Die EKD-Ratsvorsitzende zum Ukraine-Krieg
Wie die evangelische Kirche um die Friedensethik ringt (Teil 1)
Klaus Straßburg | 25/07/2022
Die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette Kurschus, hat sich in zwei Interviews zur ethischen Bewertung des Ukraine-Kriegs geäußert. Der Evangelische Pressedienst (epd) informierte in zwei Meldungen vom 7. Juni und vom 1. Juli über die Einschätzung der Ratsvorsitzenden. Da mir die Interviews aus der FAZ und dem Spiegel nicht vorliegen, beziehe ich mich auf diese beiden Meldungen des epd, die auf evangelisch.de veröffentlicht wurden, und gehe davon aus, dass sie die Meinung der Ratsvorsitzenden sachgerecht wiedergeben. Weitere Stellungnahmen von Kurschus sind berücksichtigt.
1. Die Dilemma-Situation
Kurschus sprach von einer "Dilemma-Situation" (1.7.) und von ihrer persönlichen "Zerrissenheit". Sie hat
auf eine innere Anspannung hingewiesen, die viele Menschen in Deutschland und der Kirche bedrückt. "Auch in mir ist diese Zerrissenheit" [...]. Sie könne einen Krieg grundsätzlich nicht gutheißen, auch keinen Verteidigungskrieg, auch keine Waffenlieferungen. "Ich kann sie allenfalls als unvermeidlich anerkennen, als geringeres Übel für vertretbar halten. Es ist geboten, der Sünde in Form von brutaler Gewalt und verbrecherischem Unrecht entgegenzutreten." (7.6.)
Deutlich wird in diesen Sätzen zunächst das Dilemma, das darin besteht, dass man, wie immer man sich verhält, ein Übel vertritt – also Schuld auf sich lädt. Wer Krieg führt, und sei es zur eigenen Verteidigung, und wer Waffen für den Krieg liefert, wird in christlicher Sicht schuldig. Anders ist es nicht zu verstehen, wenn die Ratsvorsitzende einen Verteidigungskrieg und Waffenlieferungen für ein Übel hält, das man nicht gutheißen kann.
Dieser Gedanke kommt in der öffentlichen Diskussion in Deutschland so gut wie nicht vor. Jede der beiden Seiten – pro oder contra Waffenlieferungen – hält die eigene Sichtweise für gut und verantwortungsvoll. Verantwortungslosigkeit bzw. neuerdings vorzugsweise Zynismus wird nur der anderen Seite vorgeworfen.
Es ist zu begrüßen, dass die oberste Repräsentantin der EKD auf die menschliche Verfasstheit hinweist, die mitunter nur eine Wahl zwischen Schuld und Schuld zulässt. Die gesellschaftliche Spaltung würde abgeschwächt, wenn sich statt gegenseitiger Schuldzuweisungen ein Bewusstsein der gemeinsamen Schuldverstrickung durchsetzen würde. Die Diskussion würde statt von Selbstgerechtigkeit, mit welcher der eigene Standpunkt vorgebracht wird, von einer gewissen Demut geprägt. Das täte der Demokratie gut. Man würde gewahr werden, dass beide Seiten immer nur das jeweils "geringere Übel" suchen können.
Eine ethische Überhöhung des Verteidigungskrieges und der Waffenlieferungen ist bei einer solch grundlegenden Schuldeinsicht nicht möglich. Allerdings unterläuft Kurschus diese eigene Posititionierung.
2. Das Unchristliche als Unumgängliches
Nach Mitteilung des epd stellte Kurschus fest,
sie könne Politikerinnen und Politikern, die Waffen an die Ukraine liefern wollen, nicht vorwerfen, dass das unchristlich sei. Zwar könnten Christen für sich selbst entscheiden, auf Gegengewalt zu verzichten, wenn sie mit Waffen angegriffen werden. [...] Es sei aber etwas ganz anderes, "wenn ich als Christin, gar als leitende Angestellte der Kirche, die selbst nicht unmittelbar bedroht ist, Angegriffenen dies moralisch gebiete [...]. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass ich je Waffenlieferungen als verantwortbare politische Entscheidung anerkennen würde", sagte sie. (1.7.)
Der Sinn der Ausssagen ist unklar. Geht es lediglich darum, Politikerinnen und Politikern unchristliches Verhalten nicht vorzuwerfen? Dem kann man nur zustimmen; um Vorwürfe kann es nicht gehen, wenn man um die gemeinsame Schuldverfallenheit weiß. Ebenso wenig kann es darum gehen, den Angegriffenen etwas moralisch zu gebieten. Möglich und gefordert ist aber, den eigenen christlichen Standpunkt zu bezeugen – auch gegenüber den politisch Handelnden und den Angegriffenen.
Das Zeugnis könnte in dem Bekenntnis bestehen, dass sowohl derjenige, der Waffen liefert, als auch derjenige, der Waffenlieferungen verweigert, Schuld auf sich lädt. Die Ratsvorsitzende stellt aber fest, dass Waffenlieferungen "nicht unchristlich" seien. Die Formulierung ist unklar: Heißt das, dass Waffenlieferungen christlich sind? Oder bewegen sie sich in einem Zwischenbereich zwischen christlich und unchristlich? Die Aussage lässt den Schluss zu, dass das, was "nicht unchristlich" ist, christlich sein müsse.
Hier wird der Gedanke, dass auch Waffenlieferungen ein Übel sind, die man unter christlichen Gesichtspunkten nicht gutheißen kann, unterlaufen. In der Tat ist es schwierig, die Lieferung von Waffen, mit denen Menschen getötet, verstümmelt, traumatisiert, für ihr Leben gezeichnet werden, bruchlos als christlich zu bezeichnen. Auch wenn man Waffenlieferungen als das kleinere Übel bezeichnet, bleiben sie ein Übel, das in der Dilemma-Situation zwar unumgänglich sein kann, dadurch aber noch nicht ethisch gut ist. Es müsste deutlich bleiben, dass dieses Übel nicht dem eigentlichen Gebot Gottes entspricht. Die Verwirklichung eines Übels sollte deshalb nicht einfach christlich genannt werden oder den Schluss nahelegen, dass diese Tat christlich ist.
Ebenso schwierig ist es, die Ablehnung von Waffenlieferungen für jeden denkbaren Fall als christlich zu bezeichnen. Denn es könnte sein, dass man damit Völkermord, Folter und brutale Diktatur über ein Land bringt, also unermessliches Leid. Bezieht man diese möglichen Folgen eines Verzichts auf Waffenlieferungen in die Überlegungen ein, dann kann dieser Verzicht ebenfalls nicht bruchlos als christlich bezeichnet werden.
In einer neuerlichen Stellungnahme geht Kurschus nochmals auf Waffenlieferungen ein und relativiert ihre vorangegangenen Äußerungen:
Sie könne Krieg nicht grundsätzlich gutheißen, "auch keine Waffenlieferungen, das habe ich nie begrüßt, auch wenn mir das bisweilen so in den Mund gelegt wird", sagte sie [...]. Es gebe in dieser Frage kein eindeutiges Richtig oder Falsch. Die oberste Repräsentantin der deutschen Protestanten hatte Waffenlieferungen in Interviews als vertretbar anerkannt. [...] "Wir verfügen nicht über ein Wissen christlicherseits, das es uns erlauben würde, einzelne politische Optionen direkt aus der Bibel abzuleiten." [...] Die EKD komme zu dem Schluss, dass es für und gegen Waffenlieferungen jeweils gute Gründe gebe. Dilemmata müssten benannt werden. "Es ist nicht immer hilflos, wenn man sagt: Ich weiß es nicht. Das ist manchmal das einzig angebrachte", sagte Kurschus. Auch die Bibel würde offensichtliche Widersprüche nebeneinander stehen lassen und in einer größeren Wahrheit aufheben.
Diese Äußerung legt den Schluss nahe, dass es in einer Dilemma-Situation keine christliche Entscheidungsmöglichkeit gebe: Man könne für oder gegen Waffenlieferungen sein, für beides gebe es gute Gründe. Dass gerade Christinnen und Christen in einer so wichtigen Frage keine Antwort haben, ist unbefriedigend. Unklar bleibt, in welcher "größeren biblischen Wahrheit" die "offensichtlichen Widersprüche" der Bibel aufgehoben seien. Insgesamt bleibt der Eindruck, die Ratsvorsitzende halte Waffenlieferungen für nicht unchristlich, also für christlich. Genau dies hatte sie auch explizit zum Ausdruck gebracht.
3. Die Nothilfe-Situation
Der Dilemma-Situation steht die Nothilfe-Situation gegenüber. Nach Kurschus ist es "geboten, der Sünde in Form von brutaler Gewalt und verbrecherischem Unrecht entgegenzutreten" (siehe oben 1. Zitat). Kurschus zufolge
sind die deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine mit christlichen Grundsätzen vereinbar. "Die Menschen in der Ukraine haben ein Recht auf Verteidigung. Und es gibt auch das christliche Gebot der Nothilfe, wenn Menschen ermordet, gefoltert, erniedrigt, vertrieben werden", sagte Kurschus. (1.7.)
Die Hilfe für Menschen in höchster Not, gerade auch für die Schwachen, fordere, Angriffe auf ihr Leben, ihre Würde und ihre Freiheit nicht tatenlos hinzunehmen, fügte Kurschus hinzu. Es müsse darum gehen, das Recht der Einzelnen auf ein Leben in Freiheit und Würde zu verteidigen. Verteidigt werden müsse deshalb auch die Souveränität des Staates, der dieses Recht schützt und garantiert. Kurschus: "An diesem Ziel ist alles Handeln immer wieder zu prüfen." (7.6.)
Kurschus betrachtet den Verteidigungskrieg und die Unterstützung desselben durch Waffenhilfe offensichtlich als das kleinere und deshalb unvermeidliche Übel. Von einem Übel spricht sie nun allerdings nicht mehr, sondern von dem "christlichen Gebot der Nothilfe". Die Ukraine habe ein "Recht auf Verteidigung", und Waffenhilfe sei "mit christlichen Grundsätzen vereinbar". Als Ziele dieser Nothilfe formuliert die Ratsvorsitzende einmal die Rettung von Menschen vor Mord, Folter, Erniedrigung und Vertreibung, das andere Mal die Verteidigung von Leben, Freiheit und Würde des einzelnen sowie der Souveränität des Staates. Alles Handeln sei an diesen Zielen zu messen.
Die Nothilfe-Situation ist ein starkes Argument, das in der gegenwärtigen Diskussion immer wieder vorgetragen wird. Wer will einem in Not geratenen Staat die Hilfe verweigern? Ist das nicht unchristlich?
Es ist jedoch zu bedenken, dass die Nothilfe in diesem Fall nicht anders möglich ist als durch Gewaltanwendung. Ein wesentlicher Aspekt des biblischen Verständnisses von Sünde ist die Gewalt (siehe meinen Artikel "Hybris, Gewalt und die Gnade Gottes"). Hier zeigt sich wieder, dass die Unterstützung von Gewalt nicht einfach als "christliches Gebot" oder "mit christlichen Grundsätzen vereinbar" bezeichnet werden kann. Auch von einem christlichen Recht zum Töten, und sei es zur Selbstverteidigung, wird man kaum sprechen können (siehe dazu meinen Artikel "Keine Lizenz zum Töten").
Es kann hilfreich sein, sich einmal vor Augen zu führen, was in einem Krieg – auch in einem Verteidigungskrieg – geschieht. Die gegnerischen Soldaten werden getötet, verstümmelt und traumatisiert. Aber auch die eigenen Soldaten werden diesem Schicksal ausgesetzt. Die Opferzahlen auf ukrainischer Seite schwanken zwischen 100 und 500 getöteten Soldaten täglich. Aus Russland gibt es keine Zahlen. Darüber hinaus wird die ukrainische Bevölkerung von Tod, Vertreibung und Zerstörung getroffen. Die UNO sprach vor einigen Wochen von etwa 4.183 getöteten Zivilisten. Verletzte, Traumatisierte, Vertriebene und Menschen, die alles verloren haben, was sie sich aufgebaut haben, sind dabei noch gar nicht erfasst.
Diese Menschen sind nicht durch ukrainische, sondern durch russische Waffen getötet worden. Russland trägt sowieso die Hauptverantwortung für alles Leid, das durch diesen Krieg entsteht. Es ist jedoch deutlich, dass auch ein Verteidigungskrieg Gewalt erzeugt, die es ohne ihn nicht gäbe.
Andererseits vermeidet ein Verteidigungskrieg andere Formen von Gewalt, die es nach einer siegreichen Verteidigung nicht gäbe: ein vielleicht langes Leben unter Fremdherrschaft, ohne staatliche Souveränität und Rechtsstaatlichkeit, in einer Autokratie, schlimmstenfalls in einem Unrechtsstaat unter Willkür, Folter und eklatanter Verletzung der Menschenrechte.
Die entscheidende Frage ist daher: Welche Form der Gewalt ist als das geringere Übel einzustufen? Diese Frage spiegelt sich auch in den gegenwärtigen Diskussionen um einen Waffenstillstand. Denn auch in diesen Diskussionen geht es letztlich darum, ob einem Krieg mit dem ihm eigenen Leid der Vorzug gegeben werden soll oder einem Waffenstillstand mit Gebietsabtretungen an Russland mit dem ihm eigenen Leid. Dabei spielen noch andere Fragen eine Rolle, zum Beispiel die Frage, ob ein Sieg der Ukraine über Russland überhaupt möglich ist.
Kurschus betrachtet den Verteidigungskrieg als das geringere Übel. Die Meinungen darüber gehen auseinander. Zur Beantwortung dieser Frage spielen nicht nur die Zahlen der Kriegsopfer eine Rolle, sondern darüber hinaus auch die Beurteilung Putins und geopolitische Fragestellungen, die hier nicht erörtert werden sollen (siehe dazu meinen Artikel "Der General und die Feindesliebe"). Außerdem sind zu berücksichtigen eine drohende Hungersnot in Afrika mit ihren Opfern, der durch die Kriegshandlungen vergrößerte weltweite CO2-Ausstoß mit allen Folgen und die durch den Krieg gegebene Gefahr einer atomaren weltweiten Auseinandersetzung.
Wenn es um ein christliches Zeugnis geht, sind christliche Maßstäbe gefragt, zumal wenn sich die oberste deutsche evangelische Repräsentantin äußert. Christliche Maßstäbe kommen allerdings in ihrer Argumentation kaum vor. Sie bringt in erster Linie Argumente vor, die in der öffentlichen Diskussion schon vertreten werden und schließt sich dem Mainstream der veröffentlichten Meinung an, die sich allerdings Umfragen zufolge von der öffentlichen Meinung, also der Meinung der Bevölkerung, deutlich unterscheidet.
4. Eine christliche Sichtweise
Es ist bedauerlich, dass es in einer so wichtigen Frage wie der einer Reaktion auf den Ukraine-Krieg keine einheitliche christliche Stellungnahme gibt. Ich stelle deshalb der Einschätzung der Ratsvorsitzenden eine andere christliche Einschätzung gegenüber.
Kurschus hält es für "geboten, der Sünde in Form von brutaler Gewalt und verbrecherischem Unrecht entgegenzutreten". Jesus hingegen rief dazu auf, dem Bösen nicht zu widerstehen (Mt 5,39). Er wollte offenbar vermeiden, dass man dem Bösen entgegentritt, indem man Böses tut. Auch das Töten russischer Soldaten, junger Menschen, die ihr Leben noch vor sich haben und die den Krieg wahrscheinlich gar nicht wollen, ist brutale Gewalt.
Kann man Gewalt durch Gewalt, Sünde durch Sünde besiegen? In bestimmten Extremfällen des Krieges kann das unumgänglich sein. Es ist aber jede neue Situation aufs Neue ethisch zu prüfen. Konkrete Ethik sagt nicht: In jedem denkbaren Fall ist es richtig, dass ein angegriffenes Land sich militärisch verteidigt. Konkrete Ethik sagt aber auch nicht: In jedem denkbaren Fall ist es falsch, dass ein angegriffenes Land sich militärisch verteidigt.
Im Alten Testament gibt es Kriege, die von Gott befohlen oder sogar von ihm selbst geführt werden. Jesus hat allerdings der Gewaltlosigkeit eindeutig den Vorzug vor der Gewalt eingeräumt. Er wusste offenbar, dass Gegengewalt möglicherweise die Gewalt vergrößert; dass das Übel der Verteidigung unter Umständen mehr Leid schafft als das Übel einer Fremdherrschaft. Jesus lebte selbst in einem Land unter römischer Fremdherrschaft. Mit keinem Wort hat er zum Aufstand gegen die Römer aufgerufen oder einen der blutigen Aufstände gutgeheißen, die damals gegen die römische Besatzungsmacht angezettelt wurden. Stattdessen rief er auf, mit einem Unterdrücker, wahrscheinlich einem römischen Soldaten oder zumindest Beamten, zwei Meilen statt einer Meile zu gehen und ihm so zu dienen (Mt 5,41). Das ist das Gegenteil von Gegengewalt.
In unseren Tagen stellt sich die Frage, was das größere Übel ist: das Leben unter einer Fremdherrschaft oder ein Krieg? Was Krieg bedeutet mit tausenden Toten, zigtausenden Verstümmelten, Vergewaltigten, Verlorenen, Verbitterten, um ihr Lebenswerk und ihren Besitz Gebrachten und mit einem dem Erdboden gleichgemachten Land, wurde bereits oben beschrieben.
Aber auch eine jahrelange oder gar jahrzehntelange Fremdherrschaft bringt unermessliches Leid mit sich: staatliche Willkür, vielfaches Unrecht, Einschränkungen der Freiheit, geraubte Lebensmöglichkeiten, mit den Füßen getretene Menschenrechte und alle damit verbundene Verzweiflung.
Das Problem ist nun, dass es fast unmöglich ist, Not gegen Not, Übel gegen Übel abzuwägen. Es ist so extrem schwierig, weil es dabei um die Zukunft geht, die wir nicht kennen und um die Vergangenheit, die wir nicht gelebt haben. Wer im Fall des Ukraine-Kriegs vorgibt, er könnte abwägen, welche Not die größere ist, behauptet zu wissen, wie groß ohne eine Verteidigung der Ukraine das Leid gewesen wäre und wie groß es werden würde. Er behauptet auch zu wissen, wie groß das Leid mit fortgesetzter Verteidigung werden würde. Er behauptet außerdem einschätzen zu können, wie groß das Leid der einzelnen Menschen bis jetzt gewesen ist und wie groß es werden würde, ohne dass er das gewesene Leid selbst erlitten hätte und das kommende erleiden würde.
Darüber hinaus gibt es die Gefahr weiterer mit dem Krieg gegebener Leiden: Hungersnöte in Afrika, Verstärkung des Klimawandels, ein nicht auszuschließender Weltkrieg, jahrzehntelange Konfrontationen zwischen den verfeindeten Blöcken sowie Milliardengelder für Aufrüstung, die anders dringend benötigt werden. Bezieht man diese möglicherweise entstehenden Leiden in die Überlegungen ein, so wird deutlich, wie absurd jede Antwort auf die Frage nach dem größeren Übel in der gegebenen Situation ist.
Wir sollten uns hier ehrlich machen: Die ethische Frage, welches Übel das größere ist, ist also – sagen wir: in den allermeisten Fällen – gar nicht zu beantworten. Bestenfalls sind Vermutungen anzustellen. Deshalb sollte niemand so tun, als hätte er die allein richtige Antwort und wüsste deshalb auch, welche ethische Entscheidung die richtige ist.
Dennoch muss eine ethische Entscheidung getroffen werden, denn auch Nicht-Entscheiden wäre eine Entscheidung – aber gewiss keine ethisch verantwortliche. Vielleicht hat Jesus um dieses Dilemma gewusst, als er dazu aufrief, dem Bösen nicht zu widerstehen. Vielleicht war für ihn klar, dass unsere Erwägungen über das größere Übel immer dazu herhalten müssen, die Gewalt zu potenzieren. Deshalb hat er für den Weg der Gewaltlosigkeit geworben und für die damit verbundene Deeskalation und Leidensbereitschaft.
Die geforderte "Nothilfe" könnte ja auch darin bestehen, die Lage nicht durch immer neue Waffenlieferungen zu verschärfen, sondern in Verhandlungen über einen Waffenstillstand einzutreten und dabei auch Kompromisse zu machen. Das mag unter Gerechtigkeitserwägungen unbefriedigend sein, denn niemand will, dass ein Aggressor für seine Aggression belohnt wird. Aber Gerechtigkeit muss immer gegenüber Leidverringerung und Lebenschancen abgewogen werden. Wer nur auf Gerechtigkeit setzt, wird unbarmherzig. "Gerechtigkeit ohne Liebe macht hart." Deshalb gilt die Aufforderung des Paulus, die Vergeltung Gott zu überlassen und Böses mit Gutem zu beantworten, wie es auch der Ethik Jesu entspricht (Röm 12,17-21):
Vergeltet niemandem Böses mit Bösem; seid auf das Gute bedacht vor allen Menschen! Ist es möglich, soviel an euch liegt, so haltet mit allen Menschen Frieden! Rächt euch nicht selbst, Geliebte, sondern gebt Raum dem Zorn [Gottes]; denn es steht geschrieben: "Mir gehört die Rache, ich will vergelten", spricht der Herr. Vielmehr, "wenn dein Feind hungert, so speise ihn; wenn ihn dürstet, so tränke ihn! [...]" Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute!
Es ist deutlich, dass solch ein Handeln Leidensbereitschaft voraussetzt. Leidensbereitschaft gehört in das Zentrum der Ethik Jesu und deshalb in das Zentrum jeder christlichen Ethik. Gegenüber allen politischen Überlegungen und der misslichen Frage, welche Reaktion auf den Krieg mehr Leid mit sich bringt, also das größere Übel ist, schlägt die Leidensbereitschaft noch einmal ein neues ethisches Kapitel auf.
5. Christliche Leidensbereitschaft
Jesus hat Gottes Liebe gelebt und dafür eigenes Leid in Kauf genommen. Er hat deutlich gemacht, dass mit einem liebevollen Leben immer Leid verbunden ist.
Der moderne Mensch hingegen ist ein Mensch, der das Leiden abschaffen möchte. Alle medizinischen und technischen Errungenschaften sollen Leid verringern. Dagegen ist nichts einzuwenden. Wohl aber dagegen, dass Leid als etwas im Grunde Lebensfremdes betrachtet und ein prinzipiell leidfreies Leben angestrebt wird. Dabei gerät in Vergessenheit, dass Lieben immer Leiden um des geliebten Menschen willen impliziert. Wo es keine Bereitschaft zum Leiden gibt, kann es auch keine Liebe geben.
Das bedeutet: Wer das Lebensrecht des anderen achtet, auch eines Angreifers, muss eigenes Leid in Kauf nehmen. Wer dem Bösen gewaltfrei zu begegnen versucht, setzt sich der Gewalt des Bösen aus.
Dagegen wird oft eingewandt, dass es jeder Mensch für sich persönlich entscheiden könne, sich der Gewalt eines Aggressors auszusetzen, dass es aber im Kriegsfall um das Leid eines ganzen Volkes geht, das es zu vermeiden gelte.
Natürlich muss jeder Mensch für sich selber entscheiden, welchen Weg er geht. Niemand hat das Recht, für einen anderen zu entscheiden. Christinnen und Christen können nur die ethische Entscheidung bezeugen, die sie ihrer Einsicht entsprechend aufgrund christlicher Maßstäbe getroffen haben.
Jesus hat seinen Jüngerinnen und Jüngern Leid zugemutet. Er hat sie in die Leidensnachfolge gerufen (Mk 10,38f; Lk 14,27). Paulus sprach von der "Gemeinschaft mit seinen [Christi] Leiden" (Phil 3,10), die dem Wohl des Nächsten dienen soll (Röm 15,2f). Nach dem 1. Petrusbrief gilt Christi Leiden für uns als Vorbild für unser eigenes ethisches Verhalten (1Petr 2,21-23; 3,9.11).
Um das Leiden kommen die Christus Nachfolgenden also nicht herum. Es ist aber kein Leiden, das durch Gegengewalt entsteht und von einem überlegenen Angreifer erzwungen wird, sondern es ist ein aktiv sich hingebendes Leiden, ohne Gegengewalt zu üben. Es ist ein Leiden aus der Freiheit der Liebe heraus, die lieber Leid erträgt als Leid zuzufügen. Das christliche Gegengewicht, das diese Freiheit ermöglicht, ist die Auferstehungshoffnung, die eines Lebens im Frieden Gottes gewiss ist, auch wenn die gewaltfreie Liebe in den Tod führt.
6. Christliche Freiheit
Die EKD-Ratsvorsitzende hatte als Ziel alles Handelns im Blick auf den Ukraine-Krieg "das Recht der Einzelnen auf ein Leben in Freiheit und Würde" und die staatliche Souveränität genannt. Es stellt sich die Frage, welche Freiheit hier gemeint ist. Ohne den Wert der modernen Freiheitsrechte infrage zu stellen, wird man christliche Freiheit noch einmal anders definieren müssen: als Freiheit, die in dem Vertrauen auf die ewige Liebe Gottes gründet, der es den Seinen letztlich wohlergehen lassen wird (Ps 37,5), und die deshalb zu Einschränkungen moderner Freiheitsrechte um des Nächsten willen bereit ist (siehe die Artikel "Was ist Freiheit?" und "Was kommt nach dem Glauben?"). Auch die Menschenwürde hat nach christlicher Vorstellung ihren Grund in der Zuwendung Gottes, der jeden von ihm geschaffenen Menschen würdigt, an seinem Reich, seiner Liebesherrschaft in der Welt mitzuwirken.
Das Ziel alles Handelns im Ukraine-Krieg kann deshalb nicht einfach auf moderne Freiheitsrechte und säkular verstandene Menschenwürde ausgerichtet sein, sondern muss die christliche Freiheit und die christliche Menschenwürde in ihrer Gründung in Gott und Bindung an Gott im Blick haben.
Von daher wäre darzulegen, dass Christinnen und Christen auch unter Fremdherrschaft in Freiheit leben können, weil ihre Freiheit in der Bindung an Gott bzw. Christus besteht und nicht in der Bindung an eine bestimmte Staatsform. Damit sind die modernen Freiheitsrechte nicht entwertet, aber relativiert.
Relativiert wird auch die Gewalt als legitimes politisches Mittel, wenn die Ratsvorsitzende vor einer Rechtfertigung des Krieges warnt. Sie lehnt die Sicht des orthodoxen Patriarchen von Moskau, Kyrill I., ab, den Angriffskrieg als legitimes Mittel der Politik zu begreifen. Aber ebenso wird der Westen von ihr angesprochen:
"Es ist aber auch Skepsis geboten, wenn der Krieg in der Ukraine spiegelbildlich als Verteidigung westlicher Werte idealisiert wird", gibt die Theologin zu bedenken. Auch hier sei eine "geschichtstheologische Überhöhung des Krieges nicht fern". (7.6.)
In der Tat: Der Krieg darf weder zur Verteidigung östlicher noch westlicher Interessen und Werte idealisiert werden. Insofern bewegt sich die Ratsvorsitzende auf den Spuren der EKD-Friedensdenkschrift aus dem Jahr 2007. Darin wurde die alte Lehre vom "gerechten Krieg" aufgegeben und durch die Zielvorstellung des "gerechten Friedens" ersetzt. Kurschus kritisiert, dass in dieser Denkschrift zwar "der Einsatz rechtserhaltender Gewalt [...] für notwenig erachtet" werde, die "Besonderheiten" der "Rechtsdurchsetzung" aber "nicht ausreichend berücksichtigt" würden (7.6.). Schon zuvor hatte sie gefordert, dass die evangelische Friedensethik der letzten Jahrzehnte "überdacht" werden müsse.
7. Die Friedensdenkschrift von 2007
Die Denkschrift aus dem Jahr 2007 bildete den vorläufigen Abschluss einer Reihe von Denkschriften und Stellungnahmen der EKD zur Friedensfrage seit den 80er Jahren. In der Denkschrift wird festgehalten, dass aus der uns durch Gott gewährten Versöhnung der christliche Dienst der Versöhnung folgt (Abschn. 67). Insofern leben Christinnen und Christen aus dem Frieden Christi (Abschn. 39). Deshalb gilt:
Das christliche Ethos ist grundlegend von der Bereitschaft zum Gewaltverzicht (Mt 5,38ff.) und vorrangig von der Option für Gewaltfreiheit bestimmt.
Doch die Denkschrift schränkt sogleich ein:
In einer nach wie vor friedlosen, unerlösten Welt kann der Dienst am Nächsten aber auch die Notwendigkeit einschließen, den Schutz von Recht und Leben durch den Gebrauch von Gegengewalt zu gewährleisten (vgl. Röm 13,1-7). (Abschn. 60)
Die Zielvorstellung eines gerechten Friedens beinhaltet der Denkschrift zufolge "die Distanzierung von kriegerischer Gewalt" und das Bewusstsein davon, dass "Krieg niemals ein zureichendes Mittel zum Frieden sein" kann (Abschn. 75). Als Wege zum Frieden nennt die Denkschrift:
Den Verzicht auf Vergeltung, um die Spirale der Gewalt zu unterbrechen (Röm 12,19f.); die Vergebung, die einen Neuanfang ermöglicht (Eph 4,32); das Zurückstellen eigener Interessen, um in Konflikten Möglichkeiten des Ausgleichs zu finden (Phil 2,3f.); das Ertragen von Unrecht gegen die eigene Person um des Friedens der Gemeinschaft willen (1 Kor 6,7). Die deutlichste Weisung ist jedoch das Gebot der Feindesliebe (Mt 5,43ff.), das jedem Freund-Feind-Denken die Grundlage entzieht. (Abschn. 43)
Das Verhältnis zwischen Frieden und Gerechtigkeit wird von der Denkschrift so bestimmt, dass beide sich gegenseitig interpretieren und nicht voneinander getrennt werden können. "Gerechtigkeit" ist im biblischen Zusammenhang so zu verstehen:
Sie ist Kategorie einer sozialen Praxis der Solidarität, die sich – der rettenden Macht Gottes entsprechend – vorrangig den Schwachen und Benachteiligten zuwendet. Die "bessere Gerechtigkeit", von der in der Bergpredigt die Rede ist (Mt 5,20), erfüllt sich letztlich im Gebot der Nächsten-, ja Feindesliebe [...]. Sie befähigt zur Achtung der gleichen personalen Würde jedes Menschen unabhängig von seinen Taten (und Untaten). [...] Eine solche nicht-selbstgerechte Gerechtigkeit ist darauf bedacht, auch berechtigte Ansprüche und Interessen des anderen zu berücksichtigen. (Abschn. 77)
Für den Fall, dass sich Schritte zum Frieden und zur Gerechtigkeit gegenseitig blockieren, schlägt die Denkschrift vor, "durch einseitiges Entgegenkommen und andere vertrauensbildende Maßnahmen solche Blockaden" zu überwinden (Abschn. 80).
Der Begriff der "rechtserhaltenden Gewalt", auf den sich die Ratsvorsitzende bezieht, meint, dass militärische Gewalt als Grenzfall zwar nicht "geboten", aber "erlaubt" und unter engen Voraussetzungen "verantwortbar" sein kann. Aus der Fülle der in der Denkschrift genannten Voraussetzungen seien nur einige genannt: Eine "weltanschauliche Zielsetzung" darf mit dem Gewalteinsatz nicht verbunden sein. Ein eingetretenes Übel darf nicht mit einem noch größeren beantwortet werden; dabei sind auch ökonomische, soziale und ökologische Folgen zu berücksichtigen. Außerdem muss der Gewalteinsatz "aller Voraussicht nach [...] Aussicht auf Erfolg" haben. Aber auch wenn alle Kriterien für den legitimen Einsatz von Gewalt erfüllt sind, sollte nicht von einer "Rechtfertigung" des Gewaltgebrauchs gesprochen, sondern das "Risiko des Schuldigwerdens" bewusst gehalten werden (Abschn. 98.99.102.103).
Ein Vergleich der Aussagen der Denkschrift mit denen der EKD-Ratsvorsitzenden zeigt tiefgreifende Unterschiede. Das ist auch Kurschus offensichtlich bewusst, und deshalb fordert sie – aus Anlass des Krieges in der Ukraine – ein Überdenken der evangelischen Friedensethik der letzten Jahrzehnte. Das überrascht insofern, als ja die Friedensethik nicht für den Frieden gedacht war, sondern für den Kriegsfall – also für den Fall, der jetzt eingetreten ist. Die für den jetzt eingetretenen Fall in Jahrzehnten errungenen christlichen Einsichten kurzerhand vom Tisch zu wischen, ist zumindest problematisch.
Problematisch ist auch, was die Ratsvorsitzende, im Gegensatz zur Friedensdenkschrift, nicht sagt. Sie sagt kein Wort über den christlichen Vorrang der Gewaltfreiheit und über das ethische Gewicht der Feindesliebe. Sie weiß nichts davon zu sagen, dass Krieg niemals ein zureichendes Mittel zum Frieden sein kann, sondern ein Risiko des Schuldigwerdens in sich birgt. Sie spricht nicht von der Wahrung der Würde auch des Feindes und der Berücksichtigung dessen berechtigter Interessen unter Zurückstellung eigener Interessen. Gerade dies hätte deeskalierend wirken können angesichts der emotional aufgeheizten Eskalationsrhetorik und der medialen Dämonisierung des Aggressors.
In einer ersten Stellungnahme vom 24. Februar 2022, also dem Tag des Angriffs auf die Ukraine, hatte die Ratsvorsitzende noch verlauten lassen:
Wir sind überzeugt: Waffengewalt wird Leid und Unrecht nur vergrößern. Auch jetzt darf das diplomatische Gespräch mit Russland nicht abreißen. [...] Wir weigern uns zu glauben, dass keine Chancen mehr auf Verständigung und für einen gerechten Frieden bestehen.
Solche deeskalierenden und der Diplomatie den Vorrang einräumenden Töne sucht man in den jüngeren Stellungnahmen der Ratsvorsitzenden vergebens.
Des weiteren gibt die Ratsvorsitzende nicht zu bedenken, dass auch die westliche Politik, ohne darüber zu sprechen, geopolitische Ziele verfolgt oder zumindest verfolgen könnte. Stattdessen stellt sie Gegengewalt als das einzig mögliche und sogar gebotene Mittel dar. Sie ruft nicht dazu auf, nach Kräften Verhandlungen über einen Waffenstillstand anzustreben, Kompromisse einzugehen und mögliche eigene Fehler der westlichen Politik in der Vergangenheit einzuräumen. Die weitreichenden Einsichten der Friedensdenkschrift kommen in ihren Stellungnahmen praktisch nicht vor. Stattdessen wird das Schlagwort von der "rechtserhaltenden Gewalt" benutzt, ohne deren enge Voraussetzungen auch nur ansatzweise zu erwähnen.
Wenn man vom Recht auf militärische Verteidigung spricht und davon, dass Waffenlieferungen christlich verantwortbar seien, ist es nur noch ein kleiner Schritt hin zum Segnen der Waffen – ein Schritt, den die Ratsvorsitzende gewiss nicht gehen will, der aber naheliegt, wenn man Waffengewalt nicht deutlich als Schuld bezeichnet und den Gedanken unterschlägt, dass der Gewaltverzicht in christlicher Ethik den Vorrang vor der Gewalt genießt.
Immerhin betont Kurschus "die Bedeutung der zivilen Friedensarbeit für die Zeit nach dem Krieg" und verweist auf die Brücken nach Russland hin, die durch die – auch kirchliche – Versöhnungsarbeit entstanden sind (7.6.). Insofern nimmt sie den wichtigen christlichen Aspekt der Vergebung und Versöhnung in den Blick. Außerdem warnt sie vor "gesellschaftlichen Verwerfungen", die durch den Einsatz von 100 Milliarden Euro für Aufrüstung zur Verfügung stehen, während es an anderen Stellen an Geld für Menschen, die durch die Pandemie in finanzielle Notlagen geraten sind, fehle (1.7.). Ein kritisches Moment bleibt also auch in den Stellungnahmen der Ratsvorsitzenden erhalten – wenn auch nur im Blick auf die Zeit nach dem Krieg.
8. Ausblick
Die Christenheit ist offensichtlich gespalten – wie die deutsche Bevölkerung auch. In der Tat gibt es keinen Königsweg, keine Patentlösung. Umso wichtiger ist es, dass um dezidiert christliche Maßstäbe diskutiert und gerungen wird. So könnte deutlich werden, dass der christliche Glaube gerade in schwierigen Situationen etwas zu sagen hat, das über das hinausgeht, was die Welt sowieso schon weiß.
Dazu wäre es allerdings nötig, biblische Aspekte der Friedensethik nicht auszuklammern, wie es die Ratsvorsitzende tut. Ihre Stellungnahmen fallen dadurch auf, dass sie kaum einmal Bezug auf biblische Texte nimmt, wie es die Friedensethik der letzten Jahrzehnte ausführlich getan hat. Sie lehnt sogar konkrete biblische Weisungen für das christliche Handeln ausdrücklich ab, weil es nicht erlaubt sei, "einzelne politische Optionen direkt aus der Bibel abzuleiten" – ein merkwürdiges Verständnis christlicher Ethik. Wenn sie ihre Kriterien nicht aus den biblischen und in der christlichen Tradition erarbeiteten ethischen Weisungen nimmt, dann bleiben nur politische und weltanschauliche Argumente übrig, welche Gesellschaft und Politik immer schon auch ohne die Kirche entwickelt hat, und zwar besser und ausführlicher, als die Kirche es kann.
Wenn es stimmt, dass der Friede Gottes allen Verstand überragt (Phil 4,7), reicht es nicht aus, dass die Christenheit das wiederholt, was Politik und Medien schon zuvor gesagt haben. Etwas mehr prophetischer Geist und prophetischer Verstand darf es schon sein. Ein kirchliches Wort, das lediglich in den allgemein veröffentlichten Mainstream einstimmt, ist überflüssig. Damit aber macht die Kirche sich einmal mehr selbst entbehrlich.
Freilich ist und bleibt unsere Erkenntnis begrenzt – auch die Erkenntnis der Kirche. Keiner weiß, was Putin will und wie weit er gehen wird. Keiner weiß genau, welcher Weg weniger Leid mit sich bringt. Jeder Weg ist mit einem Risiko behaftet. Der alttestamentliche Weise weiß um diese Begrenztheit menschlicher Erkenntnis:
Es gibt keine Weisheit, es gibt keine Einsicht
und es gibt keinen Ratschlag Gott gegenüber.
Ein Ross wird gerüstet für den Tag der Schlacht,
aber die Rettung kommt von Gott.
(Spr 21,30f)
Vertraue auf Gott mit deinem ganzem Herzen,
aber auf deine [eigene] Einsicht stütze dich nicht.
(Spr 3,5)
Das immer neue Nachdenken und Suchen eines guten Weges ist eine christliche Aufgabe, gerade auch in schwierigen ethischen Fragen. Die Gedanken derer, die sich vor uns den Problemen stellten, sind dabei nicht zu vergessen.
Die Rettung aber, und das kann nur der umfassende Friede sein, liegt jenseits unseres Denkens und Handelns. Darum ist das Gebet, das im Vertrauen auf Gott gründet und von ihm die Rettung erwartet, Anfang und Ende des christlichen Nachdenkens und ethischen Handelns. Es ist angesichts der Begrenztheit unserer Einsicht die kritische Instanz gegenüber allen eigenen Erkenntnissen. Darum verbindet die vertrauensvolle Bitte um Rettung alle Christinnen und Christen miteinander – auch und gerade dann, wenn sie zu unterschiedlichen Einsichten gekommen sind.
(Wie die Diskussion um den Ukraine-Krieg innerhalb der evangelischen Kirche weitergegangen ist, kannst du in den beiden Beiträgen Darf ein barmherziger Samariter bewaffnet sein? und "Eine Kultur der Entfeindung schaffen" lesen und hören. Letzterer schildert die weiterentwickelte Sicht der EKD-Ratsvorsitzenden.)
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Grafik: Gerd Altmann auf Pixabay
die Anwendung von Waffen verhindert bisher die Verhandlungen für einen möglichen Frieden und provoziert nur eine weitere Ausweitung des Krieges. Der leider immer noch nicht begonnene Versuch eines Dialogs führt - zumindest am Anfang - kaum zu einer schnellen Beendigung der jetzigen Kriegssituation. Die Lösung des Konflikts liegt in der Zukunft, die noch darauf wartet, gefunden zu werden.
Vielleicht müssen erst beide Konfliktparteien erkennen, daß ein gegenseitig in Aussicht gestellter Frieden für alle mehr Vorteile bringt als ein unter wechselseitigen Drohungen in Aussicht gestellter Jahre lang weiter schwelender Krieg, der allen und weltweit nur Nachteile gebracht hat und weiter bringen wird. Kriege zerstören das Leben und die Zukunft von Menschen, sie bedeuten immer auch das Ende von lebendiger Gegenwart, ihren Hoffnungen und Wünschen. Frieden erinnert immer daran, daß am Ende deren Zeit - so Gott will - kommen wird. Hoffnung war nie aussichtslos - gerade auch nicht in so zerstörerischen Zeiten wir heute.
danke für deine Stellungnahme! Ich stimme dir zu und bedaure sehr, dass gerade von Seiten kirchenleitender Menschen zur Zeit nur wenig von Dialog, Verhandlungen und Hoffnung zu hören ist. Es wäre wohl anders, wenn die politische und veröffentlichte Meinung im Westen sich auf Gewaltverzicht, Verhandlungen und Kompromisse konzentrieren würde. Gar nicht vorstellbar ist, dass dann von Seiten der Kirche Waffenlieferungen und Gegengewalt gefordert würden ...
Was für eine armselige Kirche!
du schreibst, es sei bedauerlich, dass es in der Frage einer Reaktion auf den Ukraine-Krieg keine einheitliche christliche Stellungnahme gebe. Ich halte das für unausweichlich.
Von Jesus wird überliefert, er habe gesagt, sein Reich sei nicht von dieser Welt. Das ergibt Sinn und spiegelt sich auch in vielen anderen Geschichten des Neuen Testaments wieder. Jesus schenkt dem weltlich Gebotenen keinerlei Beachtung. Ein Jünger, der seinen Vater begraben will, wird zurechtgewiesen „Lasst die Toten ihre Toten begraben“. Auf eine organisierte Verpflegung von 5000 Zuhörern kommt es nicht an, irgendwie geht es halt. Die biblische Überlieferung zaubert dann eine Art Wunder aus dem Hut. Einzelne können so agieren, es ist dann vielleicht sogar besonders erfolgreich, aber auf Dauer und für Mehrheiten funktioniert es nicht.
Wenn Jesus sagt, man solle, wenn man geschlagen wird, auch die andere Wange hinhalten, dann kann sich jeder persönlich so verhalten. Es ist eben nur etwas völlig anderes, die Wange anderer hinzuhalten. Jesus selber hat es durchgehalten und ist diesen Weg bis zu seiner Kreuzigung gegangen. Wenn man ihm nachfolgt, kann man Salz der Erde werden. Aber man kann so ganz sicher nicht dafür sorgen, dass ganze Länder in Frieden, Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und bescheidenem Wohlstand leben.
Von daher bin ich der Meinung, dass Christen unvermeidlich zu völlig unterschiedlichen Stellungnahmen und politischen Handlungsempfehlungen im Bezug auf Kriege und andere weltliche Themen kommen. Sie haben nun einmal keine dafür brauchbaren Vorgaben. In meinen besonders friedensbewegten Zeiten fand ich den Helmut Schmidts Konter „Mit der Bergpredigt kann man nicht regieren“ ärgerlich, aber ich musste im Stillen zugeben, dass da etwas dran war.
Heute sage ich: Kirchen haben kein Mandat zur Politikberatung und sollten damit aufhören. Gleiches gilt für politische Predigten von Pfarrern. Das sind für mich die Privatmeinungen gebildeter Menschen, mehr aber nicht. Sie können und sollen auf die Nöte leidender Menschen aufmerksam machen, am besten sogar dazu beitragen, dass diese gelindert werden, aber für das Spiel der weltlichen Macht haben sie keine Lizenz, von Anfang an und von allerhöchster Stelle ausdrücklich nicht.
Viele Grüße
Thomas
ich weiß nicht, ob ich dich richtig verstanden habe: Meinst du, Christinnen und Christen sollten sich aus der Politik heraushalten?
Aber der Reihe nach: Dass Jesus dem weltlich Gebotenen keinerlei Beachtung schenkt, sehe ich nicht. Allein die Bergpredigt spricht da eine andere Sprache. Auch bei der Verpflegung der 5000 kümmert sich Jesus um das, was weltlich geboten ist, nämlich dass alle ausreichend zu Essen haben. Wie er das macht, spielt jetzt gar keine Rolle, jedenfalls kümmert er sich.
Es geht auch nicht darum, die Wange eines anderen hinzuhalten statt der eigenen, denn das wäre mit Gewalt verbunden. Es geht aber sehr wohl darum, das zu bezeugen, was Jesus und das Neue Testament als Liebesethik vorgeben. Andernfalls würde die Kirche sich aus der Welt verabschieden und auf eine reine Innerlichkeit zurückziehen, die mit den Nöten der Menschen in der Welt nichts zu tun haben will. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du das wirklich meinst, und in anderen Stellungnahmen hast du ja auch darauf beharrt, dass die Kirche Verantwortung für Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung und Frieden übernimmt. Das kann aber doch nicht nur für den innerkirchlichen Bereich gelten oder für die persönliche Existenz des Einzelnen, sondern muss auch im gesellschaftlichen und staatlichen Zusammenleben verwirklicht werden. Gottes Reich ist zwar nicht von der Welt, aber in der Welt (und nicht nur in der Kirche oder den einzelnen Christen).
Ich halte den Satz "Mit der Bergpredigt kann man nicht regieren" für verfehlt, weil er einen wesentlichen Bereich des menschlichen Lebens vom christlichen Handeln ausschließt. Es ist vielmehr zu fragen, wie die Ethik der Bergpredigt in jedem konkreten Einzelfall umzusetzen sein könnte und wo sie möglicherweise in einer unerlösten Welt nicht umgesetzt werden kann. Die Mühe solcher Überlegungen muss man sich schon machen, und das habe ich im Artikel versucht.
Dass Christinnen und Christen sich einfach aus der politischen Diskussion zurückziehen, ist sicher der leichtere Weg, aber bestimmt nicht der verantwortlichere. Dagegen spricht nicht nur die Ethik Jesu, sondern dagegen sprachen schon die alttestamentlichen Propheten, die höchst politisch agierten und sich bewusst in die herrschende Politik einmischten.
Falls ich dich jetzt komplett missverstanden habe, kannst du das ja sicher richtigstellen.
Viele Grüße
Klaus
es sind tatsächlich einige Missverständnisse dabei.
Ich meine nicht, dass sich Christen aus der Politik heraushalten sollten. Christen haben das aktive und passive Wahlrecht wie alle anderen auch und sollten davon nach Möglichkeit Gebrauch machen.
Wegen der Speisung der 5000 will ich mich nicht streiten, ob Jesus sich da gekümmert hat oder eben nicht.
Mit dem Hinhalten der Wange eines anderen meine ich selbstverständlich nicht, dass man einen anderen am Schlafittchen packen und dessen Wange hinhalten sollte. Es geht darum, ob man den Stärkeren, im konkreten Fall Russland, gewähren lässt auf Kosten eines anderen, hier der Ukraine.
Rückzug in die Innerlichkeit halte ich auch nicht für richtig. Was ich für richtig halte, ist Glauben im Inneren des Einzelchristen und der Kirche und tätige Nächstenliebe nach außen. Tätige Nächstenliebe im Sinne des barmherzigen Samariters, der nicht etwa Forderungen aufgestellt hat, der Staat müsse sich mehr sozial engagieren, sondern dem unter die Räuber Gefallenen auf eigenes Risiko und eigene Kosten geholfen hat.
Das Alte Testament ist ein weiteres gutes Stichwort. Das Neue Testament geprägt durch die Begegnung von Menschen mit Jesus, das normale Leben kommt relativ zu kurz. Im Alten Testament dagegen tobt das pralle Leben, über viele Generationen und mit vielen Facetten, guten und schlechten. Anders als ihre Auslegung in der Bergpredigt ist die Einhaltung der Zehn Gebote vorstellbar, wenn auch bereits unter Umständen anspruchsvoll. Viele Propheten sind auch politische Führer. Ich hätte da nicht unbedingt jedem (z. B. Jona) in dieser Funktion in die Hände fallen wollen, und ich wünsche mir auch heute keine Gottesstaat, gleich welcher Couleur. Aber unsere Kirchenleitungen sind ja auch keine Propheten oder politischen Anführer, und das ist auch gut so.
Viele Grüße
Thomas
jetzt verstehe ich dich besser. Nur einige Bemerkungen dazu:
Wie jeder Bürger, jede Bürgerin politische Verantwortung trägt, so gilt das auch für Christinnen und Christen. Politische Verantwortung verstehe ich nicht so, dass man alle vier Jahre sein Kreuzchen macht und dazwischen die Klappe hält. Etwas mehr darf es schon sein ...
Tätige Nächstenliebe geht für mich weit über das Ich-Du-Verhältnis hinaus und betrifft z.B. auch die Fernstenliebe, also das Eintreten für diejenigen, die ich gar nicht persönlich kenne, von deren Leid ich aber weiß. Ich denke, es wäre auch nicht zu kritisieren gewesen, wenn der barmherzige Samariter, falls ihm das möglich gewesen wäre, nach seiner persönlichen Nothilfe die "Regierung" aufgefordert hätte, für mehr Sicherheit auf den Straßen zu sorgen, und sich dafür aktiv eingesetzt hätten.
Ich glaube nicht, dass man die Propheten als politische Führer bezeichnen kann. Sie waren eher religiöse Einzelgänger, die aus ihrem Glauben auch politische Folgerungen zogen. Genau das halte ich für richtig. Dass sie einen Gottesstaat errichten wollten, ist mir neu, und es ist, wie du sagst, gut so, dass die Kirchen das nicht anstreben. Die Kirchen verstehen sich eher als mit einem "Wächteramt" (altes Wort dafür) betraut und erinnern den Staat an seine Verantwortung vor Gott. Mehr können und sollen sie nicht tun.
Wie man sich im konkreten Fall des Ukraine-Kriegs verhalten sollte oder könnte, welche kirchlichen Stellungnahmen es dazu gibt und welche Alternativen, davon handelte mein ganzer Artikel. Dabei geht es nicht darum, die Wange des Angegriffenen hinzuhalten, sondern darum, den Konflikt möglichst schnell zu entschärfen und Leid zu vermeiden, damit der Angegriffene gar nicht erst oder möglichst wenig schmerzhaft auf die erste Wange geschlagen wird. Wie schwierig eine solche Entscheidung ist, dass die Meinungen darüber auseinandergehen und wie ich die christliche Friedensethik verstehe, habe ich ebenfalls im Artikel dargelegt.
Viele Grüße
Klaus
Ist das Gespräch bereits beendet? Dann will ich um Entschuldigung bitten. Denn für diesen Fall ist von meiner Seite aus ein Weiterlesen nicht vorgesehen.
@Klaus ::: Du schreibst: "Was für eine armselige Kirche!" - das klingt ein bisschen - wie würde man das richtig sagen? - 'barthianisch', aber eben nur ein bisschen.
Dass "sowohl derjenige, der Waffen liefert, als auch derjenige, der Waffenlieferungen verweigert, Schuld auf sich lädt", ist nicht, wie du schreibst, ein "Bekenntnis", sondern 'bloß' eine erfahrungsgesättigte Diagnose. Diese Erinnerung als Erinnerung an vergeblich zu übersehen gesuchte Umstände braucht man m.E. theologisch begrifflich nicht zu einem "Bekenntnis" hochzustilisieren. Das klingt mir dann doch ein bisschen zu sehr nach "Bekennender Kirche" etc.
Aus meiner Sicht gehört es zwar nicht unbedingt zum Christsein-Verstehen, aber zum Menschsein-Verstehen dazu, das Gebot "Du sollst nicht Töten!" einmal in die Richtung und bis dort zu reflektieren, in die bzw. bis wo es der ehemalige Ratsvorsitzende der EKD, Wolfgang Huber, gewagt hat, in diesen Tagen zu tun. Ob dessen theologische Einsichten schon ausreichend sind für ein gutes Leben hier und jetzt, das zu beurteilen bin ich allerdings weder kompetent noch ermächtigt.
Das war's auch schon.
Freundlicher Gruß
Gerhard
vielen Dank für deinen Kommentar. Das Gespräch ist solange nicht beendet, wie du (oder jemand anders) es fortsetzt!
Ja, ich finde, dass die Kirche dann, wenn sie nur das wiederholt, was andere schon zuvor wussten, ein armseliges Bild abgibt. Ob das "barthianisch" klingt oder nicht, ist mir dabei ziemlich egal - zumal Karl Barth sich ja gar keine Barthianer gewünscht hat.
Mir geht es auch gar nicht so sehr um den Begriff "Bekenntnis". Mit "erfahrungsgesättigter Diagnose" bin ich auch einverstanden. Wenn ich von Schuld rede, meine ich natürlich Schuld im christlichen Sinne. Insofern geht es dann um eine erfahrungsgesättigte christliche Diagnose.
Mich würde interessieren, was Wolfgang Huber zum Gebot "Du sollst nicht töten" gesagt hat. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, er hat sich nicht gegen Waffenlieferungen ausgesprochen. Wie versteht er dann das Gebot "Du sollst nicht töten"?
Viele Grüße
Klaus
apropos Wächteramt. Von wem mit diesem Amt betraut und von wem bezahlt? Der Begriff klingt für mich etwas nach beamteten Glaubenswächtern, letztlich aber einfach veraltet.
Im Übrigen kann der Staat als abstraktes Gebildete keine Verantwortung vor Gott haben, nur die Personen, die für den Staat tätig sind, können eine solche empfinden, soweit sie gläubig sind und sich dieser Glaube auf Jahwe, den christlichen Gott oder bei weiterer Interpretation auch Allah bezieht.
Mir war so, dass auch im Grundgesetz von einer Verwortung vor Gott die Rede ist. Ich habe nachgesehen. In der Präambel ist von dem deutschen Volk die Rede, dass sich im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen dieses Grundgesetz gegeben habe. Das passt dann wieder, jedenfalls historisch, weil letztlich Menschen Verantwortungsträger sind.
Heute, wo weniger als 50 % einer der großen Kirchen angehören und wahrscheinlich noch einmal weniger überhaupt ernsthaft gläubig sind, würde man das wohl trotzdem nicht mehr so formulieren. Der derzeitige Bundeskanzler Olaf Scholz hat in seinem Amtseid auch auf die Formel "so wahr mir Gott helfe" verzichtet.
Die Kirchen müssen ihre Rolle in der Gesellschaft zurzeit wohl neu finden oder aber zugewiesen bekommen.
Viele Grüße
Thomas
danke für deine Ergänzungen. Der alte Begriff "Wächteramt" gefällt mir auch nicht, viel besser gefällt mir da die Formulierung der 5. Barmer These:
Die Schrift sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen.
Die Kirche erkennt mit Dank und Ehrfurcht gegen Gott die Wohltat dieser seiner Anordnungen an. Sie erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten. Sie vertraut und gehorcht der Kraft des Wortes, durch das Gott alle Dinge trägt.
Ich finde, das "Erinnern" der Regierenden und Regierten an ihre Verantwortung vor Gott ist eine gute Formulierung für das, was die Kirchen tun können - nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Dass diese Verantwortung vor Gott auch im Grundgesetz festgehalten ist, spricht doch für die Wichtigkeit dieser kirchlichen Aufgabe. Ich gebe dir recht: In einem heute formulierten Grundgesetz würde diese Formulierung wohl kaum noch einen Platz haben. Aber auch dann müssten die Kirchen ihrer Aufgabe doch nachkommen - auch ohne Unterstützung durch die Verfassung -, denn dieses Erinnern ist ja nichts anderes als das Bezeugen dessen, was Christinnen und Christen als Aufgabe des Staates erkannt haben: dass er nicht nur sich selbst, der Bevölkerung oder der Weltgemeinschaft gegenüber Verantwortung trägt, sondern vor allem Gott gegenüber. Gerade dann, wenn die Regierenden und Regierten in der Mehrzahl darum nicht mehr wissen, ist dieses Erinnern besonders wichtig.
Ob dieses Erinnern wahrgenommen oder ernst genommen wird, ist eine ganz andere Frage. Darum ist es sicher nicht besonders gut bestellt. Das entbindet aber nicht von der Aufgabe, es zu tun.
Viele Grüße
Klaus