Gefahr der Frömmigkeit: vor Gott recht haben wollen
Klaus Straßburg | 23/01/2023
Wir Menschen sind ja sehr intelligent, meinen wir jedenfalls, und vergleichen uns dann gern mit den Tieren, die so viele Dinge nicht können, die wir können. Das heißt aber nicht unbedingt, dass wir uns schlauer verhalten als Tiere. Das mag man sogar mit Fug und Recht bestreiten, wenn man sich die Weltgeschichte so ansieht. Aber das nur nebenbei.
Jedenfalls haben wir ein größeres Hirn als die Tiere, und darauf bilden wir uns ganz schön was ein und halten uns für viel intelligenter als sie. Wir können nämlich etwas, was Tiere (man muss sagen: vermutlich) nicht können, nämlich argumentieren.
"Argumentieren" heißt, etwas zu begründen und zu beweisen. Das macht so ungefähr unser halbes Leben aus, vielleicht auch mehr. Und es ist ja auch gut, etwas begründen und beweisen zu können, sonst säßen wir wahrscheinlich noch auf den Bäumen und würden Bananen fressen.
Weil wir das aber nicht mehr tun und als Menschen sogar religiös sein können, fangen wir nolens volens an, auch Gott gegenüber zu argumentieren. Nein, natürlich nicht ausdrücklich, nicht so, dass wir mit ihm Argumente austauschen. Aber doch so, dass wir unsere Argumente dafür haben, wie Gott eigentlich sein und sich verhalten müsste.
Um das jetzt mal etwas konkret zu machen, möchte ich euch eine Geschichte erzählen. Ihr kennt vielleicht die beiden fiktiven Kölner Figuren Tünnes und Schäl, die auch die Protagonisten vieler Witze sind. Der Theologe Helmut Thielicke hat mal ein unterhaltsames Buch über den Humor geschrieben und in das Buch auch viel Humor reingepackt. Er erzählt eine Geschichte von Tünnes, die ich hier wiedergeben möchte. Thielicke versucht, im kölschen Dialekt zu erzählen, was ihm aber wohl nicht so ganz gelingt. Ich gebe es hier trotzdem so wieder, auch wenn sich allen Kölsche die Haare sträuben mögen. Die Geschichte spielt übrigens vor der Einführung des Euro.
Tünnes begegnet Gott und sinnt auf eine Möglichkeit, diese Audienz für sich auszunutzen. Er will es aber nicht durch eine plump vorgebrachte Bitte tun, sondern schlau und diskret, möglichst sogar so, dass Gott gar nicht anders kann, als seinen Wunsch zu erfüllen. So beginnt er mit einer theologischen Frage, die als captatio benevolentiae [Haschen nach Wohlwollen] dienen soll: "Lieber Jott", beginnt er, "stimmt es denn wirklich, dat tausend Jahre bei dir wie ein Tag sind?" Als Gott nickt, fährt er fort: "Wenn et dir so wenig auf Zeit ankömmt, kannst de sicher auch sagen, dat tausend Jahre bei dir nicht mehr sind als en Minütschen, ja?" Als Gott auch damit einverstanden ist, treibt Tünnes diese Relativierung der zeitlichen Dinge durch die Ewigkeit noch weiter und nähert sich vorsichtig seinen eigentlichen Absichten: "Wenn es so ist, lieber Jott, dann kann man gewiss auch sagen, dat tausend Mark für dich nur ein Jroschen sind!" Auch da stimmt ihm Gott zu. Jetzt aber scheint er den Allmächtigen im Netz seiner Dialektik [seiner Argumentation] gefangen zu haben und rückt nun mit seinem Wunsch heraus: "Lieber Jott, dann gib mir ens [mal] en Jroschen!" Der aber antwortet: "Wart e Minütschen!"
Da hat der Tünnes sicher große Augen gemacht. Er hat ja ziemlich fromm begonnen, indem er so tat, als ob ihm das wirklich wichtig wäre mit den tausend Jahren, die bei Gott wie ein Tag sind. Eigentlich ging es ihm aber um etwas ganz anderes.
Das passiert sogar den frömmsten Leuten. Ja, ich glaube, dass es täglich passiert. Wir halten uns für reichlich gut und fromm – aber in Wirklichkeit geht es uns oft gar nicht so sehr um Jesus und Gott, sondern um uns selbst. Da sind wir dem Tünnes ganz ähnlich.
Nun, ich denke, Gott weiß das und wird es uns in seiner unermesslichen Barmherzigkeit nicht allzu übel nehmen. Was ihn dann aber doch nerven mag, das ist, wenn wir anfangen, mit ihm zu rechten.
Das geht so: Wir meinen, Gott täte uns Unrecht. Wir hätten so ein schweres Schicksal nicht verdient, weil wir doch eigentlich nichts Böses getan hätten. Und wenn Gott uns wirklich liebe, dann müsse er uns doch auch Gutes tun. Das dürften wir doch von ihm erwarten. Und was macht er? Er lässt es uns schlecht ergehen. Er enthält uns etwas vor. Anderen ergeht es viel besser, obwohl die nicht so fromm sind wie wir. Warum also diese Ungerechtigkeit?
Wir beginnen also zu argumentieren. Und gern ziehen wir auch die Bibel heran, um Recht zu behalten. Da steht doch: "Bittet, so wird euch gegeben!" Ich bitte, aber mir wird nicht gegeben, worum ich gebeten habe. Und schon nistet sich insgeheim der Vorwurf in unser großes Hirn ein: Lieber Gott, du hältst dich nicht an deine eigenen Worte!
Tünnes musste die Erfahrung machen, dass man mit Argumentieren bei Gott nicht weiterkommt. Warum nicht? Weil Gott nicht vor allem aus Hirn besteht, sondern aus Herz. Damit will ich nichts gegen Gottes Hirn sagen, wenn ich mal voraussetzen darf, dass er ein Hirn oder so etwas Ähnliches hat. Aber sein Hirn ist eben sozusagen ein Teil seines Herzens. Und sein Herz ist voller Liebe. Und Liebe kann man nicht herbeiargumentieren, sondern man kann sich ihr nur anvertrauen.
Das scheint mir übrigens bei uns anders zu sein als bei Gott. Bei uns ist das Herz eher Teil des Hirns. Und damit fangen die Probleme an. Denn das Hirn sucht zuerst nach Argumenten, wie es dem Menschen möglichst gut gehen kann. Und dagegen kommt das Herz dann oft nicht mehr an.
Es geht also nicht darum, für das eigene Wohlergehen Argumente zu finden, sondern Gott seine Liebe zu glauben. Und zwar nicht nur dann, wenn es uns gut geht, sondern auch dann, wenn das ganze Leben mal so richtig besch... ist. Denn dann geben wir Gott die Ehre, das heißt, wir danken ihm, erkennen ihn als unseren lieben Vater an, und zwar auch dann, wenn er uns etwas Schweres auferlegt. Wir bleiben auch dann dabei: Er hat uns lieb. Über alles. Ohne Ausnahme. Bedingungslos.
Wenn wir das tun, suchen wir nicht die eigene Ehre und den eigenen Vorteil, sondern Gottes Ehre. Und das Tolle ist: Indem wir Gottes Ehre suchen, finden wir auch die eigene. Denn Gott ehrt uns dadurch, dass er uns über alles liebt, ernst nimmt, mit uns zusammen sein will, uns versorgt, nur das Beste für uns will und uns zu seinen Partnern forever machen will. Eine größere Ehre gibt es gar nicht.
Also hören wir mal mit allen Hintergedanken auf, die der Tünnes hatte, als er mit Gott zu argumentieren anfing. Auch mit dem Hintergedanken, Gottes Wohlwollen ergattern zu wollen, indem wir ganz fromm sind und immer brav in den Gottesdienst gehen oder andere fromme Sachen tun. Nichts gegen den Gottesdienst und fromme Sachen, das alles ist wunderbar – aber nur ohne den Hintergedanken, dass ich mir dadurch Gottes Wohlwollen verdienen kann.
Übrigens geht es uns selbst viel besser, wenn wir ohne Hintergedanken fromm sind und nicht anfangen, mit Gott über unser Leid zu rechten. Denn wenn wir mit ihm rechten, hat sich schon die Unzufriedenheit in uns breit gemacht. Wenn wir das aber nicht tun, dann sind wir zufriedener und freier, weil wir uns nichts verdienen müssen und weil wir uns auch im Leid von Gott geliebt wissen. Und das ist das Wichtigste, was es gibt.
Da haben es die Tiere vielleicht sogar besser als wir, weil sie nicht mit Gott argumentieren, sondern ihr Leben so nehmen, wie es eben von ihm gegeben wird.
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Foto: Bild von Susanne Jutzeler, Schweiz Thanks for Likes auf Pixabay.
Quelle: Helmut Thielicke: Das Lachen der Heiligen und Narren. Nachdenkliches über Witz und Humor. Quell Verlag, Stuttgart 1988. S. 134.
Siehe auch den Artikel Die Gefahr der Frömmigkeit: Stolz.
ich finde die von Thielicke erzählte Begegnung zwischen Tünnes und Gott wunderbar und auch in gewissen Sinne befreiend: Wann können wir schon mal über unsere menschliche "Klugheit" lachen und gleichzeitig über die menschlich-coole Reaktion Gottes staunen? Der Humor in dem von Thielicke überlieferten Witz entsteht ja aus dem Kontrast zwischen einer Erwartung, die plötzlich enttäuscht wird und einem Erstaunen darüber, wie clever, scheinbar menschlich doch Gott auf einmal daher kommt. Die mögliche, implizite Frage wie menschlich wir uns Menschen Gott eigentlich vorstellen können/wollen erscheint dabei zunächst etwas naiv zu sein. Doch diese Art von "Hintergedanken " empfinde ich als Ausdruck unserer menschlichen Unabhängigkeit und geistigen Freiheit.
Ich lache über mich als (potentiell auch hinterhältigen) Menschen und ich habe Gott auf unerwartet humorvolle Weise plötzlich einmal anders als "nur " göttlich erfahren. Danke für diese Einsicht, die Du mir mit Gottes Humor und Tünnes' Hilfe näher gebracht hast.
Herzliche Grüsse und ein schriftliches smiley...
Michael
das ist eine interessante Frage, wie menschlich wir uns Gott eigentlich vorstellen können/dürfen. Man könnte sie doppelt beantworten: Da wir als Menschen nur über menschliche Vorstellungen verfügen, können wir gar nicht anders, als auch Gott uns menschlich vorzustellen. Dabei wäre nun zu bedenken, dass unsere Vorstellungen von Gott immer hinter ihm selbst zurückbleiben. Andererseits ist uns Gott in Jesus Christus als Mensch begegnet, und das heißt, dass es in Gott nicht nur Göttliches, sondern auch Menschliches gibt. Unsere menschlichen Vorstellungen von Gott werden insofern Gott nicht gänzlich verfehlen, weil es sich in einem Menschen uns offenbart hat. Wenn wir wissen wollen, wie Gott ist, müssen wir auf den Menschen Jesus schauen!
Dein Beitrag regt mich an, mal über das Verhältnis von Gottes Ernst und Gottes Humor nachzudenken. Jedenfalls hat Gott unendlich viel Geduld mit den Menschen, sagt die Bibel, und ich denke, zu dieser Geduld braucht er auch eine gehörige Portion Humor, wenn er sich den Irrsinn des Weltgeschehens ansieht. Ich finde auch, dass es befreiend ist, sich Gott nicht einfach als Big Brother vorzustellen, der jede Sünde sofort bestraft, sondern als einen Gott, der auch barmherzig über uns lächeln kann.
Herzliche Grüße
Klaus
u n d mit anderen zusammen zu lachen? Gilt dies auch für den Gott geworden Mensch? Oder ist dieses vielleicht eine etwas zu respektlose, freche Frage...?
Herzliche Grüsse
Michael
Bei Jesus könnte die Sachlage anders gewesen sein: Die Gefahr, sich zu ernst zu nehmen, bestand bei ihm gar nicht, aber als Mensch war er sicher auch vor menschlichen Missgeschicken nicht gefeiht, konnte also deshalb auch über sich als Mensch lachen - und über alles Menschliche. Es ist schade, dass er in der bildenden Kunst, soweit ich weiß, nie lachend begegnet, wo er doch auf Festen und im Zusammensein mit seinen Jüngerinnen und Jüngern sicher auch herzhaft gelacht hat.
Viele Grüße
Klaus
vor Gott recht haben zu wollen, ist Privatsache, sowieso zum Scheitern verurteilt und manchmal komisch. Die Episode mit Tünnes kannte ich noch nicht.
Heikler finde ich es, wenn Leute Gott für sich in Anspruch nehmen wollen, um bei anderen Menschen recht zu haben und womöglich sogar Macht über andere auszuüben. Das muss nicht scheitern und ist auch oft nicht lustig.
Viele Grüße
Thomas
"du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen" - das ist dagegen gerichtet, dass Gott für menschliche Interessen oder Ideologien instrumentalisiert wird. Und das ist natürlich eine unmenschliche und gefährliche Sache, die auch nicht lustig ist, wie du schreibst. Leider ist die Kirche dieser Versuchung oft erlegen, und Kyrill II. erliegt ihr wohl gerade auch, wenn er Russlands Angriff auf die Ukraine religiös rechtfertigen will. Im Prinzip muss sich jeder Christenmensch immer wieder selbst fragen, ob er dieser Versuchung erliegt oder nicht. Eine Hilfe bei dieser Selbstkritik kann die Hinwendung zur Bibel sein, obwohl, wie wir wissen, auch diese missbräuchlich ausgelegt werden kann.
Viele Grüße
Klaus