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Der General und die Feindesliebe

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Veröffentlicht von in Theologie aktuell · 1 Mai 2022
Tags: UkraineKriegFriedeGewaltFeindesliebePolitikEthik

T h e o l o g i e   a k t u e l l
Der General und die Feindesliebe
Klaus Straßburg | 01/05/2022

Der General hat nicht von der Feindesliebe gesprochen. Er hat das Wort nicht in den Mund genommen. Ich weiß noch nicht einmal, ob ihm Feindesliebe etwas bedeutet und ob er sich als Christ versteht. Ich weiß überhaupt nicht viel über ihn. Nur was er gesagt hat, habe ich gelesen. Und daraus geht hervor, dass die Feindesliebe nicht nur einem christlichen Ideal entspricht, sondern auch politischer Vernunft.

Ich spreche von Brigadegeneral a.D. Erich Vad. Seine Äußerungen zum Ukraine-Krieg sind im Merkur nachzulesen.


Zwei Arten der Liebe

Feindesliebe hat nichts mit Sympathie zu tun. Ich muss den Feind nicht mögen oder gar liebhaben. Ich muss auch nicht gutheißen, was er tut. Ich kann es sogar für verabscheuungswürdig halten. Und dennoch kann ich ihn als geliebtes Geschöpf Gottes respektieren.

Die christliche Tradition unterscheidet zwei Liebesbegriffe: den Eros und die Agape. Der Eros ist die Liebe, die sich für eine Sache oder einen Menschen begeistert, für etwas oder jemanden, der meine Sehnsucht erfüllt. Das Verliebtsein ist die bekannteste Form des Eros.

Die Agape ist die Liebe, die der christlichen Nächstenliebe entspricht. Das griechische Wort agápe wurde erst durch das Neue Testament zu einem häufig und weltweit benutzten Begriff. Die Agape ist die uneigennützige Liebe, die auch dem unsympathischen und bösen Menschen gilt.

Bei der Feindesliebe geht es nicht um den Eros, sondern um die Agape. Wenn ich den Feind liebe, bin ich nicht begeistert von ihm oder seinen Taten. Ich fühle mich nicht angezogen von ihm, sondern sogar abgestoßen. Er ist nicht mein Freund, sondern mein Feind. Ich liebe nicht das Böse, das er tut; aber ich respektiere ihn dennoch als einen von Gott geliebten Menschen.

Wie sieht das nun konkret aus? Ich nenne drei Konkretionen der Feindesliebe.


Die erste Konkretion der Feindesliebe: Für den Feind beten

Dem Evangelisten Matthäus zufolge hat Jesus so von der Feindesliebe gesprochen (Mt 5,43-48):

Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde und bittet für die, welche euch verfolgen, damit ihr Söhne [und Töchter] eures Vaters in den Himmeln seid! Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Denn wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, was habt ihr für einen Lohn? Tun nicht auch die Zöllner dasselbe? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr Besonderes? Tun nicht auch die Heiden dasselbe?

Die erste Konkretion der Feindesliebe ist das Beten für die Feinde. Lukas spricht in seinem Evangelium nicht nur vom Beten, sondern auch vom Segnen und davon, den Feinden Gutes zu tun (Lk 6,27f). Die Begründung für die Feindesliebe besteht darin, dass Gott allen Menschen, auch den Bösen, Gutes tut, dass er sie mit Gutem segnet. Entsprechend sollen wir es tun: ihnen Gutes tun und sie segnen bzw. Gott um seinen Segen für sie bitten.

Das Gebet für den Feind führt dazu, dass wir ihn in einem besonderen Licht sehen: Der Feind wird nicht auf das Böse, das er tut, festgelegt. Das Böse wird zwar nicht geleugnet, aber wir bitten darum, dass Gott ihn zum Guten bewegen möge. Wir geben ihn nicht auf, sondern trauen ihm die Umkehr zu. Wir sehen den Feind als ein Kind Gottes, das sich verirrt hat, aber in Gottes Hand ist. Wir ersehnen eine Veränderung, die durch den Gott herbeigeführt wird, der auch den Bösen nicht aufgegeben hat, sondern ihm gnädig ist und ihn zur Umkehr bewegen will.

Das ist eine christliche Sichtweise. Darum grenzt sie Matthäus scharf gegen die Sichtweise der Ungläubigen und der Übeltäter ab. Heiden und Zöllner können diese Sichtweise nicht teilen. Sie haben andere Maßstäbe, weil sie ihr Handeln nicht vom gnädigen Gott her begründen. Das gilt heute wie damals.

Wer nicht an Gott glaubt, wird nicht für den Feind beten. Und er wird nicht auf ein Einwirken Gottes auf ihn hoffen. Er wird vielleicht den Feind hassen und ihn für unverbesserlich halten. Es gibt tatsächlich keine Garantie dafür, dass der Feind von seinem Weg des Bösen umkehren wird. Denn er kann sich der Wirksamkeit Gottes beharrlich widersetzen.

General Vad sprach nicht vom Beten für den Feind. Er war ganz auf seine politische und militärische Erfahrung konzentriert. Das Beten hat in einem säkularen Staat seinen Platz in der Religion, nicht in der Politik. Aber für Christinnen und Christen ist es eine erste und grundlegende Konkretion ihrer Feindesliebe. Denn wer für einen Menschen betet, wird sich, wenn es ihm ernst mit seinem Gebet ist, auch anders ihm gegenüber verhalten als jemand, der nicht für ihn betet.


Die zweite Konkretion der Feindesliebe: Sich in den Feind hineinversetzen

Jemanden lieben wird im Alten Testament oft mit der Formulierung „ihn erkennen" wiedergegeben. "Adam erkannte sein Weib Eva", heißt es beispielsweise in 1Mo/Gen 4,1. Gemeint ist die sexuelle Vereinigung, die aber immer im Zusammenhang mit der Liebe, mit der Agape zweier Menschen zu verstehen ist.

Was hat aber die Liebe zweier Menschen mit dem Erkennen zu tun? Erkenntnis war nach der Vorstellung der griechischen Philosophie nur möglich, wenn man einen Gegenstand oder Menschen aus der Distanz heraus beobachtete, sozusagen als neutraler und objektiver Beobachter. Wir verstehen bis heute Erkenntnis in dieser Weise: Ein Mensch steht dem Gegenstand, den er erkennen will, gegenüber, um ihn aus der "objektiven" Distanz heraus wahrzunehmen.

Die hebräische und dann auch biblische Vorstellung von Erkenntnis ist eine grundlegend andere: Nicht aus der Distanz heraus, sondern aus der Nähe heraus wird Erkenntnis möglich. Ich erkenne einen Gegenstand oder einen Menschen nur, wenn ich eine positive Beziehung zu ihm entwickle, wenn ich mich in ihn einfühle und sein Wesen nachempfinde. Es geht nicht um objektive Distanz, sondern um subjektive Nähe.

Deshalb gilt: Einen Menschen in der Tiefe seines Wesens zu erkennen, ist nur möglich, wenn man ihm liebevoll begegnet – im Sinne der Agape-Liebe. Nur die Agape erkennt einen Menschen als den, der er in seinem Wesen ist: ein Mensch mit seiner ihm eigenen Vorgeschichte, mit seinen Erfolgen und Kränkungen, mit all seinen förderlichen und verderblichen Beziehungen; ein Täter des Guten und des Bösen und in alldem ein geliebtes Kind Gottes. Wenn ich einen Menschen liebe, nehme ich also auch wahr, wie ein Mensch zu dem geworden ist, der er ist. Und ich nehme wahr, welchen Anteil andere Menschen und auch ich selbst daran habe, dass er so geworden ist, wie er ist.

Zur Liebe gehört also auch, die Schuld für eine Konfliktsituation nicht ausschließlich beim anderen zu suchen, sondern auch bei mir selbst. Eine gedeihliche Beziehung kann erst dann entstehen, wenn ich meine eigene Schuld an einem Konflikt wahrgenommen und eingestanden habe. Danach kann ich mich dann auch der Schuld des Gegenübers widmen. Durch ein solches Vorgehen wird der Konflikt entschärft.

Jesus hat genau diese Vorgehensweise empfohlen, als er sagte (Mt 7,3-5):

Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, den Balken in deinem Auge aber nimmst du nicht wahr? Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Halt, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen; und siehe, in deinem eigenen Auge ist der Balken? Du Heuchler, ziehe zuerst den Balken aus deinem Auge, und dann magst du zusehen, dass du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst.

Was hat das alles mit dem Ukraine-Krieg zu tun?

Was in persönlichen Konflikten die Beziehung stabilisiert, wirkt auch im Verhältnis von Staaten zueinander deeskalierend. General Vad hat das offensichtlich erkannt. Er wandte sich gegen die westliche Sprachregelung, die dem russischen Präsidenten quasi das Menschsein abspreche und ihn zum krankhaften Despoten abstemple, mit dem man nicht mehr reden könne.

Wir machen im Moment sehr viel Kriegsrhetorik – aus guter gesinnungsethischer Absicht. Aber der Weg in die Hölle ist bekanntlich immer mit guten Vorsätzen gepflastert. Wir müssen den laufenden Krieg zwischen Russland und der Ukraine vom Ende her denken. Wenn wir den Dritten Weltkrieg nicht wollen, müssen wir früher oder später aus dieser militärischen Eskalationslogik raus und Verhandlungen aufnehmen.

Natürlich hat die Eskalation mit dem Krieg begonnen, den der russische Präsident zu verantworten hat. Die Frage für uns ist jedoch, wie man klug auf eine solche Eskalation antwortet. Die Eskalation immer weiter nach oben zu treiben, so dass sie in einen Weltkrieg zu münden droht, kann man sicher nicht als klug bezeichnen. Also muss man versuchen, die Situation zu deeskalieren.

Die Eskalation beginnt bereits mit der Sprache. Wladimir Putin wird von westlicher Seite wahlweise als irrational, unberechenbar, ideologisch verirrt oder krank bezeichnet. Er allein trage die Schuld an diesem Krieg. Diese Summierung erinnert an das personifizierte Böse. Das personifizierte Böse ist aber theologisch der Teufel.

Dass Menschen dämonisiert werden, ist nichts Neues. Es hilft aber nicht weiter und widerspricht der christlichen Vorstellung vom Menschen. Denn auch der böseste Mensch verliert durch seine Taten nicht sein Menschsein. Er bleibt ein geliebtes Geschöpf Gottes, geschaffen als Mensch und mit der Möglichkeit, von seinem bösen Weg umzukehren.

Der Teufel aber kann nicht umkehren. Er ist unverbesserlich böse, ein für allemal auf das Böse festgelegt. Mit dem Teufel kann man darum auch nicht verhandeln; ihn kann man nur bekämpfen. Für den Teufel kann man auch nicht beten, weil eine Sinnesänderung für ihn unmöglich ist. Das Beten für den Feind gehört aber zum Gebot der Feindesliebe. Darum darf der Feind nicht dämonisiert werden.

Es ist bemerkenswert, dass Vad die westliche Kriegsrhetorik einer gesinnungsethischen Haltung zurechnet. Er drückt damit aus, dass die Politik damit einer Gesinnung der Abschreckung folgt, ohne die möglicherweise verheerenden Folgen ihres Handelns ausreichend zu bedenken. Denn Gesinnungsethik nennt man gemeinhin eine Ethik, die eine gute Gesinnung, eine gute Absicht verwirklichen will, ohne sich viele Gedanken darüber zu machen, ob die Mittel und Folgen des eigenen Handelns in einer bösartigen Welt überhaupt zum Ziel führen können. Es kommt sozusagen allein auf die gute Gesinnung und die gute Tat an. Wenn das Gute sich trotzdem nicht einstellt, sind die bösen Mitmenschen Schuld daran.

Eine solche Ethik wurde meist den Anhängern der Friedensbewegung unterstellt, die sich angeblich über die Unfriedlichkeit von Staatslenkern keine Gedanken machte, sondern nur ihre friedliche Gesinnung durchsetzen wollte. Dem stellte man die Verantwortungsethik gegenüber, die um die Bösartigkeit der Welt weiß und deshalb ihr Handeln so gestaltet, dass der unfriedliche Mitmensch sich nicht durchsetzen kann. Zu diesem Zweck nimmt es die Verantwortungsethik in Kauf, auch etwas zu tun, was eigentlich nicht der guten Gesinnung entspricht, aber in einer bösartigen Welt unerlässlich ist. Die These ist, dass eine verantwortliche Politik zum Beispiel auch bereit sein muss, Gewalt auszuüben, um das gute Ziel zu erreichen.

General Vad ist offensichtlich der Meinung, die gegenwärtige Rhetorik westlicher Politik folge zwar guten Vorsätzen, bedenke aber nicht, wie durch die vorangetriebene Eskalation ein Weltkrieg vermieden und ein Ende des Krieges erreicht werden könne. Dies aber muss doch das erste Ziel sein, und zwar auch nach Jesu Gebot der Nächsten- und Feindesliebe.

Zur Entschärfung des Konflikts trägt es auch bei, wenn eigene Fehler eingestanden werden – wie Jesus es in seinem Gleichnis vom Splitter und Balken anschaulich beschrieb. Namhafte US-amerikanische und westliche Politiker haben darauf hingewiesen, dass der Westen in den letzten Jahrzehnten im Verhältnis zu Russland massive Fehler gemacht habe. Beispielhaft seien genannt der amerikanische Diplomat und Historiker George F. Kennan sowie die Deutschen Wolfgang Ischinger, Horst Teltschik und NATO-General a.D. Harald Kujat. Um welche Fehler es dabei geht, ist nicht Thema dieses Beitrags. Es ist aber leicht, sich im Internet selber zu informieren, und die genannten Namen können bei der Suche behilflich sein. Sehr interessant sind in diesem Zusammenhang auch die Beiträge des ZDF-Magazins frontal vom 16.02.2022 und der ARD-Sendung Panorama vom 30.01.2015.

Gegenwärtig wird auch oft auf die besondere Grausamkeit russischer Kriegsführung in der Ukraine verwiesen. General Vad sagte dazu, der Krieg sei zwar völkerrechtswidrig und furchtbar, aber er stehe doch in einer Reihe mit vergleichbaren Kriegen jüngeren Datums. Die vielen Toten Zivilisten und die Massaker seien nicht außergewöhnlich. Im Irakkrieg von 2003 seien Hunderttausende von Zivilisten getötet worden.

Irak, Syrien, Libyen, Afghanistan - so neu ist das alles nicht. [...] Im Krieg werden Unschuldige getötet. So ist der Krieg. Das ist leider systemimmanent. [Mit dem Irak-Krieg von 2003] verglichen, fällt Putin nicht aus dem Rahmen. Hier muss man die Kirche im Dorf lassen – so erschütternd die Bilder auch sind. [...] So schrecklich [die Zerstörung einer Geburtsklinik] ist, aber das und die Inkaufnahme tausender toter Zivilisten hatten wir im Irak, in Libyen, in Afghanistan genauso.

Im Vergleich mit dem Irak oder Afghanistan sei die Anzahl getöteter Zivilisten in der Ukraine bisher sogar weitaus geringer, sagte Vad. Diese Feststellung rechtfertigt keinesfalls das Töten von Zivilisten. Aber es setzt ein Fragezeichen hinter die westliche Darstellung, in der Ukraine werde mit besonderer Härte und Brutalität vorgegangen.

Vad fügt an, dem russischen Präsidenten werde vorgeworfen, dass er die Ukraine und die Krim zur geopolitischen Einflusssphäre Russlands rechne.

Doch für die Amerikaner gilt bis heute die Monroe-Doktrin, die besagt, dass auf dem amerikanischen Kontinent keine Interventionen fremder Mächte geduldet werden. Und die Karibik ist sicherlich auch eine Einflusssphäre, nicht erst seit der Kuba-Krise. Auch wenn man in guter Absicht die Demokratisierung der Welt vorantreiben wolle, gehe es faktisch und machtpolitisch immer auch um das Ausdehnen von Einflusssphären.

Das bestätigt ein Wort Egon Bahrs, des Mitbegründers der Entspannungspolitik unter Willy Brandt, aus dem Jahr 2013:

In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten.

Das Interesse der USA ist es, dass keine fremde Macht auf dem amerikanischen Kontinent Fuß fasst. Sie haben deshalb bereits vielfach in die Entwicklung lateinamerikanischer Staaten eingegriffen, wenn diese ihnen unliebsam war. Sie zählen den ganzen Kontinent zu ihrer geopolitischen Einflusssphäre. Dass Russland geopolitische Interessen in Europa hat, wird aber offensichtlich nicht anerkannt.

Es geht in der Feindesliebe nicht darum, Russlands Angriff auf die Ukraine zu rechtfertigen. Es geht aber darum, den Krieg so schnell wie möglich durch Verhandlungen zu beenden. Solchen Verhandlungen dient es, die letzten 30 Jahre einmal aus der russischen Perspektive in den Blick zu nehmen und erst danach über die russische Politik zu urteilen. Populär geworden ist diese Vorgehensweise bei uns durch ein angebliches Wort der nordamerikanischen Indianer, das in verschiedenen Versionen überliefert wird:

Wenn du nicht 1000 Meilen in den Mokassins des anderen gegangen bist, hast du kein Recht, über ihn zu urteilen.

Dasselbe brachte der jüdische Rabbi Hillel so zum Ausdruck (Mischna Awot II,5):

Richte deinen Nächsten nicht, bevor du selbst in seine Lage gekommen bist.

Was Jesus mit seinem Gebot der Feindesliebe wollte, erscheint mir vor diesem Hintergrund nicht als ein frommer Wunsch oder eine aus der Welt gefallene Anordnung eines religiösen Einzelgängers, sondern als vernünftige Vorgehensweise. Ein gedeihliches Miteinander kann es nur geben, wenn man den eigenen Standpunkt nicht absolut setzt, sondern bereit ist, ihn zu verlassen und die Welt – zumindest versuchsweise – einmal mit den Augen des anderen zu sehen. Anders kommen Menschen nicht zusammen.


Die dritte Konkretion der Feindesliebe: Keine Gegengewalt anwenden

Wie wird die Gewaltspirale überwunden? Indem einer den Anfang macht und ein Risiko eingeht. Der Anfang besteht darin, Gewalt nicht mit Gegengewalt zu beantworten. Davon zeugen folgende Worte Jesu (Mt 5,38-41):

Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich aber sage euch, dass ihr dem Bösen nicht widerstehen sollt; sondern wer dich auf die rechte Backe schlägt, dem biete auch die andere dar, und dem, der gegen dich den Richter anruft und dir den Rock nehmen will, dem lass auch den Mantel, und wer dich nötigt, eine Meile weit zu gehen, mit dem gehe zwei!

Das Risiko besteht darin, dass das eigene Leid sich vergrößert. Wer die andere Backe hinhält, muss damit rechnen, dass der Feind ein zweites Mal zuschlägt.

Eigentlich würde es ja ausreichen, nicht zurückzuschlagen. Warum also die andere Backe hinhalten? Warum zwei Meilen mitgehen, wenn nur eine gefordert ist? Vielleicht um der Gewalt den Wind aus den Segeln zu nehmen? Um die Logik der Gewalt zu unterlaufen, indem man zeigt, dass man sie zu ertragen bereit ist? Ich weiß es nicht. Beschränken wir uns darauf, nicht zurückzuschlagen.

Der Verzicht auf Gegengewalt fügt nicht nur dem Feind kein Leid zu, sondern kann unter Umständen auch das eigene Leid reduzieren. Wie der Krieg zeigt, bedeutet Gegengewalt immer unsägliches Leid auf beiden Seiten. Der Verzicht auf Gegengewalt bedeutet freilich nicht, dass man nichts mehr zu erleiden hätte. Unter einer diktatorischen Fremdherrschaft zu leben, bringt auch Leid mit sich. Um das Leiden kommt also der Angegriffene nicht herum.

Auch wer liebt, kommt um das Leiden nicht herum. Die Agape-Liebe nimmt eigenes Leid in Kauf, um dem Feind kein Leid zuzufügen. Es geht in ihr eben nicht um ein gutes Gefühl oder den Traum eines leidfreien Lebens. Leiden gehört zum Leben dessen, der liebt. Dieser Gedanke ist uns Wohlstandsmenschen fremd geworden. Bei uns gilt es, Leid soweit wie möglich zu vermeiden. Und wenn es schon auftritt, muss es schnellstmöglich abgestellt werden. Die Pille, die den Schmerz nimmt, ist Symbol des erstrebten leidfreien Lebens.

Wer zum Leiden bereit ist, wer das Risiko auf sich nimmt, wer den ersten Schritt auf den Feind zu tut, ist in der Lage, mit ihm in Verhandlungen einzutreten, ohne dass auf beiden Seiten weiteres Leid geschieht. General Vad sah gute Chancen auf Verhandlungen nach dem Abzug der russischen Truppen aus dem Raum Kiew. Denn Russland hat offenbar seinen Plan eines Regimewechsels in der Ukraine aufgegeben:

Deshalb stehen die Chancen für Verhandlungen eigentlich nicht schlecht. Beide Seiten könnten gesichtswahrend da rauskommen. Die Ukrainer haben bewiesen, dass sie ihre Hauptstadt Kiew wirksam verteidigt haben und darüber hinaus einen erfolgreichen Abwehrkampf führen gegen einen überlegenen Gegner. Die Russen wiederum haben einige Landgewinne im Osten und an der Schwarzmeerküste erzielt. Das sind nicht die schlechtesten Voraussetzungen für Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen und für beide Seiten besser, als sich weiter in den Sumpf eines langen Krieges mit ungewissem Ausgang ziehen zu lassen.

Ob Russland sich auf Verhandlungen eingelassen und mit ihren Landgewinnen zufrieden gegeben hätte, ist eine offene Frage. Die Ukraine jedenfalls scheint nicht gewillt, Gebiete an Russland abzutreten. Offen ist aber, ob daraus letztlich ein Vorteil für die Ukraine entsteht oder nicht.

Denn die Militärexpertin Florence Gaub gab bei Markus Lanz am 12.04.22 zu bedenken (ab Min. 55:50), dass einer Untersuchung zufolge Verhandlungslösungen nach einem jahrelangen Krieg fast unverändert gegenüber Lösungen sind, die man schon zu Beginn des Krieges hätte haben können, die also schon in der allerersten Verhandlungsrunde als Angebot auf dem Tisch lagen. Als Beispiel führt sie den libanesischen Bürgerkrieg an, der 15 Jahre dauerte. Am Ende gab es das Ergebnis, das man schon am Anfang hätte haben können. Auch das verdeutlicht die Absurdität von Kriegen.

Die Politik hat sich entschlossen, nicht in Verhandlungen einzutreten, sondern schwere Waffen an die Ukraine zu liefern. Damit ist der Weg zu Verhandlungen wohl vorerst versperrt. General Vad warnt vor der Lieferung schwerer Waffen, weil sie potentiell ein "Weg in den Dritten Weltkrieg" seien.

Die Gefahr ist real. Ein Weltkrieg wird offensichtlich auch vom Westen in Kauf genommen. Keiner will ihn, und doch kann er "passieren". So war es schon immer. So taumelt man Schritt für Schritt in den Abgrund.

Vielleicht wusste Jesus um den Abgrund, in den jene stürzen, die nicht aus der Gewaltspirale aussteigen. Vielleicht wusste er darum, dass sich das Leid durch Gegengewalt nicht verringert, sondern potenziert – auch auf Seiten dessen, der Gegengewalt anwendet (Mt 26,52f):

Stecke dein Schwert an seinen Ort! Denn alle, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen. Oder meinst du, dass ich nicht meinen Vater bitten könnte, und er würde mir sogleich mehr als zwölf Legionen Engel zur Seite stellen?

Das sagte Jesus seinem Jünger, der dem Knecht des Hohenpriesters bei seiner Gefangennahme ein Ohr abhieb. Die Gewalt fällt demnach auf den, der sie anwendet, zurück. Jesus geht stattdessen bewusst den Weg des Leids, obwohl er die Möglichkeit gehabt hätte, sich ihm durch Gegengewalt zu entziehen.


Von Pazifismus, Angst und Erdverbundenheit

Es mag widersprüchlich erscheinen, wenn ich nach alldem sage, dass ich die gewaltsame Abwehr eines Angriffs in extremen Ausnahmefällen und unter sehr strengen Bedingungen für ethisch vertretbar halte. Im Alten Testament wird von Kriegen berichtet, in denen Gott selbst als Feldherr auftritt. Das macht den Krieg nicht besser, aber es macht deutlich, dass wir in einer unerlösten Welt manchmal nur die Wahl zwischen Schuld und Schuld haben.

Strukturen einer gewaltfreien Verteidigung wurden leider nicht aufgebaut. Ihnen würde ich den Vorzug geben. Weil diese aber zur Zeit nicht bestehen, halte ich Gewalt zum Beispiel für unumgänglich gegen ein Gebilde wie den sogenannten IS (Islamischen Staat) oder gegen ein Regime wie den Hitler-Staat. Gegen den Anspruch, die totalitäre Weltherrschaft zu erringen oder einen Völkermord zu inszenieren, muss man mitunter mit Gewalt angehen und Schuld auf sich laden. Eine solche Situation sehe ich aber im konkreten Ukraine-Konflikt nicht.

Hingegen macht es mir Angst, wenn ich höre, wie leichtfertig heute von einem Weltkrieg gesprochen wird. Der gehört für manche offensichtlich schon zum politischen Kalkül – auch wenn ihn keiner will. Wissen diejenigen eigentlich, wovon sie reden, wenn sie das Wort "Weltkrieg" in den Mund nehmen? Manche tun so, als bestehe die Gefahr gar nicht – vor allem dann nicht, wenn wir noch mehr und noch schwerere Waffen an die Ukraine liefern. Dann werde der Aggressor sich schon geschlagen geben. Mir erscheint das weltfremd.

Gestern Abend lief auf phoenix eine Sendung mit dem Untertitel "Deutschland und der Atomkrieg". Der Titel der Sendung lautete: "Der große Knall". Also so etwas wie der "Urknall", the big bang, mit dem die Entwicklung hin zum Leben auf unserem Planeten begann. Ist das eine groteske Verniedlichung oder eine bewusste Volksverdummung?

Ich glaube übrigens, dass auch die "Hardliner" Angst haben. Sie kompensieren ihre Angst aber damit, dass sie militärische Stärke zeigen. Nur Gegengewalt und die Lieferung von immer mehr Waffen könne vor Schlimmerem bewahren, betonen sie. Ich würde mich freuen, wenn sie recht behalten würden. Allein, mir fehlt der Glaube ...

Ich jedenfalls kann Jesu Gebot nicht ausklammern. Gerade angesichts des Grauens nicht, das der Krieg jetzt schon bringt. Und schon gar nicht angesichts des Grauens, von dem man spricht, wenn man leichtfertig das Wort "Weltkrieg" in den Mund nimmt – als gehöre er zu einer denkbaren und diskutierbaren Möglichkeit.

Ist es der Verlust einiger ukrainischer Gebiete wert, einen Weltkrieg zu führen? Muss man nicht rechtzeitig, bevor es zu spät ist, auf die Bremse treten? Wenn Jesus um die Gefahren einer Gewaltspirale wusste (Kriege und Intrigen gab es um seine Lebenszeit herum genug im Römischen Reich), dann wollte er uns den guten Rat geben, sie tunlichst zu vermeiden. Insofern ist sein Gebot höchst rational.

Ich habe Jesu Gebot der Feindesliebe neben die Äußerungen des Generals Vad gestellt, weil diese Nebeneinanderstellung zeigt, dass Jesu Ethik keineswegs realitätsfern ist, sondern (unter anderem) von politischer Rationalität gekennzeichnet ist. Andere Generäle mögen die Lage anders beurteilen. Aber dass eine politische und militärische Beurteilung wie die von Vad nicht einfach abwegig ist, zeigt doch, dass Jesus nicht ins Blaue hinein fromme Luftschlösser baute. Sein Gebot war zutiefst erdverbunden.

Brigadegeneral a.D. Erich Vad ist übrigens nicht irgendein General. Er ist CDU-Mitglied und war langjähriger militärischer Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel.


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2 Kommentare
2022-05-02 15:26:45
Eigentlich gebe ich viel auf die Einschätzung eines Mannes wie Erich Vad. Aber in der Einschätzung des Kriegs Russlands gegen die Ukraine hat er in letzter Zeit bereits mehrfach daneben gelegen:

"Am 24. Februar 2022 erklärte Vad bei einer Sondersendung der politischen Talkshow Maybrit Illner zu den Aussichten des Widerstands gegen die Invasion: „Militärisch gesehen ist die Sache gelaufen. Und meine Bewertung ist, dass es nur um ein paar Tage gehen wird und nicht mehr.“ Dies gelte aber nur, wenn Putin „nicht den Schritt in die Westukraine“ vollziehe. Dann sei „mit massivem Widerstand zu rechnen.“ In diesem Fall könne es einen langwierigen „Guerillakrieg im Stile Afghanistan“ geben.[11]

Anfang März 2022 äußerte Vad, perspektivisch bestehe für die ukrainischen Truppen keine Aussicht darauf, sich dauerhaft gegen die russischen Truppen durchzusetzen. Aus militärischer Sicht sei es sinnvoller, „den ukrainischen Widerstand in den Westen der Ukraine zu ziehen“, wo die Versorgung einfacher sei. Kämpfe um Städte wie Kiew hätten reinen Symbolcharakter. Die russische Strategie im Ukraine-Krieg sei es, die großen urbanen Zentren einzukesseln und viele Flüchtende hinauszulassen. „Die Russen gehen in diese Städte punktuell rein, um regierungswichtige Gebäude, militärische Infastruktur zu neutralisieren.“ Dies sei die Strategie der Russen, mit der sie sich auch Zeit ließen.[12]

Im April 2022 ging Vad davon aus, die Zerstörung der Geburtsklinik in Mariupol sei „nicht Putins Absicht gewesen“, und verglich den Tod von Zivilisten im Ukrainekrieg mit Kriegen wie im Irak, in Libyen und Afghanistan, bei denen es immer sogenannte Kollateralschäden gebe.[13][14]

Nach seiner Fehleinschätzung zum Beginn des Angriffs gestand er zu: „Die Ukrainer haben bewiesen, dass sie ihre Hauptstadt Kiew wirksam verteidigt haben und darüber hinaus einen erfolgreichen Abwehrkampf führen gegen einen überlegenen Gegner. Die Russen wiederum haben einige Landgewinne im Osten und an der Schwarzmeerküste erzielt.“[15]"

https://de.wikipedia.org/wiki/Erich_Vad

Das soll nicht heißen, dass ich es selber besser eingeschätzt hätte. Auch ich habe anfangs gedacht, dass es sich um eine Sache von mehreren Tagen handeln würde.
2022-05-02 20:43:56
Hallo Thomas,

was du unter den Punkten [11] und [12] beschreibst, war eine Fehleinschätzung, die Vad eingestanden hat und die viele andere Experten und Nicht-Experten (wie wir beide) mit ihm geteilt haben. Die Punkte [13] bis [15] sind keine Fehleinschätzungen, sondern Einschätzungen, die mir einleuchten (ausgenommen die Rede von Putins Absicht, über die wir nichts wissen) und die ich teilweise in meinem Artikel zitiert habe. Aus Punkt [15] zieht Vad den Schluss, dass der Zeitpunkt für Waffenstillstandsverhandlungen nach dem russischen Rückzug aus dem Umfeld von Kiew geeignet gewesen sei. Das erscheint mir logisch.

Die schwierige (oder gar nicht schwierige, sondern von uns leidensunwilligen Menschen für schwierig erklärte?) Frage bleibt, ob der Friedensethik Jesu eher Waffenstillstandsverhandlungen entsprechen würden oder ein aufreibender und vielleicht lange andauernder Stellungskrieg mit vielen Toten, Verwundeten und Traumatisierten im Süden und Osten der Ukraine.

Viele Grüße
Klaus

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