Falsches Vertrauen
Klaus Straßburg | 03/01/2021
Nach einem Bericht des WDR und anderer Medien wurde gestern Abend in Herford ein freikirchlicher Gottesdienst mit über 100 Teilnehmenden von der Polizei aufgelöst. Die Gottesdienstbesucher*innen haben offenbar keine Mund-Nasen-Bedeckung getragen, und es hat kein Hygienekonzept gegeben. Andere Medien berichten, im Gottesdienst sei gesungen und das Abstandsgebot nicht eingehalten worden.
Kurz vor Weihnachten hatte die Polizei in Essen ebenfalls einen freikirchlichen Gottesdienst mit über 80 Gemeindegliedern aufgelöst. Auch dort sollen keine Masken getragen, die Abstände nicht eingehalten und das Gesangsverbot missachtet worden sein.
Ich kenne diese Gemeinden nicht, habe nur einige Informationen aus den Medien. Ich weiß nicht, von welcher Frömmigkeit die Gemeinden geprägt sind und was sie zu diesem Handeln bewogen hat. Ich kenne aber die Argumentationsstrukturen der Frömmigkeit, die in solchen Gemeinden nicht selten ist. Die Argumentation verläuft ungefähr so:
Das Schönste und Wichtigste im Gemeindeleben ist der Gottesdienst. Im Gottesdienst treten wir gemeinsam vor Gott, hören sein Wort, beten ihn an und loben ihn mit unseren Liedern. In der Predigt spricht Gott zu uns. Er will, dass wir den Gottesdienst feiern, in der Erkenntnis wachsen und uns von ihm im Glauben stärken lassen. Darum lassen wir uns von der Welt das Feiern des Gottesdienstes nicht verbieten. Wir vertrauen darauf, dass Gott uns vor dem Virus bewahrt, denn alles liegt in seiner Hand. Er will ja, dass wir den Gottesdienst feiern, und darum wird weder für uns noch für andere eine Gefahr davon ausgehen.
Allerdings hat sich in der Vergangenheit schon mehrfach gezeigt, dass von solchen Gottesdiensten starke Infektionsgeschehen ausgegangen sind. Wenn dies entgegen der Erwartung der Gemeinde geschieht, könnte das in solchen Gemeinden so interpretiert werden: Das ist eine Prüfung Gottes, die wir zu bestehen haben. Gott will unseren Glauben testen. Er will prüfen, ob wir in dieser Situation weiterhin auf ihn vertrauen oder nicht. Wir müssen nur an unserem Vertrauen zu Gott festhalten und uns von der Welt, die uns jetzt anklagt, nicht verunsichern lassen. Im Vertrauen auf Gott werden wir alles gut überstehen.
Das klingt sehr fromm und gottergeben. Und in der Tat ist das Vertrauen auf Gott der Kern des christlichen Glaubens. Was aber ist dann falsch an dieser Einstellung?
Mir scheint das, was hier Gottvertrauen genannt wird, gar kein Vertrauen zu sein. Eigentlich wird hier die eigene Unverletzlichkeit gefeiert: Uns kann nichts passieren. Gott wird uns nichts zustoßen lassen. Aber kann man sich dessen gewiss sein? Hier wird doch Gott für die Illusion der eigenen Größe missbraucht. Denn auch einem Christenmenschen und einer Gemeinde kann eine ganze Menge zustoßen. Nichts, aber auch gar nichts muss ihnen erspart bleiben. Wer meint, sicher sein zu können, dass ihm nichts passiert, beraubt Gott seiner Handlungsfreiheit und setzt sich letztlich selbst an Gottes Stelle.
Wenn man sich außerdem über staatliche Vorgaben hinwegsetzt, ist auch das die Betonung der eigenen Größe. Zur Unverletzlichkeit kommt die Unfehlbarkeit: Wir wissen es besser als der Staat. Vielleicht hat Paulus deshalb zum Gehorsam gegenüber der Obrigkeit aufgerufen (Röm 13,1). Allerdings kann das nicht für jede Obrigkeit gelten, denn auch die Obrigkeit ist fehlbar und kann ungerechtfertigte Forderungen stellen. Insofern gibt es ein Widerstandsrecht gegen den Staat, wenn dieser selbst zum Hort des Unrechts wird. Das scheint Paulus, der als Jude die Unterdrückung durch den römischen Staat kannte und erlebte, nicht im Blick gehabt zu haben. Stattdessen behauptet er, dass jede Obrigkeit, also auch die des römischen Unrechtsstaates, von Gott eingesetzt worden sei.
Jede Institution, die sich selbst für unfehlbar hält, entwickelt totalitäre Strukturen. Das gilt nicht nur von Staaten, sondern auch von christlichen Gemeinden und sogar Kirchen und Religionen. Solche Gemeinden grenzen sich strikt von der „Welt" und andersgläubigen Gemeinden ab. Denn die Welt ist in ihren Augen durchweg schlecht, und Andersgläubige sind dem Irrtum verfallen. Nur die eigene Gemeinde hat die wahre Lehre (ist also unfehlbar). Wobei es meist einige wenige sind, die bestimmen, was die wahre Lehre ist. Die Mehrheit muss glauben, was einige wenige vorgeben. Das Gespräch, ja schon die Wahrnehmung anderer Standpunkte wird unterdrückt und mit Ächtung belegt. Wer dauerhaft einen anderen Standpunkt einnimmt, wird ausgeschlossen. Die Gemeindeglieder bleiben unter sich, heiraten auch nur untereinander. So bleibt die Gemeinde über Jahrzehnte ein geschlossener Raum, in den kein anderes Gedankengut eindringt.
Christlicher Glaube aber wächst und gedeiht im Austausch mit anderen. Er lässt sich belehren und lernt von anderen Christ*innen. Weit entfernt davon, sich selbst für unfehlbar zu halten, braucht ein Christenmensch das Miteinander mit seinen Schwestern und Brüdern. Er weiß auch um sein Verletzlichkeit und wird deshalb Gott darum bitten, ihn vor Unheil zu bewahren; er kann sich aber des Handelns Gottes nicht sicher sein. Wäre er sich dessen sicher, so würde er in seinem Glauben Gottes Freiheit einschränken. Er würde im Grunde sich selbst vertrauen – seinem starken Glauben, seiner moralischen Integrität – und nicht Gott.
Es handelt sich also um ein falsches Vertrauen, das von einer solchen Frömmigkeit gepflegt wird. Man sieht daran, wie dicht echtes Vertrauen zu Gott und unechtes, falsches Vertrauen zu Gott, das eigentlich nur Vertrauen zu mir selbst ist, beieinander liegen – manchmal sogar unentwirrbar miteinander verquickt.
Kein Christ, keine Christin ist dagegen gefeit. Die Gefahr ist immer da, sich im Besitz der Wahrheit zu wähnen – also unfehlbar zu sein. Ebenso die Gefahr, sich einzubilden, genau über Gottes Handeln Bescheid zu wissen – so genau, dass man dadurch Gott in seiner Freiheit beschränkt. In beidem versucht man, selber Gott zu sein (1Mo/Gen 3,5).
Ich weiß nicht, wie die betroffenen Gemeinden in Herford und Essen darüber denken und welche Lehre sie vertreten. Sie sollten auch nur Anlass zu diesen Überlegungen sein. Und Mahnung an uns, uns unserer Verletzlichkeit und Fehlbarkeit immer bewusst zu sein.
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Auch dabei möchte ich an Jesu Worte erinnern (Joh 19:10-11).
Bezüglich des Jesuswortes an Pilatus, dass ihm seine Macht über Jesus von Gott gegeben worden sei, wäre meine Frage: Gilt das für jede weltliche Macht oder nur für die Macht des Pilatus über Jesus? Hat Gott allen Diktatoren dieser Welt ihre Macht gegeben? Wollte Gott also, dass sie ihre Macht in grausamer Weise ausüben? Und wenn das so wäre, wie würdest du das mit dem Jesuswort "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist" (z.B. Lk 20,25) verbinden? Dabei geht es ja nicht nur um Steuern, sondern um die Unterstützung des Kaisers, also des Staates. Was aber, wenn der Staat entgegen dem Willen Gottes handelt? Muss man dann dem Staat folgen, auch wenn es sich um einen Unrechtsstaat handelt? Oder anders gefragt: Hätten alle Christen fraglos den Führereid auf Adolf Hitler leisten müssen, nur weil er nun mal die Macht erlangt hatte? Gilt dann nicht "Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen" (Apg 5,29)?
Ich könnte mir vorstellen, dass Paulus in Röm 13,1-7 an einen Staat dachte, der in Liebe mit seinen Bürgern umging (so der Kontext Röm 12,9-21 und 13,8-10). Dieser Obrigkeit soll man untertan sein. Wenn es sich aber um einen Terrorstaat handelt, muss man m.E. Gott mehr gehorchen als dem Staat. Andernfalls wird man ja zum Erfüllungsgehilfen dieses Terrorstaates.
Wenn du irgendwie gehindert wirst den Willen Gottes zu tun oder gezwungen wirst gegen den Willen Gottes etwas zu tun, dann kommst du in eine Entscheidungssituation. Somit sollte man den Willen (Geist) Gottes gut kennen und darum bitten.
Und wie immer bei Gott:
Wer den Weg bereitwillig und opferbereit geht während er die zahlreichen Früchte von Gottes Geist mehrt, dessen Herz einem Paradies der Herrlichkeiten gleicht, der erkennt auf dem Weg selbst die richtigen Abzweigungen. Jemand der ihn nicht wirklich geht - sieht nur alle Abzweigungen und verliert sich in den Möglichkeiten.
"Lauter guedi Laiit" - so heißt ein Buch des Mundartdichters Gottlob Haag, also "Alles gute Leute". Du kennst zwar die Gemeinden nicht, aber irgendwie kennst Du sie doch?
Ich habe auch keinen Einblick in diese Gemeinde, jedoch kann ich sagen, dass auch bei uns das mit dem Abstandhalten nicht immer zentimetergenau eingehalten wurde. Und einer unserer Pfarrer hat im Frühjahr, als andere noch schwiegen, unter voller Orgelbegleitung bei offenen Kirchentüren "Geh aus mein Herz und singe Freud" mit uns gesungen - nicht wegen der besseren Durchlüftung, sondern damit das Herz auch raus kann in den Frühling. Und ich bin mir sicher, dass "inoffiziell" in sehr vielen Gemeinden Weihnachtslieder gesungen wurden (!), und das mit dem Maske-Tragen klappt auch nicht immer bei allen, wahrscheinlich selbst beim Bischof nicht. Keiner bei uns sieht so aus wie der Mann auf dem Titelbild Deines m. E. diesmal sehr mäßigen Beitrags, obwohl einer unserer Pfarrer eine Statur und Aussehen hat wie man sich den Hl. Christophorus vorstellt.
Ja, wir sollen und können nur darum beten, dass wir in der Entscheidungssituation auf dem richtigen Weg geleitet werden. Dazu kann es hilfreich sein, sich schon zuvor Gedanken darüber zu machen. Ich hoffe aber, dass wir nie in eine solche Entscheidungssituation kommen.
Hallo Thaddäus,
nein, ich kenne die Gemeinden und ihre Frömmigkeit nicht, wie ich ja am Anfang und Ende des Artikels auch geschrieben habe. Sie waren mir nur Anlass für meine Überlegungen zu einer bestimmten Frömmigkeitsform, die allerdings in manchen freikirchlichen Gemeinden vorkommt. Ob diese in den betroffenen Gemeinden praktiziert wird, weiß ich nicht. Ich weiß aber, dass diese Frömmigkeitsform längst nicht in allen freikirchlichen Gemeinden vorkommt und fühle mich seit einigen Jahren selbst ausgesprochen wohl in einer freikirchlichen Gemeinde an meinem Wohnort, die eine ganz andere Frömmigkeit praktiziert. Dort singt zwar nicht der Pfarrer, aber eine Sängerin mit Band, und das ist auch mit dem Gesundheitsamt abgeklärt und für mich kein Problem.
Wie du in meinem Beitrag lesen kannst, ging es mir nicht um die zentimetergenaue Einhaltung von Abstandsregeln, sondern um bestimmte Argumentationsstrukturen, die ich biblisch und theologisch für nicht akzeptabel halte. Das massive Überschreiten der grundlegenden Hygieneregeln und Landesverordnungen KANN durch eine solche Argumentationsstruktur unterstützt werden. Ich wollte damit aber keine konkrete Gemeinde angreifen, sondern darauf hinweisen, dass das, was auf den ersten Blick nach starkem Gottvertrauen aussieht, nicht unbedingt ein solches sein muss.
Wie eine Gemeinde mit den Corona-Regeln umgeht, muss sie selbst und muss jede/r einzelne entscheiden. Es sollte aber eine Entscheidung in christlicher Verantwortung für das Wohl des Nächsten und der ganzen Gesellschaft sein; vielleicht sind wir ja darin einig.
Auch das Bild sollte natürlich nicht den Körper eines Gemeindeglieds wiedergeben, sondern ein Symbol für den Glauben an die eigene Unverletzlichkeit und Unfehlbarkeit sein, den es leider auch unter Christ*innen gibt. Wenn einer eurer Pfarrer eine imponierende körperliche Kraft ausstrahlt, kann ich ihn dazu nur beglückwünschen.
Bitte lies den Artikel also nicht als Kritik an minimalen Regelüberschreitungen, sondern als Kritik an einer Art von Frömmigkeit, die das eigene Ich und nicht Gott und Jesus Christus ins Zentrum des Glaubens stellt (was wir im übrigen alle immer wieder tun, wie der letzte Satz meines Artikels andeutet).