Habe ich mir den Gottesdienst abgewöhnt?
Klaus Straßburg | 21/08/2022
Heute ist Sonntag. Gottesdiensttag. Und ich muss etwas gestehen: Ich vermisse den Gottesdienst nicht. Und ich habe von jemandem, von dem ich das nicht erwartet hätte, gelesen, dass es ihm genauso ging.
Aber der Reihe nach. Vor Corona war ich fast jeden Sonntag im Gottesdienst. Nicht, weil ich mich gedrängt fühlte, sondern weil ich es wollte. Die Gottesdienste haben mir etwas gegeben: mal die Predigt, mal ein Lied, mal die Moderation. Irgendetwas habe ich immer mitgenommen. Ohne Gottesdienst fehlte mir etwas.
Dann kam Corona. Zuerst wurden die Gottesdienste nur im Internet gestreamt. Das war mir zu wenig lebensnah. Ich brauche die Nähe, das Live-Erlebnis. Dann fanden Gottesdienste wieder statt, aber unter starken Auflagen. Gottesdienst mit Maske, ohne Singen und ohne anschließendes Kaffeetrinken und Klönen – nein, das war's nicht. Seit einigen Monaten gibt es keine Einschränkungen mehr, nur das Kaffeetrinken fällt noch aus. Aber jetzt war es mir zu heikel wegen der Infektionsgefahr: Es gab keine Maskenpflicht mehr, die Gemeinde sang aus vollem Hals, und man saß relativ dicht gedrängt. Mit der Infektionsgefahr im Kopf kann ich den Gottesdienst nicht genießen.
Die Zahl der Gottesdienste, die ich in den letzten zwei Jahren besucht habe, kann ich an einer Hand abzählen. Aber seit vier Wochen bin ich wieder regelmäßig im Gottesdienst. Die Inzidenzen sind relativ niedrig, man muss keine Maske mehr tragen und darf wieder singen. Ich setze mich immer etwas abseits, mit Abstand zu den anderen Gottesdienstbesuchern.
In den zwei Jahren habe ich zu meinem Erstaunen festgestellt, dass ich den Gottesdienst nicht vermisse. Auch jetzt, wo ich wieder hingehe, muss ich mich jeden Sonntag dazu durchringen. Es zieht mich nicht mehr hin, so wie vor Corona.
Was ist passiert? Ist der Gottesdienstbesuch nur Gewohnheit gewesen? Eine Gewohnheit kann man sich auch abgewöhnen. Habe ich es mir abgewöhnt, den Gottesdienst zu besuchen? Und fällt es mir schwer, es mir wieder anzugewöhnen?
Der theologischen Theorie nach ist der Gottesdienst der Mittelpunkt des Gemeindelebens. Hier kommt die Gemeinde zusammen, um "Gottes Wort" zu hören, gemeinsam zu beten und mit Liedern Gott zu loben. Aber ist das noch realistisch?
Tatsächlich sind die Gottesdienste immer noch die meistbesuchten Veranstaltungen der Gemeinde. Daneben gibt es aber auch viele Kleingruppen, in denen teilweise auch "Gottes Wort" gehört, gesungen und gebetet wird. Und die Möglichkeiten, sich mit "Gottes Wort" zu beschäftigen, sind heute ungleich größer als noch vor fünfzig oder gar hundert Jahren. In früheren Jahrhunderten war der Gottesdienst sogar für viele die einzige Möglichkeit, "Gottes Wort" zu hören oder zu lesen – sofern man überhaupt lesen konnte.
Ich finde es für Christinnen und Christen ungemein wichtig, sich mit biblischen, religiösen oder theologischen Texten intensiv zu beschäftigen und den Austausch mit anderen Glaubenden zu suchen. Wenn man dies nicht tut, droht der Glaube "einzutrocknen" – er entwickelt sich nicht weiter, wächst nicht, bleibt nicht lebendig. Allein lernt man nichts dazu, entwickelt man keine neuen Ideen. Das gilt auch für den Glauben. Ohne Austausch droht er auf dem Stand des Konfirmandenunterrichts zu bleiben. Das muss kein minderwertiger Glaube sein, aber er ist wahrscheinlich nicht sonderlich reflektiert.
Ich persönlich beschäftige mich täglich mit biblischen und theologischen Texten. Insofern bin ich dauernd im Austausch mit inspirierenden Gedanken. Das ist sicher eine Sondersituation, die für nicht viele Glaubende gilt und auch nicht notwendig ist.
Dennoch verwundert es mich, dass ich den Gottesdienst kaum vermisse. Was ich vielleicht am meisten vermisse, ist das persönliche Miteinander nach dem Gottesdienst – die netten Leute und die Gespräche mit ihnen. War es also nur das Miteinander, was mich früher in den Gottesdienst zog?
Sicher nicht nur. Auch der Gottesdienst selber war für mich ein inspirierendes Erlebnis. Jetzt aber, seit es Corona gibt, hängt ein Damoklesschwert über jedem Gottesdienst. Es macht keinen Spaß, in irgendeiner Ecke allein zu sitzen und nach dem Gottesdienst relativ bald wieder nach Hause zu fahren. Es fehlt das persönliche Miteinander. Dass dieses Miteinander so wichtig für mich ist, war mir vor Corona nicht bewusst.
Es tröstet mich, dass ich offensichtlich nicht der einzige bin, der den Gottesdienst kaum vermisst. Dietrich Bonhoeffer hat in einem Brief aus dem Gefängnis nach acht Monaten Haft nur mal so am Rande bemerkt*:
Übrigens, ich vermisse den Gottesdienst so merkwürdig wenig. Woran liegt das?
Eine Antwort hat Bonhoeffer nicht gegeben. Ich kann auch keine endgültige Antwort geben. Ich weiß aber, dass es wichtig ist, sich mit dem, was Gott uns sagen will, auseinanderzusetzen – auf welche Art auch immer. Und ich bin überzeugt davon, dass ein glaubender Mensch in eine Gemeinde gehört, weil er dort im Glauben gestärkt werdem kann. Außerdem kann er dort zusammen mit den anderen seiner Berufung gerecht werden, am Reich Gottes mitzubauen. So, wie es ein Lied sagt**:
Einsam bist du klein,aber gemeinsam können wirAnwalt des Lebendigen sein.Einsam bist du klein.
* * * * *
* Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung. Chr. Kaiser Verlag, 3. Aufl. München 1985, S. 183. Brief an Eberhard Bethge
vom 15.12.1943.
** Text: Friedrich Karl Barth, Peter Horst. Copyright Peter Janssens Musik Verlag, Telgte-Westfalen. Zitiert aus: Lieder zwischen
Himmel und Erde. tvd-Verlag, 1. Aufl. Düsseldorf 2007, Nr. 315.
Foto: Jeyaratnam Caniceus auf Pixabay.
mir ging es ähnlich. Vor Corona bin ich zwar nicht jeden Sonntag, aber ca. jeden zweiten Sonntag zum Gottesdienst gegangen. Mir war es wichtig, an dem ritualisierten Angebot meiner Religion teilzunehmen, dort präsent zu sein, das empfundene Durchschnittsalter von Ü60 etwas zu senken, in der meist ziemlich leeren Kirche zu sitzen oder zu stehen, mir mit An- und Abfahrt zwei Stunden am Stück dafür Zeit zu nehmen, die alten Texte und Formeln zu hören, gemeinschaftlich Gebete zu sprechen, die Lieder zu singen. Hin und wieder war auch mal eine Predigt dabei, aus der ich etwas mitgenommen habe. Zum anschließenden Kaffeetrinken bin ich nicht gegangen, das war für mich eine Alte-Damen-Veranstaltung, die mich nicht interessiert hat.
Bevor die Impfung möglich war, habe ich es aus eigener Vorsicht gelassen, danach gefühlt den Leuten den Vortritt gelassen, denen der GoDi wichtiger war, und bisher auch nicht wieder angefangen, weil ich nicht wirklich etwas vermisst habe.
Bei besonderen Gelegenheiten (Trauungen, Taufen, Weihnachten) war ich trotzdem mal in der Kirche, aber da war dann auch mehr los und ich selber mehr beteiligt.
Ganz anders war es mit dem Posaunenchor. Dort war ich froh, als der Neustart möglich war, erleichtert, dass doch nicht so viele Jugendliche von der Fahne gegangen waren, wie wir befürchtet hatten, und etwas erschreckt, wie sehr die Form doch gelitten hatte. Inzwischen sind wir da wieder ganz gut in Tritt gekommen.
Ich habe mir noch kein abschließendes Urteil gebildet, was ich davon für Kirche insgesamt halten soll.
Viele Grüße
Thomas
Ich habe es letzte Woche mit Freude genießen dürfen und es hat sich ein neuer Kontakt ergeben.
Es gibt ja nichts schöneres, als wie eine Biene gemeinsam über die geistigen Blumen-Wiesen zu fliegen und alles mit Gottes Geist befruchten zu dürfen und dann die ganze Pracht und Herrlichkeit mit einem dankbaren und in sich ruhenden Lächeln einfach nur genießen zu dürfen.
vielen Dank für deine Schilderung. Sie sagt mir, dass ich mit meinem Empfinden nicht alleine bin. Das spricht ja eigentlich nicht für die Gottesdienste. Die Frage bleibt, wie ein Gottesdienst aussehen müsste, den man vermisst, wenn man längere Zeit nicht dabei war.
Viele Grüße
Klaus
vielen Dank für deine schöne poetische Beschreibung der christlichen Gemeinschaft. Ich entnehme daraus, dass auch für dich das Miteinander mit den Mitchristinnen und -christen von großer Bedeutung ist.
wie müsste ein Gottesdienst aussehen, den man vermisst, wenn man längere Zeit nicht dabei war? Eine ganz schwer zu beantwortende Frage. Ich denke spontan an einen äthiopisch-orthodoxen Gottesdienst (Messe?), bei dem ich mal auf einem Kirchentag in Frankfurt/Main dabei war. Eine hohe sonnendurchflutete Kirche, viel Weihrauch, viel Trommeln und Tanz, ein Publikum, das mitging wie bei einem Rockkonzert. So etwas würde ich gern noch einmal erleben. Dazu würde ich auch gern Leute einladen.
Neben guter Musik und mehr Visualität würde ich mir mehr wünschen, was eine mediterran urchristliche Atmosphäre vermittelt. Nicht Pfarrer, die einen Gottesdienst wie einen Verwaltungsakt durchziehen (kein persönlicher Vorwurf, ist strukturell angelegt), sondern so etwas wie Glaubens-Coaches, die einem nicht predigend die Welt erklären, sondern Entwicklungen fördern und das aufnehmen können, was ihnen entgegenkommt.
Viele Grüße
Thomas
dass der Gottesdienst, den du beschrieben hast, beeindruckend war und dass man zu ihm auch gern Leute einladen würde, kann ich gut nachvollziehen. Ich würde es sicher ähnlich empfinden. Mir wären auch wichtig: gute Musik, Mitgehen der Gemeinde, visuelle Elemente, emotional angesprochen werden, nicht immer dieselbe formale Struktur, keine Predigten "von oben herab" (Kanzel, Ornat), sondern mit dialogischen Elementen, also von Mensch zu Mensch, nicht von Experte zu Laie - ein Gottesdienst nicht nur für den Kopf, sondern für alle Sinne, und nicht als "Frontalunterricht", sondern als wechselseitiges Miteinander. Ich denke, das kommt deiner Vorstellung sehr nahe.
Mit Wechselseitigkeit meine ich keine Wechselgesänge wie in der lutherischen Liturgie, die es ja nicht wirklich erlaubt, dass die Personen sich selbst einbringen. Ich muss aber auch zur Kenntnis nehmen, dass gerade diese streng liturgischen Abläufe von nicht wenigen Menschen geschätzt werden und dass ihnen eine offene Gestaltung zu anstrengend ist. Dennoch halte ich unsere jetzige liturgische Form mit Liedern aus vergangenen Jahrhunderten für absolut überholt, so dass bei vielen der Eindruck entsteht, der christliche Glaube sei eine Sache für die ewig Gestrigen. Das finde ich fatal, und ich kann verstehen, dass die meisten Menschen sich davon nicht angesprochen fühlen. Geradezu unbegreiflich ist mir inzwischen, dass diese Jahrhunderte alte Form immer noch weitergetragen wird, von Generation zu Generation - oder besser gesagt: ohne die jungen Generationen, aber das stört die Alteingesessenen ja offenbar überhaupt nicht.
Viele Grüße
Klaus