Die Kunst der Gnade - Die Gnade der Kunst
Zu den großen, ja geradezu übermächtigen Begriffen des christlichen (und insbesondere evangelischen) Glaubens gehört ganz sicher der sehr alte Begriff der Gnade. Dadurch, dass wir Menschen Gnade, etwa die Gnade Gottes empfangen haben, eröffnet sich uns ein Verständnis dafür, was möglich ist in dieser meiner Welt. Wir können den wahrlich übermächtigen Anspruch, der sich im Begriff Gnade für uns Menschen verbirgt, etwas leichter erklären, indem wir es uns in Gedanken etwas einfacher machen und versuchen an Stelle der Gnade Gottes die Gnade eines anderen Mediums von Erkenntnis zu setzen: die Gnade der Kunst – oder umgekehrt: die Kunst der Gnade.
Vielleicht könnte man zunächst sehr einfach sagen: Gnade, die Gnade Gottes ist, modern gesprochen, so etwas wie ein Medium, das vergleichbar mit dem Sauerstoff zwischen einer menschlichen und einer übermenschlichen Sphäre vermittelt. Der Begriff des Mediums ist ähnlich wie der Begriff der Gnade ein Möglichkeitsbegriff: alles wirklich alles kann ich als Medium erfahren: das Auto, die Rose, ein Gedicht: Alles kann für etwas Anderes, Neues, Menschliches stehen. Wir als Menschen sind es, die unsere eigenen Vorstellungen von neuer Welt erweitern können.
In einem zweiten Anlauf kann ich aber auch versuchen unser christlich geprägtes Verständnis von Gnade in einem neuen, überraschend anderen Kontext zu vergleichen. Ich wage jetzt also die These und behaupte: An die Stelle der Gnade Gottes, die uns Gläubigen geschenkt wurde, ist in der Moderne die Gnade des Publikums getreten, unsere Fähigkeit, etwas für uns Unbegreifliches wie ein Kunstwerk in einer neuen, überraschenden anderen Weise zu denken. Aus der Verehrung Gottes, die wir im Ritual des Gottesdienstes feiern, ist in der Moderne der Gang ins Museum geworden: viele Ausstellungsbesucher berichten immer wieder von einem Erweckungserlebnis, das sie vor einem einzelnen Werk oder im Angesicht eines künstlerischen Ereignisses erfahren: als beispielsweise vor Jahren die Künstlerin Marina Abramovic in einer Performance ("The Artist Is Present"- MoMa New York) Menschen einlud, ihr eine begrenzte Zeit von Angesicht zu Angesicht in die Augen zu schauen, brachen einzelne Besucher in Tränen aus, so ergriffen waren sie, sich selbst in einem zeitlosen Moment der Kunst – und der Gnade einer Begegnung mit einem anderen Menschen zu spüren. Anstelle der Gnade einer Gotteserfahrung war in diesem Moment – zumindest in der begrenzten Welt der Kunst – die Gnade einer einzigartigen Kunsterfahrung getreten. Können, ja müssen wir nicht sogar als heutige, "aufgeklärte" Kunstfans den alten, traditionsbeladenen Begriff der Gnade vielmehr auch als einen Ort unserer gegenwärtigen Freiheit bestimmen?
Ist die Gnade der Selbst- und besonders Kunsterkenntnis nicht auch ein zeitgemässer Ausdruck der Freiheit der Kunst? Oder noch einmal etwas provokanter gefragt: Schließt die über alle Vernunft zielende Gnade Gottes nicht auch die Gnade einer grenzenlosen Kunsterfahrung ein?
Hierzu gibt es bereits eine kunsthistorische Position – auch wenn, wie im Folgenden bei Wolfgang Ullrich zitiert, der Begriff der Gnade nicht explizit hergestellt wird: "Wer den Freiraum nützt, den eine unabhängige Kunst bietet und darin ausführt, womit er am meisten Vergnügen hat, muss damit rechnen, dass auch andere Gefallen daran finden - bis Kunst doch wieder Teil des Lebens, seiner Konventionen und Ziele geworden ist." (Wolfgang Ullrich, Was war Kunst? 2005) Waren unter diesen Umständen die vielen Auslegungsformen der Gnade Gottes nicht ein früher Versuch gewesen, einen Begriff für eine emphatisch gesteigerte Idee von Kunst zu finden, die später als Inspiration und als Trigger für unsere Begegnung mit Kunst nutzbar gemacht werden konnte? Ebenso wie die Gnade Gottes auch die Gnade der Selbsterkenntnis nicht ausschließt, schließt die Gnade der Kunst auch meine Freiheit ein: mein Leben, meinen Glauben und mein Bild von Kunst in einem ästhetisch erweiterten Zusammenhang zu erfahren. Nach der Offenbarung eines Moments von Gnade war und ist nichts mehr so geblieben wie vorher ...
Von Michael Kröger (Kunsthistoriker und freier Autor)
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Künstler können offenbar gedankliche Querverbindungen herstellen und Aktivitäten entwickeln, die anderen Menschen verschlossen sind.
Einen schönen Sonntag wünsche ich Dir.
Hans-Jürgen
Die in meinem obigen Beitrag anklickbare Seite wird nicht angezeigt, obwohl sie bei mir auf dem Computer richtig zu sehen ist. Den Grund dafür kenne ich nicht. Es tut mir leid.
schade, dass man deine Seite nicht sehen kann. Wenn du magst, kannst du ja die URL einmal als Text einfügen, vielleicht funktioniert es dann.
Einen guten Abend
Klaus
jetzt müsste es gehen.
Gruß
Hans-Jürgen
ja, jetzt geht es. Aber welchen Sinn hat es, staunend vor einer weißen Wand zu stehen? Natürlich fällt auf, dass da etwas fehlt, dass da eine Lücke ist. Und diese Erkenntnis kann manchmal ganz hilfreich sein. Aber muss man dazu ins Museum gehen? Ist das nicht etwas, was jedem Menschen mehr oder weniger klar ist? Oder haben wir uns inzwischen so weit von der Realität entfernt, dass wir um die Lücken unseres Lebens, um das Fehlende gar nicht mehr wissen? Das mag für Manche zutreffen. Aber die werden bestimmt nicht ins Museum gehen und sich weiße Wände ansehen, sondern dafür nur Spott übrig haben. Und ob die anderen davon wirklich profitieren? Ich kann mir das nicht so recht vorstellen.
Viele Grüße
Klaus
Gruß
Hans-Jürgen
die junge Amerikanerin war mit ihrer zweidimensionalen, unsichtbaren "Kunst" nicht weitblickend und dreist genug und wurde von einem Italiener übertrumpft, der ein dreidimensionales "Werk" schuf und es verkaufte (https://monopol-magazin.de/kuenstler-verkauft-unsichtbare-skulptur-fuer-15000-euro).
Selber gehe ich einen Schritt weiter und annonciere hier, hoffentlich mit Deiner nachträglichen Genehmigung, einen eigenen, vom Prinzip her dem menschlichen Auge nicht zugänglichen, vierdimensionalen "Amorphling" unbestimmter Form. Der Ausdruck ist neu und nicht verkäuflich.
Allen Objekten der UA (unvisible art) ist gemeinsam, dass sie von jedermann in beliebigen Mengen produziert werden können und nichts kosten. Sie verbrauchen keine materiellen Ressourcen und sind somit besonders umweltfreundlich.
Bei all' dem Unsinn ist von Gottes Gnade, die den Ausgangspunkt dieses Blogteils bildet, nichts zu spüren. Sie ruhte früher auf einzelnen, herausragenden Künstlern, als die Kunst noch religiös bestimmt war und hauptsächlich zur Verherrlichung Gottes diente.
Viele Grüße
Hans-Jürgen
ich hätte die unsichtbare Skulptur lieber selber erschaffen und mir ins Wohnzimmer gestellt, anstatt 15.000 Euro dafür auszugeben. So hätte ich auch immer stolz auf meine eigene Kreativität hinweisen können 😇.
Was mich aber wirklich interessiert: Du schreibst in deinem Artikel, auf den man gelangt, wenn man deinen Namen anklickt, dass die vierte Dimension für einen Physiker und Mathematiker zum normalen Handwerkszeug gehört. Kannst du das noch näher erläutern oder muss ich mich da bei Physikern und Mathematikern kundig machen?
Viele Grüße
Klaus
vierdimensional denkt und rechnet man in der Relativitätstheorie, indem die drei Raumdimensionen Länge, Breite, Höhe mit der Dimension Zeit als vierter zu einem einheitlichen Begriff, der sogenannten "Raumzeit" zusammengefasst werden. Eine Veranschaulichung dieses Vorgehens in vollem Umfang ist nicht möglich; man betrachtet, wenn bildliche Darstellungen zu Hilfe genommen werden, geeignete Unterräume. Die RT wird Physikern (ich gehöre dazu) während ihres Studiums ausführlich erklärt und anhand zahlreicher Übungsaufgaben vertraut gemacht, so dass sie danach bei Bedarf als Werkzeug zur Verfügung steht.
Viele Grüße
Hans-Jürgen
vielen Dank für die Erläuterung. Jetzt weiß ich, was du mit der vierten Dimension meintest. Zur RT habe ich schon einiges gelesen. Tröstlich, dass eine Veranschaulichung nicht in vollem Umfang möglich ist. Dann kann sie aber nur mathematisch berücksichtigt werden, steht also nur als mathematisches Werkzeug zur Verfügung und ist auch nur für die Astrophysik überhaupt interessant, oder?
Viele Grüße
Klaus
die RT wird hauptsächlich bei der Untersuchung schnell bewegter atomarer Elementarteilchen angewendet, deren Geschwindigkeit in der Nähe der Lichtgeschwindigkeit liegt, aber auch beim Navigationsgerät im Auto mit sehr viel geringerer Geschwindigkeit. In der Astronomie ist es eine bestimmte Eigenschaft des Planeten Merkur, die nur mit Hilfe der RT richtig erfasst wird.
Viele Grüße
Hans-Jürgen
https://www.wissenschaft.de/technik-digitales/ohne-einstein-kein-navi/. Sie beschreibt eindrucksvoll, welcher Aufwand getrieben werden muss, damit die Navis zufriedenstellend funktionieren.
Viele Grüße
Hans-Jürgen
Viele Grüße
Klaus