt keine Grenzen gesetzt werden, grenzenlose Gewalt herrscht. Viele Menschen verhalten sich offenbar so, dass sie überall dort, wo sie keine Einschränkung erfahren, uneingeschränkte Gewalt ausüben*:
Es lässt sich – durch die Zeiten und sozialen Klassen – feststellen, dass dieses Moment der Versuchung durch Grenzenlosigkeit einfach existiert, und die Frage "Warum?" ist schlichtweg müßig. Und, das ist entscheidend, dieses Grenzenlose erweist sich dann, wenn es auf Kosten des Nebenmenschen geht, eben als grenzenlos – es muss rücksichtslos und zerstörerisch sein, sonst wäre es nicht, was es ist. (S. 19)
Als Beispiele nennt Reemtsma den durch keine andere Macht begrenzten Lebensstil der römischen Kaiser und die kaum durch Vorgaben eingeschränkte Gewalt des Wachpersonals in Lagern sowie die Herrschaft des sogenannten Islamischen Staates (IS):
Der IS bietet Mord und/oder Tod, die Leute kommen aus aller Herren Länder, um mittun oder doch wenigstens zusehen zu dürfen, wie ohne all dies ewige Bedenken geköpft, gekreuzigt, verbrannt werden darf und sogar soll. [...] Denn praktizierte Bedenkenlosigkeit ist auch die Gewährung äußerster Macht. Den Körper eines anderen zerstören zu dürfen. (S. 23)
Die Unberührbarkeit der römischen Kaiser, die sich alles leisten konnten, ohne dafür belangt zu werden, erinnert an eine Äußerung Donald Trumps, der im Wahlkampf 2016 behauptete:
Ich könnte quasi mitten auf der 5th Avenue stehen und jemanden erschießen und würde trotzdem keine Wähler verlieren.
Reemtsma unterscheidet drei Formen von Gewalt:
1. Gewalt, die den Körper eines anderen aus dem Weg räumt, weil er stört (lozierende Gewalt, von
lat. locus = der Ort).
2. Gewalt, die den Körper eines anderen besitzen und mit ihm etwas machen will (raptive Gewalt,
von lat. raptivus = habgierig).
3. Gewalt, die den Körper eines anderen ohne irgendein anderes Ziel einzig und allein zerstören will
(autotelische Gewalt, von griech. autotélos = unabhängig, selbstzweckhaft).
Reemtsma beschäftigt sich dann vor allem mit der dritten Form der Gewalt, die uns deshalb so schwer verständlich ist, weil ihr Ziel ausschließlich im Zerstören liegt. Gewalt trägt ihren Zweck in sich selbst. Sie wird geübt aus Freude am Zerstören, am Töten.
Als Beispiele für diese Freude nennt Reemtsma unter anderem: die Inszenierungen von Abschlachtungen im Kolosseum Roms vor begeistertem Publikum, öffentliche Hinrichtungen während der französischen Revolution, sinnlose pseudomedizinische Experimente mit Menschen in Konzentrationslagern durch die Nazis sowie die Folterungen und Tötungen von Gefangenen im Gefängnis Abu Ghraib durch US-Militärs während des Irakkriegs. Auch den Abwurf der beiden Atombomben über Japan zählt Reemtsma dazu. Diese waren zwar militärische Maßnahmen:
Aber es ist nicht die ganze Wahrheit. Die versteht man erst, wenn man die unheimliche Fröhlichkeit von Truman und seine[s] Kriegsministers Stimson ganz ernst nimmt, ihr Entzücken darüber, Menschen zu sein, die über ein derartiges Zerstörungspotential gebieten. (S. 47)
Das Massaker von Butscha während des Ukraine-Krieges fügt sich nahtlos in diese Reihe der Lust am Töten ein. Wer darüber erstaunt ist und fragt, wie so etwas heute noch geschehen könne, hat offenbar ein Menschenbild, das von der menschlichen Freude am Töten nichts weiß.
Nach Reemtsma ist die Frage sinnlos, wie es zu solcher Gewalt kommen kann. Er meint, wir müssten einfach akzeptieren, dass es diese Form der Gewalt gibt. Auch eine Hochkultur und Zivilisation wie die unsere schützt nicht davor. Im Blick auf verschiedene Gewaltexzesse stellt Reemtsma fest:
All dies wäre nicht möglich gewesen, wenn man auf pathologische Sadisten hätte zurückgreifen müssen, wenn nicht ein große Anzahl gewaltbereiter Männer zur Verfügung gestanden hätte – die es eben immer gibt. Dies ist eine grundlegende anthropologische Lektion, die nicht immer mal wieder [...] mit Erstaunen neu zu lernen und schnell wieder zu vergessen sein sollte. (S. 30)
Mit anderen Worten: Es gab und gibt immer Menschen, die bereit zur brutalsten Gewaltanwendung und zum Zerstören von Körpern sind:
[...] wie ein argentinischer Folterer es wörtlich sagte: "Wir sind Gott". Das steckt in der autotelischen Gewalt – zu sein wie Gott, die Welt ersäufen oder verbrennen zu können. Sie waren wie Gott und sie ließen es alle wissen: etwa Amon Göth aus dem Film Schindlers Liste, den Schindler in Versuchung führen wollte, es abwechslungshalber mal mit dem Begnadigen zu versuchen, und der dann merkte, dass ihm das Erschießen einfach mehr Spaß machte. (S. 50)
Gegen eine Resignation, die aufgrund dieser menschlichen Beschaffenheit einsetzen könnte, setzt Reemtsma Angst und Selbstbewusstsein: Angst davor, dass die Gewalt, die früher geschehen ist, jederzeit wieder geschehen kann. Und Selbstbewusstsein insofern, als an der Errungenschaft, Gewalt durch staatliche Kontrolle und durch die Aufrichtung des staatlichen Gewaltmonopols zu begrenzen, unbedingt festgehalten werden muss.
3. Gnade
Die Überlegungen Assheuers und Reemtsmas sind für mich ein Hinweis darauf, dass ein positives Menschenbild, wonach der Mensch einen guten Kern habe und sich mit einiger Anstrengung auch gut verhalten könne, unrealistisch ist. Hybris und Gewalt sind tief im menschlichen Wesen verankert. Wir wollen alle größer sein, als wir sind, und wir üben alle Gewalt, auch wenn wir andere nicht töten. Denn Gewalt beginnt bereits bei der Sprache, bei Intrigen und beim Schlechtmachen anderer.
Der theologische Begriff "Sünde" geht allerdings über die Ebene der Moral hinaus, indem er auch eine gestörte Gottesbeziehung bezeichnet. Nach christlichem Verständnis sind die gestörte Gottesbeziehung und das moralische Fehlverhalten zwei Seiten derselben Medaille. Beide gehören zur Wirklichkeit jedes Menschen. Wer von Sünde redet, macht den Menschen nicht schlecht, sondern betrachtet ihn realistisch.
Assheuer und Reemtsma sehen die Befreiung des Menschen von seiner Anfälligkeit für Gewalt im Menschen selbst. Assheuer formuliert am Ende seines Artikels einen Appell an den Menschen und landet dabei – wiederum bei der Hybris:
Der Mensch [...] muss das Unerreichbare versuchen, um das Unvorstellbare zu verhindern. Es ist wahr. Ohne Hybris geht es auch jetzt nicht. (S. 56)
Wie es geschehen soll, dass der Mensch das Unerreichbare erreicht, bleibt dabei offen. Und dass die eine Hybris von der anderen befreien soll, ist mehr als zweifelhaft. Der auf sich selbst zurückgeworfene Mensch dreht sich im Kreis.
Reemtsma setzt auf Angst und Selbstbewusstsein: Angst vor zukünftiger Gewalt und Selbstbewusstsein angesichts der die Gewalt einschränkenden zivilisatorischen Errungenschaften. Die Lösung für ein offensichtliches Kernproblem des Menschen soll demnach der Mensch erbringen. Ein anderer Weg bleibt auch nicht, wenn man eine rein diesseitige Sicht vertritt.
Theologisch besteht die menschliche Hybris darin, wie Gott sein zu wollen. Der Mensch strebt nach umfassender Macht. Wird sie ihm gewährt, dann wird die Gewalt grenzenlos. Der Mensch, der wie Gott sein will, will über Leben und Tod entscheiden können. Und er hat seine Freude daran, diese göttliche Macht auszuüben, indem er Menschen tötet.
Daran zeigt sich einmal mehr, dass der Wille, wie Gott zu sein, den Menschen auf brutalste Weise korrumpiert. Denn der Mensch stellt seine mutmaßlich göttliche Größe dadurch zur Schau, dass er tötet und Freude daran hat. Gott aber ist ein Gott des Lebens, der Freude am Leben seiner Geschöpfe hat.
Es fällt uns schwer, unsere Verfallenheit an die Sünde einzugestehen. Wir wollen ja gut sein wie Gott. Zum Eingeständnis unserer Sündhaftigkeit verhilft aber Gottes Gnade.
Von der Not, Gott nicht gerecht werden zu können, die mich als Jugendlicher erfasste, konnte ich mich durch eigene Anstrengungen nicht befreien. Befreiung davon erlebte ich erst, als ich Gottes Gnade entdeckte, die größer ist als all meine Fehlbarkeit. Allein der Glaube, welcher der Gnade Gottes gewiss ist, lässt uns trotz unserer Sünde fröhlich leben. Und wie von der Not des Sündenbewusstseins, so werden wir auch von Hybris und Gewalt nur durch Gott befreit. Darum bitten Christinnen und Christen im Vaterunser "Erlöse uns von dem Bösen".
Der Mensch braucht eine vollständige Umgestaltung – eine Erneuerung, die er nicht selber schaffen kann. Darum spricht der Prophet Hesekiel/Ezechiel von einem neuen Herzen der Menschen (Hes/Ez 36,26) und Paulus von einer neuen Kreatur (2Kor 5,17; Gal 6,15).
Weil die Gnade der Vergebung und der Erneuerung unsere primäre Wirklichkeit ist, darum sollen Glaubende nicht von der Sünde zuerst reden, sondern von der Gnade. Sie ist die Hauptsache. Sie ist das Leben. Sie hat ihr Sein durch Gott.
Es ist das stärkste Sein, das es in dieser Welt gibt.
* * * * *
* Alle Reemtsma-Zitate sind aus dem Buch: Jan Philipp Reemtsma: Gewalt als Lebensform. Zwei Reden. Reclam, Stuttgart 2016 (Reclams Universal-Bibliothek Nr. 19382).
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Sünde kennzeichnet aus, dass es sich um eine Verfehlung des Best-Practice, des Guten (deren Definition durch Gott erfolgt), des göttlichen Ziels und Gesetzes.
Es gibt viele Opfer und Täter einer Sünde. Die Bekanntest scheinen heute meist die "biologischen und chemischen Umweltsünden" zu sein. Leider ignoriert der selbstgerechte Mensch gerne, dass das Prinzip hinter den Umweltsünden, in alle Aspekte des menschlichen Daseins (emotionale Umweltsünden, moralische Umweltsünden, finanzielle Umweltsünden, gläubigen Umweltsünden, informelle Umweltsünden, ....) durchdringt und nicht weniger dramatisch ist, weil alles in einer endlichen Struktur eine Begrenzung hat. Die Konsequenz ist der Weg des Leides für alle Lebewesen, aber auch der friedliche Weg des Trostes in der Liebe und Hoffnung durch Glauben.
vielen Dank für deine Ergänzung. Sünde ist auf jeden Fall Verfehlung der best-practice, also sozusagen eine bad-practice. Dumm nur, dass das den meisten Menschen nicht bewusst ist und dass sie in der Illusion einer best-practice leben.
Vielleicht kannst du noch konkretisieren, was du mit dem Prinzip hinter den Umweltsünden meinst und mit emotionalen, gläubigen, informellen etc. Umweltsünden. Ich weiß nicht genau, was du damit meinst, und eine Konkretisierung wäre wahrscheinlich für alle Mitlesenden hilfreich.
du schreibst: „Es ist nicht gut, sich zu sehr auf die Sünde zu konzentrieren. Sie gehört nicht zur Schöpfung, ist nicht von Gott geschaffen.“ Bei dem zweiten Satz widerspreche ich dir sofort und energisch. Von wem denn sonst, wenn nicht von dem allmächtigen Schöpfer aller (!) Dinge? Wenn ich mal nicht zuerst von Gott, also dem Unbekannten, ausgehe, sondern vom Bekannten, nämlich dem Wissen über die Natur und die Entwicklungsgeschichte des Menschen, stelle ich fest, dass die Fähigkeit zum Bösen im Verbund mit der Fähigkeit zum Guten, den Menschen als Spezies erst so erfolgreich werden lassen hat, wie er ist. In der Natur gibt es viele Tiere, die stärker, schneller und besser bewaffnet sind als der Mensch. Aufgrund seiner Intelligenz, Organisation, der Fähigkeit, Waffen herzustellen und zu gebrauchen, aber auch aufgrund seiner Fähigkeit zu Manipulation und Heimtücke hat er sich zwar nicht in jeder Einzelauseinandersetzung, aber insgesamt gegen alle anderen Spezies durchgesetzt. Und innerhalb der Menschengruppen haben sich häufig diejenigen durchgesetzt und ihre Gene weitergegeben, die besonders stark und auch durchsestzungsfähig waren. Vieles davon ist kennzeichnend für das, was wir heute als „böse“ und „Sünde“ bezeichnen würden. Genau so natürlich angelegt ist die Fähigkeit zum Guten, zu helfender und unterstützender Organisation, zu Fürsorge, Hilfe für die Schwächeren, Hören auf die Erfahrungen der Alten, Fähigkeit zu einem Leben im Einklang mit der Natur, das Ahnen, dass es noch etwas dahinter oder darüber gibt usw.. Aus meiner Sicht ist sowohl das Gute wie auch das Böse im Menschen angelegt. Sehr ungünstig daran ist, dass das alles offenbar auf die überschaubare Struktur einer Horde oder eines Stammes ausgelegt ist und nicht auf größere Gesellschaftsstrukturen. Der „edle Wilde“ ist eine Fiktion.
Wenn der evangelische Theologe Karl Barth, der mir sehr wohl in seiner Bedeutung bekannt ist, meint, die Sünde an den Rand drängen und quasi wegdefinieren zu können, wiederholt er den Fehler, den er mit dem Ignorieren von Naturwissenschaften und Technik begeht. Er kann dann zwar ungestörter seine Theologie entwickeln und betreiben, diese wird aber gleichzeitig weniger relevant für die Allgemeinheit.
Den Zeit-Artikel über Hybris habe ich ebenfalls mit großem Interesse gelesen. Die Babylon-Geschichte nimmt ebenso wie der Prometheus-Mythos der griechischen Götterwelt dieses Thema sehr deutlich auf. Bei einer Kritik menschlicher Hybris aus Theologensicht vermisse ich die Selbstkritik. Ist es nicht auch ein gewaltiges Stück Hybris, zu behaupten, den Willen Gottes verstanden zu haben und mit seiner Verkündigung beauftragt zu sein? Diese Auffassung hat in der Vergangenheit Kreuzzüge, Ketzerverbrennungen usw. nach sich gezogen. Auch die evangelische Theologe und Kirche ist da nicht unschuldig. Ich darf an die Gewaltaufrufe Luthers erinnern in jüngerer Zeit noch an Waffensegnungen, Ermutigung zu Kriegen für verschiedene Vaterländer u.a..
Viele Grüße
Thomas
vielen Dank für deine Stellungnahme. Du sprichst wieder einmal viele grundlegende Fragen an, über die man lange diskutieren könnte. Hier nur einige Gedanken meinerseits dazu.
Mit der Behauptung, Gott sei der Schöpfer aller Dinge, wäre ich vorsichtig. Dass er das Böse erschaffen hat, lese ich jedenfalls weder in der ersten noch in der zweiten Schöpfungsgeschichte. Das Böse taucht vielmehr erst nach der Erschaffung der Menschen auf, indem Eva sich von der Schlange verführen lässt; und dann ganz massiv nach der sog. "Vertreibung aus dem Paradies" auf. Die Schlange steht dabei nicht für das Böse oder gar den Bösen, sondern plötzlich und unvermittelt ist das Böse da – niemand weiß, woher es kommt. Die Schöpfung hingegen ist von Beginn an eine Beseitigung des Ur-Chaos (Gen 1,2) durch die Wohlordnung des Geschaffenen.
Die Aussage, Gott sei der Unbekannte, das menschliche Wissen aber das Bekannte, ist auch eine steile These. Immerhin hat sich Gott nach der neutestamentlichen Botschaft in Jesus Christus uns bekannt gemacht. Er könnte uns vielleicht viel bekannter sein als das vermeintlich Bekannte aus den Wissenschaften – wenn wir uns auf seine Bekanntschaft einlassen würden. Jedenfalls macht sich Gott bis heute bekannt durch seinen Geist, der uns "in alle Wahrheit führt". Wie relevant demgegenüber das uns "bekannte" Wissen (das ja bekanntlich schnell auch wieder überholt sein kann) ist, sei zumindest gefragt.
Es mag ja sein, dass die Fähigkeit zum Bösen für die Entwicklung und das Überleben des Menschen eine wichtige Rolle spielte. Das macht das Böse aber nicht zum Guten. Der Mensch ist mitsamt der ganzen Schöpfung vom Schöpfer abgefallen; darum sehnt er sich mitsamt der ganzen Kreatur nach Erlösung (Röm 8,19ff). Vielleicht konnte er in der gefallenen Schöpfung nur überleben, indem er sich das Böse zu eigen machte. Es gibt eben eine Schuldverstrickung aller Geschöpfe, der kein Mensch entkommen kann. Dass Gott es so gewollt und geschaffen hat, ist aber damit nicht gesagt.
Ich würde deshalb nicht sagen, dass das Böse im Menschen angelegt ist, sondern dass es in ihm ist, obwohl es niemand in ihn hineingelegt hat. Darum soll es auch nicht ignoriert oder wegdefiniert werden. Auch Karl Barth hat das nicht getan, sondern ihm hunderte von Seiten in seiner Dogmatik gewidmet. Es geht nur darum, wovon man zuerst redet und was Haupt- und Nebensache ist. Diesbezüglich sollte eine deutliche Rangordnung bestehen. Es gibt ja auch christliche Kreise, die mehr von Sünde als von Gnade reden und den Menschen damit Angst machen. Das gilt es zu vermeiden.
Ich stimme dir zu darin, dass es eine Hybris ist zu behaupten, den Willen Gottes verstanden zu haben. Leider gibt es auch im Christentum bis heute Menschen, die dieser Hybris offenbar verfallen sind – vor allem diejenigen, die meinen, die Wahrheit allein zu haben. Welche Theologen du dabei im Blick hast, weiß ich nicht. Recht verstanden ist auch niemand mit der Verkündigung des Willens Gottes beauftragt, sondern damit, in die Welt zu gehen, zur Nachfolge Jesu einzuladen, Menschen zu taufen und das zu lehren, was nach jeweiliger subjektiver Erkenntnis der Wahrheit Jesu entspricht (Mt 28,19f). Der alte und immer wieder vorgebrachte Hinweis auf die vielfältigen Verfehlungen der Kirche ändert nichts daran. Jesus hat keine Vollkommenen ausgesandt, sondern äußerst fehlbare Menschen. Und gerade ihnen hat er verheißen, durch sie gegenwärtig zu sein (Mt 28,20b). Ohne diese Verheißung wäre in der Tat jede menschliche Verkündigung eine gottlose Hybris.
Viele Grüße
Klaus
Konkret meine ich damit, dass der Menschen bei allen Unvollkommenheiten, Unwissenheiten gerne Unverantwortlich denn eigenen Vorteil sucht. Das verschmutzt nicht nur die biologische, chemische, sondern auch die soziale, finanzielle, emotionale, moralische Welt des Menschen.
So wie in draußen aussieht, sieht es auch innen aus. Die materielle Welt ist nur ein Abbild der geistigen Welt in der wir leben, über die Schnittstelle des Körpers. Schade, dass viele diese Rückschlüsse für sich selbst nicht ernst genug nehmen. Alles würde dann mit der Wahrhaftigkeit anfangen, zur Reue und Umkehr führen, und in der Liebe münden.
Vielleicht kannst du noch konkretisieren, was du mit dem Prinzip hinter den Umweltsünden meinst und mit emotionalen, gläubigen, informellen etc. Umweltsünden.
danke für deine Erläuterung. Ich stimme dir zu: Das Fehlverhalten bestimmt die ganze Welt. Man könnte nicht nur von ökologischer Umweltverschmutzung sprechen, sondern auch von sozialer, finanzieller, emotionaler etc. Dass der Mensch in dieser Weise agiert, hat jemand dadurch ausgedrückt, dass er ein "Kostverächter" sei - er merkt gar nicht, was ihm durch sein eigenes Verhalten verloren geht bzw. will es nicht wahrhaben. Gott sei Dank (!) gibt es aber auch das Wirken des Geistes und dadurch die Liebe und die "Reinhaltung" der Umwelt - dort, wo der Geist wirkt und wir es zulassen.
ein paar kurze Bemerkungen dazu muss ich doch loswerden:
"Dass er das Böse erschaffen hat, lese ich weder in der ersten noch in der zweiten Schöpfungsgeschichte."
Dass die Erde kugelförmig ist, steht da auch nicht; dennoch ist es so.
Zu der Wohlordnung des Geschaffenen, oder weltlich gesagt, der Natur, gehören eben auch Raubtiere, Vulkanausbrüche etc. etc., die alle auch ihren Sinn haben.
Man kann natürlich darüber diskutieren, ob "das Böse" und "die Sünde" nicht Wertungen sind, die es ohne Menschen nicht gäbe.
"Gott", "nach der neutestamentlich Botschaft in Jesus Christus uns bekannt gemacht", "bis heute bekannt durch seinen Geist", "vom Schöpfer abgefallen", "sehnt er sich mitsamt der ganz Kreatur nach Erlösung".
Das ist alles nur geglaubt!
Ich teile diesen Glauben, wenn auch nicht in allem, aber ich setze ihn nicht annähernd mit Wissen gleich. Ich weiß, dass Wissen nicht perfekt ist und es nie sein wird, aber Glauben ist im Vergleich dazu spekulativ.
Viele Grüße
Thomas
ich verstehe die Schöpfung als Gottes sehr gute Ordnung (Gen 1), und die "Unordnung" hat sich erst durch den Abfall von Gottes Ordnung eingeschlichen, d.h. sie gehört nicht zu Gottes Schöpfung. Vom Abfall oder Fall (vgl. Bonhoeffers Buch "Schöpfung und Fall", jetzt wieder neu aufgelegt) ist nicht nur der Mensch betroffen, sondern die ganze Schöpfung.
Natürlich ist das nur ein Glaubenssatz, wie all die anderen Sätze auch, die du nennst. Glaube ist nicht Wissen, wenn man Wissen als etwas Beweisbares versteht. Darum würde ich auch nicht von Glaubenswissen sprechen, sondern von Glaubensgewissheit. Man kann im Glauben einer Sache gewiss werden, auch wenn sie nicht beweisbar ist. Das schließt nicht aus, dass auch immer wieder Zweifel an dieser Gewissheit auftauchen. Andererseits kann diese Gewissheit sogar größer sein als jede Sicherheit hinsichtlich beweisbaren Wissens. Ich würde deshalb die Glaubensgewissheit auch nicht spekulativ nennen, weil ich nicht alles, was nicht beweisbar ist, als Spekulation verstehe. Spekulation ist es m.E., wenn jemand unabhängig von den biblischen Texten und von der Person Jesu sich seine eigenen Gedanken über Gott macht, also ohne Bindung an irgendetwas sich seinen Phantasien über Gott hingibt. Natürlich ist die Gefahr, das zu tun, immer gegeben, aber man sollte es so gut es geht vermeiden - eben in der Bindung an die biblischen Texte und die Person Jesu.
Vielleicht unterscheiden wir uns in manchem gar nicht so sehr, verstehen aber manche Begriffe unterschiedlich.
Viele Grüße
Klaus