Gottes Verheißungen – Aufbruch in die Zukunft (Teil 3)
Klaus Straßburg | 04/05/2023
Das jüdisch-christliche Denken ist geprägt von einem Bewusstsein um die Geschichtlichkeit des menschlichen Lebens und der ganzen Schöpfung. Denn der Gott, der in der Vergangenheit die Welt erschaffen und die Glaubenden bewahrt hat, der Gott, der in jedem neuen Augenblick die Welt in Händen hält und den Glaubenden verborgen gegenwärtig ist, dieser Gott hat auch für die Zukunft den Glaubenden seine Fürsorge verheißen und der Welt ihren Bestand zugesagt bis zur Schaffung einer neuen Welt, eines neuen Äons in einer anderen Dimension. Deshalb vertrauen Glaubende auf Gottes Wirken in der Geschichte und blicken hoffnungsvoll in die Zukunft.
Im ersten Teil dieser Reihe habe ich die Hoffnungsperspektive des Alten Testaments zwischen Verheißung und Erfüllung dargestellt. Im zweiten Teil folgte ein Überblick über die Reich Gottes-Aussagen des Neuen Testaments. In diesem dritten und letzten Teil sollen einige konkrete Konsequenzen christlicher Hoffnung angedeutet werden. Dabei wird das in den ersten beiden Teilen Dargestellte vorausgesetzt.
1. Einsatz für das Vergängliche
Wenn wir Jesus Christus den "Herrn" nennen, ist das nicht nur eine Hoheitsbezeichnung für ihn – so, wie man in vergangenen Zeiten einen standesmäßig Höherstehenden mit "Herr" anredete. Es ist vielmehr eine Bezeichnung, die schon zu Jesu Lebzeiten auf Erden den Gott Israels bezeichnete, also den als "König" über die Welt Herrschenden. Diese Bezeichnung "Herr" wurde von der jungen Christenheit für Jesus übernommen.
Es geht also bei der Bezeichnung "Herr" nicht um einen Gott, der irgendwo existiert und den die Welt nichts angeht, sondern es geht um einen Gott, der die Herrschaft über die Welt ausübt. Er übt sie allerdings bis jetzt so aus, dass sie noch angefochten ist und ihr noch widerstanden wird, und auch so, dass sie nicht direkt sichtbar, sondern verborgen ist. Erst in Zukunft wird seine Herrschaft unangefochten und für alle sichtbar sein (Kol 3,4; Offb 15,4).
Gott herrscht also, obwohl so vieles seinem Reich widerspricht und es bekämpft. Darum sagt man, er herrsche im Verborgenen. Dieses Herrschen im Verborgenen bedeutet, dass auch das, was seinem Herrschen widersteht und es ablehnt, letztlich Gott dienen muss (Röm 8,28). Gott setzt sich also auf verborgene Weise gegen das ihm Widerstrebende durch. Damit ist gesagt, dass Gottes Heil sich nicht nur im Jenseits durchsetzt, sondern auch schon im Diesseits. Es setzt sich aber im Diesseits in anderer Weise durch als im Jenseits, nämlich so, dass sein Herrschen durch Leid und Tod geprägt sein kann – so wie das Heil der Welt sich im Leiden und Sterben Jesu Christi durchsetzte.
Es ist daher eine Verkürzung, Gottes Heil auf das Jenseits zu konzentrieren, also auf das persönliche Seelenheil der Glaubenden oder auf eine Neuschöpfung der Welt. Genauso ist es aber auch eine Verkürzung, Gottes Heil auf das Diesseits zu beschränken, also auf die Gemeinschaft mit Christus schon jetzt oder auf ein gutes Leben für alle Menschen in dieser Welt. Der Geist Gottes, der den Glaubenden verliehen wird, ist der Geist der Auferstehung, also ein die Toten lebendig machender Geist (Röm 8,11), ein Geist, der das Unmögliche möglich macht. Dieser Geist wirkt aber schon jetzt auf Erden und macht Unmögliches möglich. Darum steht er im Zusammenhang mit der Hoffnung der Glaubenden, die auch dann noch hoffen, wenn es nichts mehr zu hoffen zu geben scheint (Röm 4,17f).
Der im Diesseits gegebene Geist Gottes ist allerdings nur eine Abschattung, ein "Angeld" (2Kor 5,5), das heißt: eine Anzahlung auf das jenseitige Heil. Eine Anzahlung ist noch nicht das Ganze, aber sie ist schon ein Teil des Ganzen. Entsprechend kann man sagen: Wir erfahren im Geist Gottes schon jetzt eine unzulängliche, partielle Vorwegnahme des jenseitigen Heils. Das jenseitige Heil wiederum ist eine Weiterführung und Vollendung des diesseitigen. Beide, diesseitiges und jenseitiges Heil, treten nicht in eine Konkurrenz zueinander. Das diesseitige Heil ersetzt nicht das jenseitige und das jenseitige nicht das diesseitige. Vielmehr gehören beide untrennbar zusammen. Das Diesseits ist nicht die Endstation und das Jenseits nicht ein Ziel ohne Vorgeschichte.
Das ist deshalb wichtig, weil Glaubende in die Welt gesandt sind, um nicht nur für das jenseitige Heil zu werben, sondern sich auch für das diesseitige einzusetzen. Sie sollen nicht nur in die jenseitige Dimension des Reiches Gottes einladen, sondern auch der diesseitigen den Weg bereiten. Ja, sie sollen sich für beide Dimensionen mit aller Kraft und ihrem ganzen Leben einsetzen.
Es ist eine große Gefahr für das Christentum, sich auf das diesseitige Heil, auf ein Leben im Geist Gottes schon jetzt und ein gutes Leben im Diesseits zu beschränken. Das führt dazu, dass der Ernst einer Glaubensentscheidung für das ewige Sein des Menschen nicht wahrgenommen wird. Die Vergänglichkeit unseres Lebens und die Verheißung eines ewigen Lebens werden dann nicht in angemessener Weise berücksichtigt.
Es ist eine ebenso große Gefahr für das Christentum, dass es sich in seiner Mission auf das jenseitige Heil, auf das ewige Leben beschränkt. Das führt dann dazu, dass die Not vieler Menschen im Diesseits nicht ernst genommen wird. Man kann dann an dieser Not vorbeigehen, weil das Entscheidende ja angeblich erst im Jenseits kommt.
Jesus hat sich aber anders verhalten. Er hat sowohl zum Glauben aufgerufen und den Glaubenden das ewige Heil verheißen als auch die Leidenden in dieser Welt gesund gemacht (Mt 11,4-6). Mit beidem hat er das Anbrechen des Reiches Gottes vollzogen.
Wir sind zu dem aufgerufen, was das Alte Testament das Ebnen des Weges für Gott im Diesseits nennt (Jes 40,3). Das Neue Testament spricht von der Nachfolge Jesu (z.B. Mt 4,19f). Beides meint, schon im Diesseits den Weg zu gehen, den Gott mit dieser Welt gehen will und an dessen Ziel die neue Schöpfung steht.
Das Vorangehen Jesu macht Mut, auch in den äußersten Krisen dieser Welt ihm nachzufolgen. Christinnen und Christen laufen nicht irgendwelchen Menschen und Ideen nach, sondern sie folgen Jesus Christus, um dessen Heil in diese Welt zu bringen. So geschieht schon im Vergänglichen und Vorläufigen die Zeitenwende, die im Ewigen und Endgültigen ihre Vollendung finden wird.
2. Die Tendenzen des Reiches Gottes
Gottes Verheißungen und Gottes Reich sind keine beliebig zu füllenden Größen. Sie haben vielmehr bestimmte Tendenzen. Ihr Ziel ist alles, was das Leben fördert. Erste Adressaten des Reiches sind daher die Armen und Kranken, die Sünder und vom gesellschaftlichen Leben Ausgeschlossenen. Ihnen wandte sich Jesus in besonderer Weise zu. Den Reichen und Selbstgerechten hingegen sowie den gesellschaftlichen Autoritäten und ihren Weltdeutungen begegnete er äußerst kritisch.
Das weist darauf hin, dass die Tendenzen des Reiches Gottes oft einen Kontrast zu den gesellschaftlichen Tendenzen bilden. Den Lebenswandel der ihm Nachfolgenden grenzt Jesus scharf gegenüber dem der Mächtigen ab: Sie sollen den Menschen dienen statt sie zu unterdrücken (Mk 10,42-45). Jesus wendet sich hier gegen die scheinbar unumstößliche politische Wirklichkeit. Die ungerechten gesellschaftlichen Verhältnisse scheinen so fest zementiert, dass eine Veränderung dieser Verhältnisse unmöglich erscheint. Dem Einfluss derer, die an den Hebeln der Macht sitzen, scheint niemand entkommen zu können.
Jesus ruft in dieser Situation nicht zum gewaltsamen Umsturz auf. Er gibt sich aber auch keiner Alternativlosigkeit hin. Er sieht vielmehr die Alternative darin, anders zu leben, als es die gesellschaftlichen Verhältnisse und Wertvorstellungen nahelegen. Er ruft dazu auf, einen Gegenentwurf zum selbstverständlich gewordenen Lebenswandel zu praktizieren. Die herrschenden Wertvorstellungen werden dadurch unterlaufen, dass die Jesus Nachfolgenden einen anderen Lebensstil pflegen und auf diese Weise zeigen, dass es Alternativen zum allgemein Üblichen gibt.
Für die Kirchen heute bedeutet dies, dass sie sich die Frage stellen müssen, für wen sie vorrangig da sein wollen: Sind es die Gläubigen, Etablierten und Gebildeten? Sind es diejenigen, die sowieso schon zur Gemeinde gehören? Oder wollen sich die Kirchen vor allem denjenigen zuwenden, die gesellschaftlich geächtet sind, von Teilhabe ausgeschlossen werden und deshalb nur eine schwache Position am Rande der Gesellschaft einnehmen? Wollen sie sich auf die Außenstehenden, denen der christliche Glaube noch fremd ist, genauso konzentrieren wie auf die Insider? Diese Fragen rufen nach einer kirchlichen Entscheidung, welche die von Gott schon getroffene Entscheidung für die Armen, Sünder und Ausgegrenzten entweder aufgreift oder verwirft (1Kor 1,26-29; Röm 4,5; 5,6).
Das Problem vieler Gemeinden liegt darin, dass sie sich vornehmlich den bereits Dazugehörenden widmen und ihr Angebot auf diese Zielgruppe abstellen. Das Ergebnis ist, dass immer dieselben Menschen die kirchlichen Veranstaltungen besuchen und der Altersdurchschnitt relativ hoch ist. Es könnte ein belebendes Element sein, wenn diese Gemeinden den Mut hätten, zum Beispiel ihre Gottesdienste vornehmlich auf Menschen auszurichten, die dem christlichen Glauben noch fern stehen und sich deshalb in den traditionellen Gottesdienstformen fremd fühlen. Beispiele aus der kirchlichen Praxis zeigen, dass alternative Gottesdienstformate durchaus Menschen ansprechen können, die nicht zum innersten Kern der Gemeinde gehören.
Eine weitere Frage besteht darin, welchen Stellenwert im Glauben das apokalyptische Wissen um geschichtliche Endzeitentwicklungen und Termine hat, mit denen oft genug gedroht und Angst gemacht wurde. Jesus lehnte Terminforschung ab und war an Endzeitereignissen an sich nicht interessiert. Ihm ging es um die Umkehr der Menschen zu Gott, und zu dieser Umkehr hat er eingeladen, indem er von Gottes Liebe und Zukunft sprach und vom Ernst einer Glaubensentscheidung, nicht aber, indem er Angst machte.
Auch Staaten, Wirtschaftssysteme und Institutionen jeder Art haben Tendenzen. Weil diese meist nicht offen zutage liegen, sondern unter der Oberfläche ihre Wirkung entfalten, müssen die Strukturen der genannten Systeme ins Auge gefasst werden. Nur so lässt sich beurteilen, ob sie den Zukunftstendenzen Gottes, die sich aus seinen Verheißungen ergeben, entsprechen oder widersprechen. Zu dieser Urteilsbildung gehören politisches Wissen, Empathie für menschliche Not und Parteilichkeit für die Benachteiligten. All das fordert einen Einsatz für ein Leben in Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit, das allen Völkern widerfährt.
3. Freiheit im Reich Gottes
Die christliche Freiheit gründet im endgültigen Freispruch der Sünderinnen und Sünder durch den liebenden Gott. Wer sich nicht nur zeitlich, sondern ewig geliebt und mit Gott versöhnt weiß, ist frei davon, um Liebe und Anerkennung ringen zu müssen. Er vertraut auf die Fürsorge des ihn liebenden Gottes und hat deshalb die Freiheit, seine eigenen Interessen zurückzustellen und seinen Mitgeschöpfen den Anteil an den Lebensgütern zu gewähren, der ihnen zusteht. Wer sich unauflöslich geliebt und geborgen weiß, ist fähig zur Liebe und Fürsorge für andere (Röm 8,2). Darum schrieb der Apostel Paulus: "Zur Freiheit hat uns Christus befreit" (Gal 5,1). Diese Befreiung erleben wir, weil wir dem Unglauben verhaftet bleiben, im Diesseits nur angefochten und deshalb als relative Freiheit. Sie wird zur unangefochtenen und absoluten Freiheit, wenn die ganze Schöpfung in Herrlichkeit erneuert werden wird (Röm 8,21).
Die christliche Freiheit ist also nicht identisch mit dem, was heute Selbstverwirklichung und Autonomie genannt wird. Selbstverwirklichung und Autonomie binden die Freiheit an den Menschen und seine Durchsetzungskraft. Um Selbstverwirklichung und Autonomie muss gerungen werden, und zwar gegen die Selbstverwirklichungs- und Autonomieansprüche der Mitmenschen und gegen das Lebensrecht aller Kreaturen. Wer sich aber trotz seiner Glaubensschwäche und ethischen Fehlbarkeit durch Jesus Christus gerechtgesprochen weiß, wer deshalb seines Lebensrechtes durch den Schöpfer und Richter des Lebens unumstößlich versichert ist und wer davon in der Kraft des Geistes Gottes Gewissheit erlangt hat, der muss um sein Lebensrecht, seine Selbstbestimmung und die Verwirklichung seiner Ansprüche nicht mehr um jeden Preis kämpfen. Er weiß das alles verwirklicht in der Liebe Gottes.
Er weiß es verwirklicht auch dann, wenn andere ihm Freiheit, Verwirklichung seiner Interessen und Lebensrecht verwehren. Darum kann die christliche Freiheit ins Leiden führen. Dann geschieht es, dass die Glaubenden zwar ihre Freiheitsrechte und im Extremfall sogar ihr Lebensrecht verlieren. Es bleibt ihnen aber die selbstbestimmte Entscheidung zur Gemeinschaft mit Gott, und es bleibt die Hoffnung darauf, dass Gott ihnen auch in der Unterdrückung und Bedrohung ihres Lebens alles Lebensnotwendige geben wird – auch wenn ihnen ihr Leben im Diesseits genommen wird.
Relative Freiheit in Christus bedeutet aber, dass die Unterschiede zwischen den Menschen keine Vorrechte oder Benachteiligungen begründen (Gal 3,28; Kol 3,11). Dies ist in den Verfassungen der demokratischen Rechtsstaaten festgeschrieben. Auch die Regierenden sind in diesem Staat dem Recht unterworfen. Ihre Macht ist aus guten Gründen begrenzt und wird kontrolliert. Der christliche Glaube hat deshalb durchaus eine Affinität zum demokratischen Rechtsstaat. Er ist aber genau deshalb besonders hellhörig, wenn die Strukturen des demokratischen Rechtsstaats in Gefahr geraten, unterlaufen zu werden. Dies kann zum Beispiel geschehen durch die Regierenden selbst, durch Rechtsprechung oder durch die gezielte Manipulation der öffentlichen Meinung. Weil diese Gefahr immer gegeben ist, "erinnert" die Kirche den Staat "an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten" (Theologische Erklärung von Barmen, These 5).
4. Friede im Reich Gottes
Wie die christliche Freiheit, so gründet auch der christliche Friede nicht in innerweltlichen Gegebenheiten, wenngleich er sich in bestimmten innerweltlichen Gegebenheiten ausdrückt. Der biblische Begriff des Schalom, des Friedens, umfasst weit mehr als die Abwesenheit von Streit und Krieg. Er beschreibt zum einen die Versöhnung der Welt mit Gott und zum anderen ein lebensförderliches Miteinander in allen weltlichen Gemeinschaften von der Zweierbeziehung bis hin zu den zwischenstaatlichen Beziehungen. Auch das segensreiche Miteinander zwischen den Menschen und allen anderen Kreaturen ist inbegriffen. Friede bezeichnet einen Zustand von Unversehrtheit und Ganzheit (z.B. Mk 5,34), der eben nur in einem gedeihlichen und lebensförderlichen Miteinander gegeben ist.
Die Glaubenden haben Frieden mit Gott dadurch, dass sie bereits jetzt mit ihm versöhnt sind und deshalb auf ein ewiges Leben in Herrlichkeit hoffen können (Röm 5,1f). Der Friede hat also, wie die Freiheit, eine diesseitige und eine jenseitige Komponente. Die Glaubenden sollen aber nicht einfach auf den vollkommenen Frieden im Jenseits warten. Sie sollen vielmehr den verheißenen Frieden schon jetzt vorwegnehmen, soweit es möglich ist (Röm 12,18). Ist dies nicht möglich, so sind sie aufgerufen, den Unfrieden in Liebe zu ertragen (1Kor 13,4-6). Dieses Ertragen kann durchaus bedeuten, einen Weg des Leidens zu gehen, der aber immer von Hoffnung begleitet und getragen ist (Röm 5,3-5).
Menschen können den christlichen Frieden nicht herstellen, denn der Friede bleibt im Diesseits immer bedroht. Christinnen und Christen hoffen aber auf einen relativen Frieden schon im Diesseits. Und sie treten für diesen Frieden mit aller Kraft ein, auch dann, wenn es keinen weltlich plausiblen Grund zu geben scheint, dass dieser Friede verwirklicht werden kann. Denn sie hoffen darauf, dass Gott auch in einer unfriedlichen Welt Frieden wirkt.
Der Friede zwischen Staaten beispielsweise wird nicht sichergestellt durch weltliche Bündnisse und die Androhung von Gewalt. Bündnisse, die gegen andere gerichtet sind, und die Drohung mit Gewalt sind schon kein Friede mehr. Sie sichern vielleicht eine Zeit lang einen Waffenstillstand, sind aber damit noch kein Friede im beschriebenen biblischen Sinn. Selbst ein auf Erden möglicher relativer Friede wird nicht in jedem Fall aufrecht zu erhalten sein. In seltenen Extremfällen wird auch eine christliche Ethik nicht umhin können, die Verteidigung des Lebens mit Waffengewalt mitzutragen, um größeres Unheil zu verhindern. Dies gilt jedenfalls solange, wie keine gewaltfreie zivile Verteidigung eingeübt wurde. Aber auch während eines Krieges wird die Christenheit fordern, permanent nach Auswegen aus dem Krieg zu suchen und dem Gegner entsprechend entgegenzukommen.
Auch im Alten Testament wird beschrieben, wie das Volk Israel mit der Befürwortung Gottes Kriege gegen diejenigen führt, die das Volk angreifen und vernichten wollen. Deshalb darf, auch wenn durch Krieg kein Friede entsteht, die Welt nicht den Gewaltherrschern und Psychopathen überlassen werden, während die Christenheit sich auf das ewige Seelenheil freut.
Aber dieser äußerste und immer schuldbeladene Weg christlicher Ethik darf nur in extremen Ausnahmefällen beschritten werden. Der Weg des Friedens ist ein anderer. Auf ihm wird der Staat schon in Zeiten, in denen die Waffen schweigen, immer wieder Wege der Verständigung suchen. Er wird das eigene Streben nach geopolitischen Einflussbereichen zurückstellen, um eine Konfrontation zu vermeiden. Er wird eigene Interessen zurückstellen, um Kompromisse zu ermöglichen. Er wird Wege der deeskalierenden Diplomatie beschreiten anstatt die Eskalation voranzutreiben. Er wird nicht auf Maximalforderungen bestehen, sondern ein relatives Risiko einzugehen bereit sein – im besten Fall indem er darauf vertraut, dass Christus sein Friede ist (Eph 2,14-17). Der Staat wird auch versuchen, schon in Friedenszeiten Strukturen einer gewaltfreien Verteidigung zu entwickeln und einzuüben. Auf diese Weise kann auch das staatliche Handeln Wege beschreiten, die dem christlichen Streben nach Frieden entsprechen.
Das christliche Friedenshandeln, das dem Reich Gottes entspricht, betrifft auch das Wirtschaftsleben, das allen Menschen in der ganzen Welt eine Teilhabe an den Gütern der Welt erlauben muss. Denn Gottes Verheißungen gelten gerade den Armen. Und das christliche Friedenshandeln betrifft die Bewahrung der Schöpfung, damit die Kosten des Lebensstils einer oder zweier Generationen nicht auf viele kommende Generationen abgewälzt werden. Gottes Verheißungen gelten auch den kommenden Generationen. Deshalb entspricht es diesen Verheißungen, auch den zukünftig lebenden Menschen ein lebenswertes Leben zu ermöglichen und so der Verheißung des Reiches Gottes gerecht zu werden.
5. Immer neue Hoffnung im Reich Gottes
Die Christenheit lässt sich in ihrem Einsatz für das Reich Gottes nicht entmutigen von Widerstand und dem scheinbaren Sieg der bösen Mächte. Sie resigniert nicht, sondern hofft auf das, was Menschen unmöglich erscheint und von ihnen auch nicht geschafft werden kann.
Man kann der Meinung sein, der christliche Einsatz für das Reich Gottes sei realitätsfern und illusorisch, weil in der Welt nicht machbar. Aber die Christenheit richtet sich nicht nach dem, was weltlich machbar erscheint, sondern nach dem, was Gott machen will und kann. Auch das, was nach weltlichem Ermessen und nach allen Prognosen unmöglich erscheint, wird Christinnen und Christen nicht resignieren lassen. Denn sie hoffen darauf, dass der Gott sich durchsetzt, dem alles möglich ist (Mt 19,26). So hoffen Glaubende auch dann noch, wenn es nach weltlichen Maßstäben nichts mehr zu hoffen gibt (Röm 4,18a).
Wenn etwas Erhofftes sich nicht erfüllt oder eine Entwicklung hinter dem Erhofften zurückbleibt, setzen die Glaubenden auf Gottes Treue zu seinem Wort und zu seinen Verheißungen. Sie halten daran fest, dass Gott trotzdem herrscht, das heißt, dass alles letztlich ihm und dem Heil dienen muss (Röm 8,28). Gott herrscht auch in dem, was vorläufig, unvollkommen und hinter den Hoffnungen zurückgeblieben ist. Er ist der Herr der Welt, nicht die Mächte der Zerstörung sind es.
Das bedeutet nicht, dass die lebensfeindlichen Mächte der Zerstörung nicht noch viel Leid über die Kreatur bringen können. Denn Christus gleichgestaltet zu werden heißt, auch seinen Leiden gleichgestaltet zu werden. Die Christus Nachfolgenden sind bereit, das ihnen auferlegte Kreuz auf sich zu nehmen (Mt 10,38) und lieber Leid zu ertragen als Leid zuzufügen. Es kann geschehen, dass sie in der Angst vor dem Schmerz und dem Abschied des Todes leben. Aber sie müssen keine Angst haben vor der vernichtenden, unentrinnbaren Macht von Leid und Tod. Denn sie vertrauen der Verheißung auf die Überwindung von Leid und Tod im Auferstehungsleben.
Hoffnungen können enttäuscht werden. Gottes Wege sind nicht starr festgelegt und entsprechen schon gar nicht immer unseren Erwartungen. Sie können sich vielmehr wandeln und fordern deshalb zu einem Wandel unserer Hoffnungen heraus. Eine enttäuschte Erwartung führt aber nicht dazu, die Hoffnung aufzugeben. Sie kann sogar noch größere Hoffnungen aus sich heraussetzen.
6. Hinterfragen des Bestehenden
Das durch die Welt "wandernde Gottesvolk" zieht immer wieder aus von unbefriedigenden, heillosen Zuständen der Gegenwart in eine bessere, heilvolle Zukunft. Es sehnt sich nach der Gabe neuer Zukunft, nach der Verwirklichung und Vollendung des Reiches Gottes. Die Christenheit klebt deshalb nicht an Traditionen, am Vergangenen oder Liebgewonnenen. Sie macht es sich nicht bequem im erlangten Wohlergehen, sondern ersehnt sich Wohlergehen für alle Menschen. Darum ist sie bereit, alle lebensfeindlichen Zustände zu verlassen und sich auszustrecken nach neuen Horizonten, die Gott eröffnet.
Christlicher Gehorsam zeigt sich dann nicht im Befolgen "ewiger Gesetze", sondern in der Bereitschaft, eingefahrene Wege, die in Sackgassen geführt haben, im Vertrauen auf Gottes Geleit zu verlassen. Die Treue zum Vergangenen ist die Treue zum Anfang und Ursprung des christlichen Glaubens, nämlich zu Jesus Christus, zu seiner Verheißung und Sendung. Alle Weisungen Gottes finden ihr Kriterium und ihre Aktualität in der Liebe (Mt 22,36-40; Röm 13,10), und das heißt im liebevollen, lebensförderlichen Einsatz für die Benachteiligten, Ausgegrenzten, Armen, Kranken und Unterdrückten. Was ihnen nicht dient, dient Gott nicht.
Das bedeutet nicht weniger als die Krise alles Bestehenden. Es bedeutet das immer neue Hinterfragen, die Unruhe in aller Ruhe des Glaubens. Das Ruhen in der Geborgenheit bei Gott führt nicht in die Selbstzufriedenheit, sondern in die hoffnungsvolle und freudige Unruhe angesichts der lebensfeindlichen Zustände in der Welt. Es ist eine Unruhe in aller Ruhe und eine Ruhe in aller Unruhe. Es ist ein mutiges und hoffnungsfrohes Streben nach Freiheit und Frieden für alle Geschöpfe, ein Streben, das sich weder einschläfern lässt noch selbst zur Ruhe setzt, bevor das Reich Gottes sich vollendet hat.
Die ersten Fragen der Christenheit gelten dabei der eigenen christlichen Existenz: Es sind selbstkritische Fragen nach der Anpassung an die Welt (Röm 12,2; 1Kor 7,23) oder an Andersgläubige (Mt 6,7f), nach der Selbstzufriedenheit der Glaubenden (Mt 6,2; 7,5; 15,7f) und nach ungerechten Herrschaftsstrukturen innerhalb der Christenheit (Mt 20,20-28). All das gehört auf den Prüfstand, damit die Christenheit der Welt ein glaubwürdiges Zeugnis des Reiches Gottes sein kann.
Die zweiten Fragen der Christenheit gelten den weltlichen Herrschafts-, Wirtschafts- und Rechtsstrukturen und ihren Folgen. Da jede weltliche Struktur neben Sicherungen auch Gefahren und neben Vorteilen auch Nachteile in sich birgt, ist hier nichts in Stein gemeißelt. Deshalb muss die Bereitschaft bestehen, Strukturen zu verbessern oder durch neue zu ersetzen. Zu jeder Zeit muss neu gefragt werden, welche Strukturen den Menschen am besten dienen und zu einem Ausgleich von Interessen und Gütern führen. Die Christenheit wird dabei nicht selbst zur politischen Partei, aber sie ergreift Partei für die Benachteiligten. Sie erinnert die Regierenden und Regierten an ihre Verantwortung vor Gott und bezeugt diese Verantwortung durch das Zeugnis, das sie selbst in ihren Strukturen abgibt.
Die christliche Hoffnung ist nicht identisch mit dem Fortschrittsglauben der technischen und positivistischen Wissenschaften. Die Christenheit ist dankbar für die wissenschaftlich-technischen Errungenschaften der Neuzeit, die dem Leben der Menschen dienen. Sie sieht aber auch gefährliche Entwicklungen und verwirft den Gedanken, dass alles, was gemacht werden kann, auch gemacht werden sollte. Die wissenschaftlichen und technischen Bemühungen der Neuzeit haben sich von Beginn an darauf gerichtet, die Mächte der Natur zu beherrschen und Krisen möglichst zu vermeiden. Doch zeigt sich in den letzten Jahrzehnten, dass das Positive der Naturbeherrschung ins Negative umzuschlagen droht. Dem ist um des Lebens willen Einhalt zu gebieten. Die Christenheit erinnert an die Verantwortung der Wissenschaften, aber auch der Konsumentinnen und Konsumenten für die Bewahrung des Lebens in Gottes Schöpfung.
Die christliche Hoffnung lebt vom Vertrauen auf den unsichtbaren Gott und sein nicht empirisch nachweisbares Wirken in der Geschichte. Darum lebt sie davon, von Gott immer wieder Überraschendes, Unvorhersagbares, Unberechenbares zu erwarten. Die christliche Hoffnung setzt deshalb nicht auf das, was Menschen erreichen können. Sie setzt vielmehr auf den Gott, der das, was nicht ist, ins Sein ruft (Röm 4,17) und der so auch dem Menschen, der ohne ihn nichts vermag, den Geist und die Kraft zur grundlegenden Veränderung schenkt (Joh 15,5; 1Kor 1,28).
7. Ein persönliches Wort
Mit den drei Artikeln über Gottes Verheißungen und unseren Aufbruch in die Zukunft möchte ich Hoffnung machen in einer Zeit, die von Krisen geprägt ist in der es manchmal so scheint, als gäbe es nichts mehr zu hoffen. Ich erlebe diese Krisen als bedrückend und verliere die Hoffnung, wenn ich mir die menschliche Unfähigkeit vor Augen halte, diese Krisen zu bewältigen. Darum blicke ich nicht auf die Möglichkeiten der Menschen, sondern auf Gottes Möglichkeiten.
Es macht mir Hoffnung, dass der Schöpfer des Kosmos und aller Lebewesen die Welt nicht ihrem Schicksal überlässt, sondern bewahrend und leitend in der Geschichte wirkt. Ich setze darauf, dass er seinen Verheißungen treu sein wird und Lösungen herbeiführen wird, deren wir nicht fähig sind. Ich vertraue darauf, dass er Menschen bewegen wird, Wege aus den Krisen heraus zu finden. Ich bin überzeugt davon, dass er das schon in der Vergangenheit unzählige Male getan hat und auch in Zukunft tun wird.
Meine Hoffnung richtet sich darauf, dass die Welt und ihre Zukunft nicht in den unzulänglichen Händen von Menschen liegt, sondern in den gnädigen und liebevollen Händen der Macht, die wir unbeholfen "Gott" nennen. Das und nichts anderes macht mir Mut und gibt mir die Kraft, angesichts der Krisen nicht zu resignieren, sondern im Gegenteil hoffnungsvoll für eine bessere Zukunft einzutreten und fröhlich mit Gleichgesinnten zusammen den Weg in die Zukunft zu gehen, der beschwerlich sein mag, der aber unter der liebevollen Leitung Gottes, in der leidensbereiten Nachfolge Jesu und in der Leben und Freude wirkenden Kraft des göttlichen Geistes niemals umsonst und aussichtslos ist.
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Bild: Klaus Straßburg.
ich habe heute eine sehr konkrete Frage: Warum ist - auch in Deinem Text - gewöhnlich immer von "Herrschaft Gottes die Rede. Warum spricht man nicht eigentlich auch von so etwas wie einer "Heilschaft Gottes". Das würde doch dem Anliegen Gottes eher gerecht oder irre ich da grundsätzlich? Herzliche Grüsse und Danke für Deine Aufklärung
Michael
danke für deine interessante Frage. Die Rede von der Herrschaft Gottes geht zurück auf die hebräischen und griechischen Begriffe der "Königsherrschaft Gottes". Man stellte sich Gott als Herrscher der Welt vor und benutzte dazu die Vorstellung der damaligen Königreiche und ihrer Könige. Demokratien gab es ja damals noch nicht. Allerdings gibt es auch in den heutigen Demokratien Herrschende und Beherrschte oder, wie wir eher sagen würden, Regierende und Regierte. Auch wenn theoretisch alle Macht vom Volke ausgeht, herrscht das Volk nicht direkt, sondern wird von denjenigen regiert, denen die Macht übertragen wurde. Theologisch spricht man auch vom "Weltregiment Gottes".
Die Begriffe "Herrschaft" und besonders "Weltherrschaft" sind bei uns oft negativ konnotiert. Die biblisch verstandene Herrschaft Gottes ist hingegen positiv konnotiert. Insofern hast du vollkommen recht damit, wenn du mit Gottes Herrschaft das Heil in Verbindung bringst. Gottes Herrschaft wirkt Heil und nichts anderes. Nach Mt 21,5 zitiert Jesus einen alttestamentlichen Text und bezieht ihn auf sich selbst: "Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitend auf einer Eselin" (Sach 9,9). Der göttliche Herrscher ist also ein sanftmütiger, der Messias ist ein Friedensbringer. Herrschaft und Macht müssen nicht mit Unterdrückung und Gewalt verbunden, sondern können auch befreiend und liebevoll sein (jede Mutter hat Macht über ihr Kind, ohne dass sie es, wenn es recht zugeht, unterdrückt und Gewalt ausübt). Darum grenzte Jesus die weltlichen Herrscher prinzipiell gegenüber dem Verhalten der ihm Nachfolgenden ab: "Ihr wisst, dass die Fürsten der Völker sie knechten und die Großen über sie Gewalt üben. Unter euch soll es nicht so sein, sondern wer unter euch groß sein will, sei euer Diener, und wer unter euch der Erste sein will, sei euer Knecht, so wie der Menschensohn nicht gekommen ist, damit ihm gedient werde, sondern damit er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele" (Mt 20,26-28). So wie Jesus, das Ebenbild Gottes, nicht herrscht durch Unterdrückung und Gewalt, sondern durch Liebesdienst bis zur Selbsthingabe, so sollen es auch die ihm Nachfolgenden tun. Was hier "Herrschaft" bedeutet ist also etwas vollkommen anderes als das, was wir gewöhnlich darunter verstehen.
Es ist schwierig, Begriffe zu verwenden, die heute sehr missverständlich sind (das gilt auch für viele andere biblische Begriffe). Darum ist es immer gut, nach Alternativen zu suchen. Das Wort "Heilschaft" ist eine sehr kreative Idee. Der Begriff würde aber wahrscheinlich von vielen Menschen gar nicht verstanden, weil es das Wort im Deutschen nicht gibt. Und weil sich "Gottesherrschaft" in Jahrhunderten etabliert hat und zudem den biblischen Urtexten entspricht, wäre es wohl auch schwierig, ein anderes Wort dafür zu etablieren. Man sollte aber immer darauf hinweisen, dass Gott durch seine Herrschaft Heil schafft. Man muss versuchen, Heilschaft und Herrschaft zusammenzudenken: dienen und regieren, lieben und gerade darin mächtig sein, ja, leiden und gerade dadurch Heil schaffen.
Jesus war mächtig darin, dass er Kranke heilte, aber auch ohnmächtig am Kreuz hing. Gott ist mächtig, indem er nicht mit Gewalt, sondern auf verborgene Weise durch Leid und Tod hindurch die Welt seinem Ziel entgegenführt. In dieser Dialektik (du würdest vielleicht sagen: Paradoxie) lebt der christliche Glaube.
Viele Grüße
Klaus
....einen schönen Abend wünscht
Michael
vielen Dank für die interessante Frage. Ich würde es so ausdrücken: Gottes Heil kann tiefere Resonanzen in uns wecken, aber nicht jede tiefere Resonanz gründet in Gottes Heil. Eine "tiefere Resonanz" kann auch derjenige in sich verspüren, der eine Untat begeht. Jan Philipp Reemtsma beschreibt, dass der amerikanische Präsident Truman und sein Kriegsminister Stimson beim Abwurf der ersten Atombombe auf Hieroschima voller Entzücken darüber waren, über ein solches Zerstörungspotential zu verfügen. Das ist sicher ein Extrembeispiel, zeigt aber, dass nicht jede tiefere Resonanz in einem Heil Gottes gründet. Man könnte auch auf Demonstrierende verweisen, die eine tiefe Freude oder Befriedigung daran empfinden, ihren "Gegnern" gewaltsam Schaden zuzufügen.
Auf der anderen Seite würde ich sagen, dass Gottes Heilswirken auf Erden nicht unbedingt etwas "Tieferes" in uns auslösen muss, sondern auch die simple Wahrnehmung einer Genesung oder das Treffen einer richtigen Entscheidung sein kann. Aber natürlich wird jede größere Lebensveränderung auch eine tiefere Resonanz in uns wecken, die durchaus auf Gottes Wirken zurückgehen kann.
Einen schönen Tag wünscht
Klaus