Die Friedensmacht der Sühne
Klaus Straßburg | 19/01/2023
Es gibt Zeiten, die offenbar zu tiefsinnigem Denken anregen. Die Zeiten nach den beiden Weltkriegen oder nach der Machtergreifung durch die Nazis scheinen solche Zeiten gewesen zu sein. Wenn ich theologische Schriften aus diesen Zeiten lese, erscheinen sie mir oft tiefgründiger als manches, was danach verfasst wurde.
Es lohnt also zurückzuschauen, und zwar aus mehreren Gründen. Zum einen gibt es geistig produktivere Zeiten als die Gegenwart. Zum anderen kann man im Rückblick feststellen, inwieweit sich das Denken und Handeln der Menschen verändert hat oder nicht verändert hat. Und zum dritten kann man aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und muss sie deshalb nicht wiederholen.
Auf einem antiquarischen Wühltisch bekam ich vor einiger Zeit ein paar Hefte mit Aufsätzen Reinhold Schneiders (1903-1958) in die Hand. Reinhold Schneider war ein katholischer Schriftsteller und Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus. Eins dieser Hefte, 1945 herausgegeben, 16 kleine Seiten stark und aus grauem Papier bestehend, trug den Titel "Die Macht der Friedfertigen". Der gesamte Text kann im Internet auch als Lesung angehört werden.
1. Das Schwinden der Kriegserinnerungen
Ich möchte euch an einigen Gedanken dieses Aufsatzes teilhaben lassen*. Der Aufsatz beginnt mit einem Rückblick auf die Zeit nach dem ersten Weltkrieg:
Zu den auffälligsten Erscheinungen der verwirrten, vieldeutigen Zeit, die dem ersten Weltkrieg unmittelbar folgte, gehört das Verschwinden der Erinnerungen an den Krieg. Die an ihm teilgenommen hatten, auf deren Gesichtern noch sein entsetzlicher Ernst zu lesen war, mochten nicht von ihm sprechen, die andern nicht von ihm hören. [...] Der Krieg versank wie ein Wrack mit verdächtiger Schnelle, und eine seltsame, unheimliche Geschäftigkeit, ein Durcheinander gegensätzlicher, meist gut gemeinter Bestrebungen breitete sich aus. [...] Die Wendung zur Kirche, die während des Krieges dem Anscheine nach sich angekündigt hatte, [...] vollzog sich nicht in dem Grade, den man hätte wünschen müssen. Im Gegenteil: Bald zeigte es sich, dass Propheten, Irrlehrer aller Art, Stifter oder Verbreiter absonderlichster Sekten sehr viel mehr Aussicht hatten, die Menschen zu gewinnen. (S. 3)
Offenbar wiederholt sich die Geschichte. Die Erinnerungen an den Krieg, auch an den zweiten Weltkrieg, verblassen mit der Zeit und verschwinden spätestens mit dem Sterben derer, die ihn erlebt haben. Mit dem Thema Krieg beschäftigt man sich ungern. Stattdessen treten andere Themen in den Vordergrund und nehmen die Menschen in Beschlag. Der Krieg ist schnell vergessen, und mit ihm auch eine Wendung hin zur Kirche und zum christlichen Glauben. Andere Lehren breiten sich aus.
Ich selbst kenne den Krieg nur aus Filmen. Es gibt einige sehr gute, meiner Meinung nach die Grausamkeit des Krieges realistisch wiedergebende Filme, vor allem über den Vietnamkrieg, aber auch über die beiden Weltkriege. Durch solche Filme habe ich gelernt, was Krieg bedeutet. Darum war ich nicht überrascht, als von Gräueltaten im Ukraine-Krieg berichtet wurde. So schlimm es ist, das zu sagen – aber sie geschehen in jedem Krieg.
2. Der Verlust des Kriegsschreckens
Reinhold Schneider stellt fest, dass vor dem zweiten Weltkrieg das Denken und Empfinden der Menschen eine Veränderung erfuhr. Es setzte geradezu eine Verherrlichung des Krieges ein, nachdem man den ersten Weltkrieg verdrängt hatte:
Man hatte ihn wie einen untragbaren Todesfall verschwiegen; jetzt war der Tote wieder da. Kriegsbücher schlugen in die Stunde und erreichten einen ungeahnten, fast beispiellosen Erfolg. Wer wirklich mit seinem Volke lebte, in jener Gemeinschaft geistig-geschichtlichen Lebens, [...] konnte diesen Vorgang nicht ohne schwere Ahnungen beobachten. Sind es doch solche Veränderungen der Denk- und Empfindungsweise, die geschichtliche Veränderungen in der Tiefe vorbereiten. [...] Es war ein Vorgang, der sich wohl in der ganzen Welt in geheimnisvoller Gleichzeitigkeit abspielte. (S. 4)
Von einer Verherrlichung des Krieges kann man heute sicher nicht sprechen. Aber er scheint doch für viele seinen Schrecken ein Stück weit verloren zu haben. Zumindest schließt man es nicht aus, dass Deutschland zur Kriegspartei im Ukraine-Krieg wird. Man will es nicht, aber man will es auch nicht um jeden Preis vermeiden. Das scheint mir eine Veränderung der Denk- und Empfindungsweise wiederzuspiegeln die sich schon in den letzten beiden Jahrzehnten vorbereitet hat und sich fundamental unterscheidet vom Denken und Empfinden in den 80er Jahren.
Solche Veränderungen der Denk- und Empfindungsweise bereiten immer auch geschichtliche Veränderungen vor. Die Rufe nach einer weltpolitischen Führungsrolle Deutschlands, nach dem "Übernehmen von Verantwortung" und demzufolge nach militärischem Engagement werden immer lauter.
Diese Veränderung der Denk- und Empfindungsweise zeigt sich auch in der gegenwärtigen Abkehr vieler Christinnen und Christen von dem, was jahrzehntelang als christliche Friedensethik galt. Die evangelische Kirche sucht den Grund dafür, dass ein militärisches Engagement Deutschlands mehr und mehr befürwortet wird, nicht darin, dass der christliche Glaube für viele Menschen seine Bindungskraft verloren hat. Sie droht vielmehr sich diesem Denken und Empfinden anzupassen.
3. Die scheinbare Alternativlosigkeit des Krieges
Reinhold Schneider sucht nach den Gründen dafür, dass sich zu seiner Zeit die Einstellung vieler Menschen zum Krieg veränderte. Ich zitiere einige Sätze dazu:
Die Ursache lag tief: in Wahrheit war der Krieg nicht bewältigt worden. In dem Jahrzehnt nach seinem Ende hätte diese Bewältigung geleistet werden müssen, von innen her, als eine "gänzliche Herzensänderung" [...]; solche Änderungen geschehen nicht auf der Flucht, sondern nur im ehernen Angesichte der Wirklichkeit, und freilich nur dann, wenn diese Wirklichkeit von oben her erleuchtet wird. Die Menschen hatten es in all der Unrast nicht gelernt, Gedanken des Friedens zu denken. [...] Die Menschen waren von Wahn zu Wahn geflüchtet; nun flohen sie in den Krieg. Die Flucht in den Krieg ist ein Faktum des inneren Lebens [...]. Wer die Geschichte der letzten Jahrzehnte verstehen will, muss die Flucht in den Krieg als einen wesentlichen Beitrag aufgewühlter, zerrissener Seelen in Anschlag bringen. [...] Wo aber Gefahr ist, dass den Menschen der Krieg als Lebensform erscheint: dass die Gedanken immer wieder zu ihm zurückfließen wie in einen ziehenden Strudel: da wird die zerstörte Seele unfehlbar zur geschichtlichen Macht. [...] Wir sollten nicht aufhören in dem Bemühen, diese Zeit wirklich aus der Tiefe zu verstehen und uns zu verwahren gegen jede Vorstellung, die den Ursprung unermesslichen Unheils an der Oberfläche sucht, statt unbarmherzig in den Abgrund der Selbsterkenntnis zu dringen. (S. 5-7)
Meine Frage wäre: Kann man Krieg überhaupt "bewältigen"? Bleibt er nicht immer das Unbegreifliche, die Steigerung des Bösen, des menschlichen Zerstörungswahns ins Unermessliche? Ich denke, in der Bundesrepublik Deutschland hat man jedenfalls die Schuld am zweiten Weltkrieg bewusst zu machen und im Bewusstsein zu halten versucht. Eine "Flucht in den Krieg", wie Reinhold Schneider sie für die Zeit vor dem zweiten Weltkrieg beobachtete, gab es und gibt es bei uns wahrscheinlich nicht. Niemand will den Krieg. Dennoch wird er aber von vielen als alternativlos dargestellt. Es scheint keinen anderen Ausweg aus Russlands Angriff auf die Ukraine zu geben als den Krieg zur Verteidigung der Ukraine.
Wenn etwas als alternativlos dargestellt wird, wird es – zwar nicht bewusst, aber insgeheim – zur einzig möglichen Lebensform. Gewalt müsse mit Gewalt beantwortet werden, heißt es dann; einen anderen Weg gäbe es nicht. Da es in der Welt aber immer Gewalt gibt, muss es dann auch immer Gegengewalt geben.
Der Sozialwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma hat die Gewalt als Lebensform bezeichnet** und die Frage, warum es Gewalt gebe, für sinnlos gehalten. Gewalt sei einfach da, sie geschehe immer wieder, auch in Hochkulturen und Zivilisationen wie unserer. Gewalt liege sozusagen in unserer Natur, und diese Einsicht über den Menschen sollten wir nicht verdrängen, sondern ein für allemal akzeptieren.
Die Alternativlosigkeit, mit der der Ukraine-Krieg und die Lieferung von Waffen an die Ukraine von vielen betrieben wird, erscheint mir als ein Irrtum, um nicht mit Reinhold Schneider zu sagen: als ein Wahn. Allerdings kommen mir manche Äußerungen von kompromisslosen Hardlinern schon wahnhaft vor, weil sie massiv nur auf diese eine Möglichkeit setzen, als ob es eine andere gar nicht geben könne. Wer aber jeden anderen Umgang mit der Wirklichkeit ausschließt, wer seinen Blick auf die Wirklichkeit auf einen einzigen Punkt verengt, ist dem Wahn nicht mehr fern.
Die Alternative, die Reinhold Schneider nennt, ist eine "gänzliche Herzensänderung", eine vollständige Umorientierung des Menschen, die dann geschehen kann, wenn die Wirklichkeit dem Menschen "von oben her erleuchtet wird". Was ist damit gemeint?
4. Die christliche Antwort: Sühne statt Vergeltung
Schneider sieht die Antwort auf die Schuld des Krieges nicht in weiterer Schuld, sondern in der Sühne. Er schreibt:
Die Welt kennt auf die Schuld nur die Antwort der Schuld, einen furchtbaren Kreislauf der Sünde. Untat weckt Vergeltung, das nur allzu begreifliche Wort der Welt. Niemand zweifelt daran, dass das Verhängnis durchbrochen werden müsse. Aber wo und von wem? Wir meinen: der Anfang der Überwindung läge dort, wo die Sühne getragen wird. Dieses redliche Tragen der Sühne geschieht ja schon aus der Kraft, die von "oben" ist. Und wenn wir [...] diese ergreifen würden: die Macht des befriedeten, sich ergebenden, zur Sühne bereiten Willens, so würden wir ohne Zweifel stärker sein als im Gebrauch ohnmächtiger Worte, mit der Fragwürdigkeit menschlichen Tuns und Irrens belasteter Argumente. [...] Nicht die Vergeltung, aber die Sühne verwandelt. Und damit fällt vielleicht an diejenigen, die Sühne tragen aus der Kraft des Friedens und um des Friedens willen, die Führung der Geschichte. Es wäre eine Führung von innen und aus der Macht der Bekehrung. Halten wir diese Macht nicht für gering! Sie nimmt der Vergeltung ihr Recht. (S. 13f)
Wer Gewalt mit Gewalt beantwortet, führt in einen "furchtbaren Kreislauf der Sünde", der die Gewalt nur steigert. Dennoch mag es Ausnahmesituationen geben, in denen dieser furchtbare Kreislauf beschritten werden muss. Zuerst jedoch muss mit allen Kräften versucht werden, dieses Verhängnis zu durchbrechen. Reinhold Schneider sieht diese Durchbrechung im Tragen der Sühne.
Ich musste erst mal darüber nachdenken, was er damit eigentlich meint. Wir sprechen von Sühne ja im Zusammenhang mit Christi Sühneleiden am Kreuz. Im Deutschen hängt das Wort "Sühne" zusammen mit dem Wort "Versöhnung". Im christlichen Zusammenhang bedeutet es, dass Christus für seine Verfolger Versöhnung erwirkt hat, indem er sie nicht vernichtet, sondern ihre Sünde ertragen hat. Und bis heute vernichtet Christus die Menschheit nicht, sondern erträgt ihre Sünde. Versöhnung meint also: Christus wendet keine Gewalt gegen die Gewalttäter an, sondern erträgt ihre Gewalt. Er erträgt die Gewalt gegen sich selbst, all den Spott und die Ignoranz der Menschen, und er erträgt die Gewalt, die wir einander antun. Auch damit verletzen wir Gott selbst.
Christinnen und Christen sollen Christus nachfolgen. Sie sollen wie er "Sühne tragen". Dieses Tragen der Sühne geschieht ja schon, sagt Reinhold Schneider – es geschieht "oben", im Himmel. Wir sollen nun selbst zu Sühneträgern werden: sollen Versöhnung wirken, indem wir Gewalt nicht mit Gewalt vergelten, sondern die Gewalt, die uns angetan wird, ertragen und uns in ihr unserem Herrn "ergeben". So wird Versöhnung möglich und das Verhängnis der Vergeltung durchbrochen.
Aus der Macht der Bekehrung, sagt Reinhold Schneider, also aus der Macht der inneren Umkehr, die sofort eine äußere mit sich bringt – aus dieser Macht der Bekehrung kann "die Führung der Geschichte" entstehen. Sie kann denen zufallen, die innerlich befriedet und zur Sühne bereit sind und darum eine alternative Lebensform praktizieren. Deren Macht ist stärker als der "Gebrauch ohnmächtiger Worte" und das Anführen von Argumenten, die "mit der Fragwürdigkeit menschlichen Tuns und Irrens" belastet sind.
5. Herzensbindung statt allein die Vernunft
Aber spielen Argumente denn gar keine Rolle? Hat die Vernunft im christlichen Sühnehandeln keinen Platz? Schneider schreibt:
Es gab Zeiten und Denker, die glaubten, den Frieden gründen zu können auf die Vernunft, auf die Einsicht in seine Notwendigkeit – und sie sind gescheitert. Könnte es doch ein Trachten nach Frieden geben, das wider die Vernunft zu sein scheint und das doch zum Heile ist! [...] Der Mensch bedarf der Herzensbindung an Gott, wenn er unbedingt recht handeln soll. [...] Gründe müssen gehört, Einsichten geachtet werden. Doch ist uns ein "Tun des Friedens" in die Hand gegeben, das sie vielleicht weit überwiegt. [...] Friedfertigkeit ist nicht die Haltung solcher, die auf der Flucht sind vor den Schrecken der Erde. Sie ist vielmehr ein Zeichen großer Stärke, festen Vertrauens, christlicher Zuversicht, die von der ihr gewordenen Verheißung weiß und diese über allen Erdenlohn und jede Drohung setzt. Es ist die Haltung der in Wahrheit Freigewordenen, die in das Morgen gesendet ist. (S. 14f)
"Gründe müssen gehört, Einsichten geachtet werden", Argumente haben also Gewicht – das ist die eine Seite. Die andere Seite ist, dass die Sicherung des Friedens allein durch Erwägungen der Vernunft oft schon gescheitert ist – so Reinhold Schneider.
Die "Einsicht in die Notwendigkeit" des Friedens hat auch die deutsche Politik der letzten Jahrzehnte bestimmt. Man glaubte, der Friede sei zwischen wirtschaftlich eng miteinander verbundenen Staaten eine notwendige Sache und ein Krieg damit ausgeschlossen. "Wandel durch Handel" war das Stichwort, das auch mir einleuchtete. Es hat sich als Trug erwiesen.
Reinhold Schneider zufolge bedarf es der "Herzensbindung an Gott", um Frieden zu stiften. Diese Herzensbindung ist eine christliche Stärke. Sie schafft Zuversicht und setzt die Verheißung "über allen Erdenlohn und jede Drohung". Auch die Drohung, selbst Gewalt erfahren zu müssen, kann diese Herzensbindung nicht zerreißen. Die so an Gott Gebundenen sind die "Freigewordenen", deren Haltung "in das Morgen gesendet ist".
In dieser Formulierung fällt auf, dass die Haltung in das Morgen gesendet sei. Was Gott in die Welt sendet, sei die Haltung derer, die in der Herzensbindung an Gott leben. Ich verstehe das so: Gottes Geist, der in die Welt gesandt ist, vermittelt die Haltung der Herzensbindung an Gott. Die Haltung der Herzensbindung wird also nicht von unserer Seite aus hergestellt, sondern von der Seite Gottes aus, der seinen Geist sendet und durch ihn die Zukunft gestaltet, indem er Menschen eine Herzensbindung an Gott schenkt. Gottes Verheißung des Friedens hängt nach Reinhold Schneider an diesem Geschenk der Herzensbindung.
Aber die Kraft von "oben", das Geschenk der Herzensbindung an Gott, steht uns nicht zur freien Verfügung. Der Glaube ist nicht jedem Menschen gegeben. Wir leben in einer Zeit, in der er in der westlichen Welt sogar rückläufig ist. Gerade deshalb aber ist es wichtig, dass diejenigen, denen der Glaube geschenkt wurde, ihn umso deutlicher durch Wort und Tat bezeugen.
Dieses Zeugnis ist aber nicht einfach identisch mit dem, was von Menschen vertreten und getan wird, die bewusst keine christliche Lebenshaltung praktizieren. Es kann zwar Überschneidungen geben. Aber zumindest die Begründung einer christlich verantworteten Handlungsweise wird sich anders darstellen als die Begründung einer säkular verantworteten Handlungsweise, auch wenn das Ergebnis beider Begründungen identisch sein mag. Von daher sollten Christinnen und Christen sich säkularen Argumentationen nicht bruchlos anschließen. Und auch das konkrete christliche Handeln wird sich mitunter vom säkular begründeten Handeln deutlich unterscheiden – zum Beispiel, indem es sich "über allen Erdenlohn und jede Drohung" hinwegsetzt.
Christinnen und Christen sollten zum Beispiel immer dann, wenn ein politisches Handeln als alternativlos dargestellt wird, hellhörig werden. Denn bei Gott gibt es immer Alternativen. Alle Dinge sind möglich bei Gott (Mk 10,27). Und alle Dinge sind daher auch dem möglich, der glaubt (Mk 9,23).
Ich betone nochmals, dass dennoch Einsichten der Vernunft für das christliche Handeln nicht einfach bedeutungslos sind. Sie können sogar unter Umständen dazu zwingen, Gegengewalt anzuwenden und damit schuldig zu werden. Das ist aber meiner Meinung nach nur in extremen Ausnahmefällen christlich zu begründen.
6. Die Bereitschaft zum Leiden
Der Regelfall christlicher Ethik wird sein, dass aller Gewaltanwendung die Bereitschaft zum Leiden vorausgeht. Damit beschließt auch Reinhold Schneider seinen Text:
Heimsuchung kann eine jede Stunde über die Völker kommen – und doch sollen wir, im Namen des göttlichen Friedensbringers, mit ganzer Seele darum streiten, dass der Mensch dem Tode keine Brücken baut und im Geiste das Friedensreich anbricht, das wohl überstürmt werden kann von den Friedlosen, die Welt und Macht nicht zu verwalten wissen, aber gegründet ist auf der Wahrheit und unverrückbar vor den Augen der Menschen guten Willens leuchtet als der letzte Strand aller irdischen Hoffnung. (S. 16)
Das "Friedensreich" kann nur errungen werden im Bewusstsein, dass es "überstürmt werden kann von den Friedlosen". Die "Heimsuchung" dieses Sturms kann jede Stunde auch über diejenigen kommen, die "im Namen des göttlichen Friedensbringers mit ganzer Seele darum streiten, dass der Mensch dem Tode keine Brücken baut".
Das Friedensreich garantiert also denjenigen, die für es streiten, nicht etwa, dass sie vom Leid verschont bleiben. Im Gegenteil: Das Friedensreich besteht gerade darin, dass diejenigen, die für es streiten, die "Sühne tragen": Sie wirken Versöhnung gerade dadurch, dass sie sich Gewalt antun lassen statt Gewalt auszuüben. So wird die Gewalt eingedämmt statt ausgeweitet. Trotz dieser Möglichkeit des Leidens, oder besser: gerade wegen ihr ist das Friedensreich "auf der Wahrheit gegründet", und deshalb leuchtet es "als der letzte Strand aller irdischen Hoffnung".
7. Die Macht der Friedfertigen
Reinhold Schneider hat seinen Aufsatz im Jahr 1945 unter dem Titel "Die Macht der Friedfertigen" veröffentlicht. Er hat ihn also geschrieben unter dem unmittelbaren Eindruck des Krieges. Es mag sein, dass der Mensch erst dann, wenn er unter dem Eindruck von Gewalt und Tod ungeheuren Ausmaßes steht, zu tiefen Einsichten über die Macht der Friedfertigen gelangt. Und so mag die große Bedrohung des Friedens in unserer Zeit darin bestehen, dass die Ungeheuerlichkeit des Krieges von unserer Generation nicht erlebt wurde. Die Schrecken des Krieges und seine ganze Grausamkeit sind vielen nicht präsent. Auf ihren Gesichtern ist "sein entsetzlicher Ernst" nicht zu lesen. Das könnte sie unempfindlich machen gegenüber dem, was Krieg bedeutet.
Es könnte auch sein, dass man sich dann leichter damit tut, andere dafür kämpfen zu lassen, dass man selbst nicht kämpfen muss. Wenn gesagt wird, die Ukraine verteidige auch unsere Freiheit, dann heißt das konkret: Junge ukrainische Männer und Frauen töten mit unseren Waffen und lassen sich töten, damit wir vom Krieg verschont bleiben. Die ganze Kriegslast wird dann auf andere verlagert. Das ist das Gegenteil des Tragens der Sühne: Statt selber Gewalt zu ertragen, stattet man andere dazu aus, Gewalt auszuüben und sich der Gewalt auszusetzen.
Die Macht der Friedfertigen aber besteht darin, sich der Gewalt zu stellen, ohne sie auszuüben. Die Macht der Friedfertigen, die die Macht der Versöhnung ist, ist deshalb niemals ohne Risiko. Ohne Risiko gibt es keinen Frieden. Wer einen Frieden ohne Risiko sucht, muss zur Gewalt greifen und wird dennoch das Risiko nicht los. Wer aber an Gottes Friedensreich mitwirken will, muss zum Leiden bereit sein. In dieser Leidensbereitschaft besteht die Macht der Friedfertigen.
Leidensbereitschaft aber wird durch die Herzensbindung an Gott geschaffen, die uns geschenkt werden muss. Dass sie geschenkt werden muss, ist aber kein Mangel, sondern eine Verheißung – die Verheißung, dass es unzählige Menschen geben kann, die das Geschenk der Herzensbindung an Gott erhalten und in dieser Bindung befreit werden zur Macht der Friedfertigen.
* * * * *
Quellen:
* Reinhold Schneider: Die Macht der Friedfertigen. Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 1945.
** Jan Philipp Reemtsma: Gewalt als Lebensform. Zwei Reden. Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart 2016.
Foto: János Bencs auf Pixabay. Das Foto zeigt Teile der Versöhnungskapelle in Beremend, Ungarn, die auch als Mahnmal des Bosnienkrieges dient.
deinen Beitrag hatte ich schon mehrmals zu lesen begonnen und habe mir jetzt endlich mal die Zeit genommen, in zu Ende zu lesen. Schwere Kost! Ich habe mehrere Anmerkungen:
1.) Ich wundere mich auch, wie groß die Bereitschaft zur Waffenlieferung auf einmal ist. Selbst wenn man nur Vernunftgründe in Erwägung zieht - christliches Denken ist nun mal nicht mehr für alle verbindlich und war es in seiner reineren Form vielleicht nie -, sind Waffenlieferungen und evtl. Kriegsbeteiligungen nicht alternativlos. Vielleicht haben wir in Deutschland auch noch etwas nachzuholen. Nach dem zweiten Weltkrieg war Deutschland der militärische Zahn erstmal gezogen, und das war vielleicht auch gut so. Wir brauchten uns auch nicht wirklich selbst zu verteidigen, sondern konnten uns von den NATO-Partnern schützen lassen und uns dabei moralisch einen schlanken Fuß machen. In der DDR war es mit dem Wahrschauer Pakt ähnlich, obendrein war man per Definition immer auf der gerechten Seite der Geschichte, ganz gleich, was man tat. Inzwischen erwarten unsere NATO-Partner, auch und besonders die ehemaligen Kriegsgegner, mehr Engagement von Deutschland, und wir müssen in diese Jacke erst einmal hineinwachsen.
2) Ich habe gestern den ganzen Abend lang die ZDF-Info-Dokumentation über die Zeit zwischen dem 1. und dem 2. Weltkrieg gesehen, und dabei ist mir einiges wieder bewusst geworden. Zu Teilen war die Entwicklung schon vorgezeichnet. Die vielen kriegstraumatisierten Männer, die am Krieg hatten teilnehmen müssen, und bei denen außer bei unmittelbar körperlichen Folgen (z. B. Kriegszitterer), die eigentlich hätten psychotherapeutisch behandelt werden müssten, und die stattdessen die Schäden ihrer Fronterfahrung, ihren Zynismus und ihre Gewaltbereitschaft in die Gesellschaft und insbesondere die Nazi-Partei getragen und dort ausgelebt haben. Der ökonomische Unverstand der Reparationen, die zusätzliche Demütigungserfahrung vieler Deutscher durch diese von den Siegermächten aufgezwungene Sühne. Der Populismus und Fanatismus der Nazis, ihre bewusste Nutzung verfügbarer neuer Medien usw. usw..
3) Die christliche geprägten Deutungs- und Behandlungsversuche, die du ansprichst, erscheinen mir da wie ein Versuch, einen Großbrand mit einer Mokkatasse Wasser zu löschen. Klar, Verzicht auf Rache und Sühne für Sünden sind wichtige Elemente, die Kreisläufe der Gewalt zu beenden. Mir fallen dabei auch immer literarische Werke ein (Dumas' "Der Graf von Monte Christo" und Dostojewskijs "Schuld und Sühne"). Was in meinen Augen letztlich nicht funktioniert, ist stellvertretende Sühne, auch wenn die christliche Theologie das anders sieht. Christen können das im Prinzip tun und in Verbindung mit bedingungsloser Gewaltlosigkeit und Feindesliebe etwas in der Welt bewegen. Das ist aber wieder der Salz-der-Erde- und nicht der Volkskirchen- und Politikberatungsansatz.
Viele Grüße
Thomas
vielen Dank für deinen instruktiven Beitrag! Dass du meinen Artikel als "schwere Kost" empfindest, macht mich nachdenklich - versuche ich doch, möglichst verständlich zu schreiben. Oder bezog sich die Empfindung auf die schwer verdauliche Thematik, denn wer beschäftigt sich schon gern mit Krieg und Kriegsursachen?
Ich würde auch lieber über andere Dinge schreiben und fühle mich inzwischen so fremd in dieser Welt wie wahrscheinlich noch nie zuvor. All die Drohungen, das Drängen auf mehr Waffen, das Inkaufnehmen von Hunderten Gefallenen täglich, das dadurch offenbar ermunterte weltweite Säbelrasseln ist nicht meine Welt und wird es nie werden. Aber vielleicht ist das der Preis, den ich für einen christlichen Denkansatz zahlen muss.
Dabei besteht das Problem dieses (und jeden) Krieges nicht nur in den gegenwärtig Getöteten, sondern auch, wie du schreibst, in den wahrscheinlich hunderttausenden Traumatisierten (Soldaten und Zivilisten), die die kommenden Generationen prägen werden mit ihren psychischen Schädigungen, die du ja genau beschreibst. Insofern ist es auch ein Irrtum anzunehmen, mit einem Sieg über Russland kehre Frieden ein. Der Friede wird über Jahrzehnte zerstört, Hass auf den "Feind" ein Normalzustand und ein Waffenstillstand wahrscheinlich eine sehr wackelige Angelegenheit sein.
Ich möchte deshalb auch nie in die Jacke eines größeren militärischen Engagements Deutschlands hineinwachsen, auch wenn noch so viele das fordern. Aber es ist schon wahr, dass ein christlicher Lösungsversuch wie eine Tasse Wasser auf einen Großbrand wirken muss. Ich fand es trotzdem beeindruckend, wie man nach dem Zweiten Weltkrieg ganz selbstverständlich von "Sühne" sprechen konnte, ein Begriff, den heute kaum noch jemand versteht. Eigentlich ist damit ja Versöhnung gemeint: Versöhnung, die dadurch geschieht, dass man Gewalt erträgt statt einem Angreifer Gewalt anzutun und in diesem Sinne stellvertretend für ihn die Gewalt erträgt, die eigentlich er als der Aggressor verdient hätte. Aber dieser Gedanke ist für die meisten Menschen so weit weg, dass man in Versuchung kommen könnte, ihn lieber gar nicht auszusprechen, weil er sowieso niemanden überzeugt.
Doch das Salz der Erde darf nicht seine Würze verlieren und das Licht auf dem Berg muss leuchten, damit es nicht noch dunkler in der Welt wird. Und zuletzt setze ich auch nicht auf Menschen meine Hoffnung, sondern auf den, der Menschen verwandeln kann, wann und wo er es will. Mit Karl Barth zu sprechen: "Es wird regiert!" Das ist zwar manchmal schwer zu glauben, aber dennoch die einzige Hoffnung, die mir im allgemeinen täglichen Irrsinn bleibt.
Ich denke, das ist es, was Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg noch stärker bewusst war als heute in unserer "Wohlstandsgesellschaft", in der Leid und Tod weitgehend verdrängt werden und der Wahn herrscht, dass wir uns durch möglichst viele Waffen selber retten können.
Viele Grüße
Klaus
danke für deine Rückmeldung. Nein, meine Schwierigkeiten hatten nichts mit den Themen Macht und Krieg und deren immanenter Logik zu tun. Ich kann da hinsehen, und ich glaube einigermaßen zu verstehen, was da wie funktioniert.
Es lag daran, dass ich die Enden dieses Themas und der christlichen Sichtweise, wie Sie von Reinhold Schneider und dir dargestellt wird, nicht zusammenbekommen habe. Ich begreife Jesu persönlichen Weg der Gewaltlosigkeit bis hin zur körperlichen Selbstaufgabe und staune allein darüber, das Jesus nicht einfach eine tragische Fußnote der Geschichte geblieben ist. Seine Macht der Liebe ist offenbar bedeutend stärker, als es nach der Logik der Welt aussieht. Aber dieser Weg der unbedingten Liebe selbst zu Feinden hat eben auch die Konsequenz, dass man die Diktatoren angefangen von den römischen Caesaren bis hin zu Putin heute wüten lässt, mit allen (!) Konsequenzen. Deshalb kann diesen Weg aber eben auch nur jeder einzelne für sich persönlich wählen.
Die ganzen Überlegungen über stellvertretende Sühne erscheinen mir hier deplatziert, sie stehen für mich nur im Wege herum wie eine veraltete und seit Jahren kaputte Waschmaschine im Haushalt.
Viele Grüße
Thomas
danke für deine Klarstellung. Wenn man für "stellvertretende Sühne" einfach "Versöhnung" setzt und davon ausgeht, dass Versöhnung mit einem Sünder bzw. Gewalttäter bedeutet, seine Sünde und Gewalt zu ertragen, dann wird vielleicht deutlicher, was mit Sühne gemeint ist.
Ich würde diesen Weg der Gewaltlosigkeit übrigens auch nicht in jedem Fall gehen, z.B. nicht in der fiktiven Situation, dass uns ein theokratischer Staat wie das jetzige Afghanistan angreifen würde. Eine Gegenwehr würde mir dann auch deshalb leichter fallen als im Fall Russlands, weil die Taliban-Kämpfer sich offensichtlich mit diesem Staat identifizieren, während wohl viele der russischen Soldaten diesen Krieg sicher auch nicht wollen, aber zum Krieg gezwungen werden. Diese Haltung von mir mag man für inkonsequent halten, und vielleicht ist sie es auch. Aber das jetzige Afghanistan hat für mich eine andere Qualität der Menschenverachtung und Grausamkeit als das heutige Russland.
Jedenfalls würde ich auch nicht alle Diktatoren und Psychopathen wüten lassen. Deshalb betone ich immer wieder, dass jede ethische Entscheidung situationsabhängig ist und deshalb in jeder neuen Situation auch neu entschieden werden muss. Das hat übrigens auch Dietrich Bonhoeffer in seiner Ethik herausgearbeitet.
Ich habe mich übrigens darüber gefreut, dass du in deinem ersten Beitrag Verwunderung über die plötzlich so große Bereitschaft zu Waffenlieferungen geäußert hast und weder Waffenlieferungen noch eine Kriegsbeteiligung für nicht alternativlos hältst.
Viele Grüße
Klaus