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Eine betörende Vielstimmigkeit

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Eine betörende Vielstimmigkeit
Klaus Straßburg | 28/04/2021

Die Inhalte des Glaubens waren schon im Alten Testament keine ein für allemal festgelegte systematische Lehre. Das gilt besonders seit der Zeit, in der der einzelne Glaubende gegenüber dem Volk Israel eine größere Rolle zu spielen begann. Als der einzelne Mensch stärker hervortrat und sich seine eigene Meinung bildete, vollzog sich auch eine persönlichere Gestaltung des Glaubens.

Diese Betonung des Individuums begann mit den Propheten, die als einzelne gegen den herrschenden König und die herrschende Meinung auftraten. In den Psalmen loben und klagen jeweils einzelne Glaubende aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungen. Und in der sogenannten „Weisheitsliteratur" (zum Beispiel in den Büchern Hiob und Prediger) stellen einzelne „Weise" weitreichende Überlegungen über die Situation des Menschen in der Welt an und hinterfragen mitunter auch althergebrachte Vorstellungen über Gott.

Das individuelle Geschick eines Menschen und die Undurchsichtigkeit dieses Geschicks gaben offenbar dem Glauben immer größere Rätsel auf. „Warum geht es den Gottlosen so gut und leben so sicher alle, die treulos handeln?" (Jer 12,1b), das war die entscheidende Frage. Der Prophet Ezechiel betont einfach das Gegenteil: Die Guten werden leben, die Bösen sterben (Hes/Ez 18). Der Prophet Maleachi wiederum muss sich mit Aussagen wie diesen herumschlagen: „Wir preisen die Übermütigen glücklich: Die gottlos Handelnden gedeihen nicht nur, sie versuchten sogar Gott und kamen davon" (Mal 3,15).

Kurz gesagt: Man kann das Geschick der Glaubenden und der Gottlosen nicht verstehen, und das führt zu Anfechtungen im Glauben.

Es gibt zahlreiche Texte im Alten Testament, in denen ein einzelner Glaubender versucht, diese Anfechtungen im Glauben zu bestehen und Gott seine Fragen und Zweifel entgegenzuschleudern. Hiob ist nur das bekannteste Beispiel dafür. Nicht einfach nur das Geschick des Volkes Israel ist interessant, sondern das Geschick jedes einzelnen.

Mit Blick auf diese individuellen Versuche, Lebenserfahrungen im Glauben zu verarbeiten, schrieb schon vor vielen Jahren einer der bekanntesten deutschen Professoren für Altes Testament, Gerhard von Rad (1901-1971):

In jedem dieser Texte kämpft sich ein einzelner, ohne sich in einer Lehrtradition zu bewegen, sichtlich sehr isoliert zu einer spezifischen Lösung durch, oder er sucht anderen in ihrer Anfechtung zu helfen. Das ist freilich für das Wesen des Jahweglaubens sehr charakteristisch, der sich gerade in der späteren Zeit immer weniger als ein fester Komplex zusammenhängender Vorstellungen darstellte. Jahwes Wille, seine Absichten mit den Menschen waren nicht so zuhanden, dass sich das rechte Verständnis ohne weiteres von einem falschen abhob.
(Gerhard von Rad: Weisheit in Israel. Gütersloher Verlagshaus. Gütersloh 1992. S. 267)

Das bedeutet für uns: Unser Glaube ist keine ein für allemal festgelegte Sammlung zusammenhängender Vorstellungen, kein festgefügtes System. Denn Gottes Wille und seine Absichten sind uns nicht in die Hand gegeben; wir verfügen nicht über sie. Darum ist es mitunter schwierig, das, was Gott will und tut, richtig zu verstehen.

Die Welt ist nicht schwarzweiß. Auch der Glaube nicht. Richtiges mischt sich mit Falschem. Manches wird überbetont, anderes unterbelichtet. Niemand ist vor Irrtum gefeit. Denn niemand hat die Wahrheit allein. Die Wahrheit gibt es nur in der Vielfalt der Stimmen.

Darum ist das Alte Testament kein einmal aus einem Guss heruntergeschriebener Text. Vielmehr haben unzählige Menschen durch viele Jahrhunderte hindurch an diesem Text gearbeitet, ihn ergänzt, erweitert, angepasst, gestrichen und ersetzt. In jeder Zeit gab es Neues zu sagen, jeder Schreibende bezeugte eine andere Seite des unsichtbaren Gottes. Damit sich niemand ein festes Bild von Gott mache (2Mo/Ex 20,4), ist Gott in immer neuer Weise beschrieben worden.

Im Neuen Testament ist es nicht anders. Zuerst gab es die Paulusbriefe. Aber sie reichten nicht aus. Ein Evangelium wurde geschrieben, das Markusevangelium. Aber auch das reichte nicht: Drei weitere Evangelien kamen hinzu, mit Änderungen, neuen Geschichten, Umstellungen und Ergänzungen. Jeder Evangelist hatte seine persönliche Sicht auf den großen Gott und seinen Sohn Jesus Christus. Weitere Schriften kamen hinzu. Dabei gab es keine Kritik der neuen an den älteren Schriften. Die neuen Schriften wurden einfach den älteren hinzugefügt: Die alten galten, und die neuen auch. So musste es sein, um den unbeschreiblichen Gott zu bezeugen.

Irgendwann war alles gesagt, was gesagt werden musste. Altes und Neues Testament konnten abgeschlossen werden. Das war nötig, weil es immer neue Evangelien und andere Schriften gab, die das, was in den jungen christlichen Gemeinden galt, verfälschten. Außerdem gab es Leute, die ganze Schriften, die sich in den Gemeinden bewährt hatten, streichen wollten. Dem musste Einhalt geboten werden. Denn Vielfalt ist gut, darf aber nicht endlos sein. Viel ist zu sagen über Gott, aber nicht Grenzenloses. Es gibt auch falsches Reden über Gott. Darum muss irgendwo die Grenze gezogen werden.

Die junge Christenheit zog in einem langen Prozess des Nachdenkens und Diskutierens diese Grenze. Sie hatte Argumente für ihre Entscheidung. Dennoch muss ihre Entscheidung jedem willkürlich erscheinen, der nicht darauf vertraut, dass sie dabei von Gottes Geist geleitet wurde.

Herausgekommen ist eine betörende Vielstimmigkeit, eine Polyphonie, die einer Symphonie oder einem vielstimmigen Chorgesang vergleichbar ist. Bei einem Musikstück wird jeder Dirigent, jede Chorleiterin die falschen Töne ausmerzen, damit ein vielstimmiger, aber dennoch harmonischer Klang entsteht. So ist es auch mit der Bibel: Sie spricht in einer Vielstimmigkeit zu uns, die uns die wunderbare Vielfalt, die Größe und Weite Gottes spiegelt. Es ist eine harmonische Vielfalt.

Wobei zu beachten ist, dass in der Symphonie wie im Chorgesang durchaus Dissonanzen ihren Platz haben. Dissonanzen sind keine Disharmonien. Sie fügen sich ein in das Ganze der Komposition und tragen zum vielschichtigen Klang bei. Die Musik klingt nicht etwa unharmonisch, sondern spannungsgeladen.

Wenn ich die biblischen Aussagen über Gott damit vergleiche, dann will ich damit sagen: Gott geht nicht auf in dem, was wir für harmonisch halten, was sich harmonisch in unser Weltbild einfügt. Der lebendige Gott ist kein System von Gedanken. Gott ist größer als unser Verstehen (Phil 4,7), größer auch als unser Reden von ihm. Darum bedarf es der Vielstimmigkeit mit Dissonanzen, aber ohne falsche Töne. Spannungsfreies, immer schon feststehendes und in ein System gepresstes Reden von Gott wiederholt sich nur selbst und ist deshalb schrecklich langweilig. Vor allem wird es der Lebendigkeit und Größe Gottes nicht gerecht.

Einstimmigkeit ist immer einfacher als Vielstimmigkeit. Vielstimmigkeit muss gelernt werden, macht Arbeit. Wenn vielstimmig über Gott geredet wird, ist es schwer, Wahrheit und Unwahrheit zu unterscheiden. Man kann sich nicht einfach jemandem anschließen, sondern muss sich als Einzelner zu Antworten durchringen. Das macht den Glauben nicht leichter.

Wem das Schwierigkeiten bereitet, der mag sich an die biblischen Texte halten, die seinem persönlichen Glauben nahekommen, und sich in Kreisen bewegen, in denen die Meinungsunterschiede überschaubar sind. Irgendwo handeln wir alle nach dieser Devise. Wir suchen die Harmonie und möchten Konflikte vermeiden.

Dennoch sollten wir vor der Vielstimmigkeit nicht erschrecken. Sie hat ihr Recht, denn wir sollen Gott nicht in unsere Vorstellungen von ihm pressen, uns kein festes Bild von ihm machen. Darum kann es gut sein, wenn wir neue Töne wahrnehmen, wenn unser Glaube durch neue Erkenntnisse ins Wanken gerät. Das kann der Kampf sein, in dem man sich von Altem löst und neue Antworten findet.

Die begrenzte Vielstimmigkeit der Bibel ist ein Geschenk. Darum ist es notwendig, vielstimmig von Gott zu reden und dabei falsche Töne zu vermeiden. Nur so kommt Gottes Geheimnis zur Sprache.


* * * * *



8 Kommentare
2021-04-29 17:28:02
Hallo Klaus,

danke für diese Darstellung zum Verständnis der Bibel als einer Sammlung von Glaubenszeugnissen. Für mich war es vor vielen Jahren ein wirkliches Aha-Erlebnis, solche Informationen über die Entstehungsgeschichte der Bibel und insbesondere des Neuen Testaments zu bekommen. Für mich hätte eine Ergänzung der ungefähren Jahreszahlen der Entstehung der NT-Schriften und ihrer Kanonisierung noch zur Verdeutlichung beigetragen.

Und natürlich stellt sich die Frage, wo verschiedene biblische Autoren unterschiedliche Standpunkte einnehmen: Was ist denn nun richtig?

Viele Grüße

Thomas
theolounge.de
2021-04-29 20:30:33
Welche Sicht die richtige ist?
Wenn zehn Blinde einen Elefanten betasten und ihn dann beschreiben sollen, beschreibt der eine den Rüssel, der andere einen Stoßzahn, der dritte ein dickes Bein, der vierte den Schwanz und so weiter. Jeder hat aus seiner Perspektive recht. Aber erst gemeinsam ergibt sich ein vollständigeres Bild, das aber vermutlich nie komplett vollständig sein kann.

Und die Vielstimmigkeit geht, auch nach Abschluss des biblischen Kanons, noch weiter. In theologischen Entwürfen beispielsweise.
Und in der Rezeption der biblischen Texte, der theologischen Entwürfe, der christlichen Traditionen, und all dem, was Menschen neu dazu denken und erleben.
2021-04-29 21:49:40
Hallo zusammen,

vielen Dank für eure beiden Beiträge. Wann die neutestamentlichen Schriften entstanden sind, lässt sich oft nur ungefähr angeben. Mitunter sind die möglichen Zeiträume auch ziemlich groß. Auch unter den Forschern gibt es verschiedene Vorstellungen. Hier ein paar mögliche Jahreszahlen:

Paulusbriefe: 50-59; erster Brief war der 1Thess (50/51), letzter der Röm (56-59).
Evangelien: 70-100; zuerst Mk (ca. 70), zuletzt Joh (ca. 100).
Hebr: 80-100.
Offenbarung: 92/93.
1Petr: ca. 100.
sog. Pastoralbriefe (1/2Tim, Tit): ca. 130.

Zur Kanonisierung:

Die Produktion christlicher Schriften in den ersten drei Jahrhunderten geht weit über die neutestamentlichen Schriften hinaus. In den frühen Gemeinden bediente man sich verschiedener christlicher Schriften in den Gottesdiensten, nicht nur unserer neutestamentlichen. Weil viele unterschiedliche Schriften in Umlauf waren und immer mehr Theorien darüber auftauchten, welche Geltung beanspruchen könnten und welche nicht, stellte sich nach und nach die Frage, welche Schriften maßgebend sein sollen und welche nicht. Gegen Ende des 2. Jahrhunderts entstand die erste neutestamentliche Schriftensammlung, die als maßgebend anerkannt wurde (der sog. Canon Muratori). Aber erst im Jahr 393 wurde mehr oder weniger festgelegt, was zum Neuen Testament gehören soll und was nicht. Dies geschah auf der Synode von Hippo Regius (im heutigen Algerien an der Ostküste gelegen). Kriterien für die Zugehörigkeit zum Kanon waren
- die damals angenommene Verfasserschaft durch einen Apostel oder Apostelschüler
- das Alter der jeweiligen Schrift (je älter desto gewichtiger)
- die Übereinstimmung des theologischen Gehaltes der Schrift mit dem, was in den Gemeinden geglaubt wurde
- die Verbreitung und Bewährung der Schrift in der Christenheit.

Zur Frage, was denn nun bei unterschiedlichen Standpunkten richtig ist, würde ich theolounge zustimmen. Zudem sind zu berücksichtigen:

- die geschichtliche Situation zur Zeit und am Ort der Abfassung der Schrift (historischer Hintergrund)
- die Prägung des Verfassers der Schrift (judenchristlich, heidenchristlich)
- das Motiv der Abfassung (gegen wen wendet sich der Verfasser, welches Anliegen hat er)
- die Adressaten der jeweiligen Schrift (welche Fragen oder Streitigkeiten gab es unter ihnen).

Das alles prägt Sprache und Denkweise der Schriften. Bei einem seelsorglichen Anliegen muss ich anders reden als bei theologischen Auseinandersetzungen. Das heißt nicht, dass ich jeweils eine andere Theologie vertrete, sondern dass ich andere Schwerpunkte setze und einen anderen Ton anschlage.

Ansonsten: Jeder macht seine eigenen Erfahrungen mit Gott, jedem ist in seinem Glauben etwas Bestimmtes besonders wichtig, jeder erkennt eine andere Seite Gottes - siehe das Beispiel von theolounge. Ich persönlich neige dazu, weniger die Unterschiede zu betonen als die Gemeinsamkeiten herauszustellen. Ich denke, im Wesentlichen sind die Schriften einig. Bei schwierigen Texten gilt Luthers Maßstab: "was Christum treibet", d.h. was Christus verkündigt, mit ihm als der Wahrheit in Person übereinstimmt.

Alle Fragen zur Entstehung der biblischen Schriften werden in der sog. Einleitungswissenschaft verhandelt. Die entsprechenden Bücher heißen dann immer "Einleitung in das AT bzw. NT". Sind vielleicht für Interessierte ganz spannend zu lesen.
2021-04-30 09:18:39
Hallo Klaus,

danke für den Nachtrag der Jahreszahlen, die ich nur noch vage präsent hatte. Was ich mir irgendwann mal gemerkt hatte und was zu diesen Zahlen passt, ist aber die Erkenntnis, dass wohl keiner der biblischen Autoren den historischen Jesus persönlich gekannt hat oder Augenzeuge der Ereignisse war. Bis dahin hatte ich immer andere Vorstellungen, insbesondere die, dass die Evangelisten Matthäus und Johannes mit den gleichnamigen Jüngern Jesu identisch wären.

@theolounge.de

Das Gleichnis mit den Blinden und dem Elefanten habe zuerst gehört im Kontext des Wahrheitsanspruchs verschiedener Weltreligionen. Das zeigt auch gleich die Gefahr bei seiner Verwendung; es wird schwierig, Grenzen zu ziehen und man driftet ab in Richtung Unverbindlichkeit.

Viele Grüße

Thomas
2021-04-30 12:41:47
Hallo Thomas,

die europäische Forschung geht in der Tat davon aus, dass keiner der neutestamentlichen Verfasser Jesus persönlich kannte. Sicher gibt es auch gegenteilige Meinungen, insbesondere bei evangelikal geprägten Theologinnen und Theologen, aber auch in der amerikanischen Forschung. Man wird die Frage nie abschließend beantworten können, weil historischen Antworten nur Wahrscheinlichkeitscharakter haben können. Für mich spielt es aber keine Rolle, ob Matthäus der Jünger Jesu war oder ein anderer Mensch: Er war für mich ein erwählter und geistbegabter Zeuge Jesu Christi. Aber das ist eine Glaubensaussage, die sich als solche ebenso wenig belegen lässt wie die Aussage, dass Gott existiert.
2021-04-30 14:12:05
Isaac Newton war in seinen theologischen Schriften Antitrinitarier. Wie bringt man so etwas in der Vielstimmigkeit unter. Ist das Dissonanz oder bereits Disharmonie?
2021-04-30 18:59:58
Meiner Meinung nach stellt das Neue Testament Vater, Sohn und Heiligen Geist auf eine Stufe nebeneinander. Das bedeutet, dass man um einen trinitarischen Gottesbegriff nicht herumkommt. Die Antitrinitarier haben in der Kirchengeschichte folgerichtig die Gottheit Christi bezweifelt. Das ist für mich keine Dissonanz, sondern ein falscher Gesang im vielstimmigen Chor. Damit soll kein Urteil über Gottvertrauen oder Lebenswandel der Antitrinitarier verbunden sein.
theolounge.de/god.fish
2021-05-01 11:56:19
@Thomas
Das Gleichnis mit den Blinden zeigt aber auch, dass es verschiedene Zugänge zu Gott aus verschiedenen Perspektiven gibt und wohl keiner Gott je ganz verstehen kann.
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