Der fromme Zweifler Abraham
Eine biblische Religionskritik
Klaus Straßburg | 14/09/2023
Es gibt fromme Menschen, die keinen Glaubenszweifel zu kennen scheinen. Der Glaube scheint für sie eine felsenfeste Sache zu sein. Sie leben ein scheinbar absolut gottgefälliges Leben. Sie beten täglich, lesen in der Bibel, besuchen Gottesdienste und Versammlungen. Wenn man mit ihnen spricht, lächeln sie freundlich und bezeugen ihren Glauben.
Ich könnte mir vorstellen, dass Abraham auch so ein Mensch war: Ein orientalischer Stammesfürst, der anerkannt, zu Wohlstand gekommen und fest im Glauben verwurzelt war. So jedenfalls wird er im ersten Buch der Bibel beschrieben. Und noch über ein Jahrtausend später wird er als Vorbild des Glaubens gepriesen.
Aber Abraham hat auch ein anderes Gesicht, das oft nicht wahrgenommen wird. Ein Gesicht, das so gar nicht zu seiner Frömmigkeit passt. Daran zeigt sich: Frömmigkeit ist eine Sache; die Gottesbeziehung ist eine andere Sache. Man kann fromm leben und alles tun, was die Religion fordert – und dennoch am Gottvertrauen scheitern. Aber sehen wir uns Abraham einmal genauer an.
1. Gottes Verheißungen
Die Geschichte Abrahams beginnt in 1Mo/Gen 12,1-4 (wenn nicht anders vermerkt, sind alle Stellenangaben aus 1Mo/Gen). Zunächst wird Abraham noch bei seinem alten Namen Abram genannt, bevor er von Gott den Namen Abraham bekommt. Abrams Geschichte beginnt so:
Der Herr sagte zu Abram: "Verlass dein Land, dein Verwandtschaft und das Haus deines Vaters! Geh in das Land, das ich dir zeigen werde! Ich will dich zum Stammvater eines großen Volkes machen. Ich will dich segnen und deinen Namen groß machen, so dass du ein Segen sein wirst. Ich werde die segnen, die dich segnen. Wer dir aber Böses wünscht, den werde ich verfluchen. Alle Völker der Erde sollen durch dich gesegnet werden." Da ging Abram los, wie der Herr es ihm befohlen hatte. [Sein Neffe] Lot ging mit ihm. Abram war 75 Jahre alt, als er [seine Heimat] Haran verließ.
"Einen alten Baum verpflanzt man nicht", sagt ein deutsches Sprichwort. Im Himmel scheint dieses Sprichwort nicht bekannt zu sein. Denn Gott schickt den 75jährigen Abram aus seiner Heimat fort und sagt ihm nicht einmal, wohin die Reise gehen soll.
Ich stelle mir das nicht so vor, dass Abram plötzlich Gottes Stimme gehört hat und daraufhin sofort seine Sachen packte. Gott spricht in der Regel anders zu uns, nämlich durch Erlebnisse und Gedanken. Es mag einige Zeit gedauert haben, bis in Abram der Entschluss gereift war, im hohen Alter noch seine Heimat zu verlassen. Vielleicht hat er sogar mit sich gekämpft. Aber die innere Stimme, die ihn zum Aufbrechen trieb, war so stark, dass er sich ihr nicht widersetzen konnte. Er hat sie als die Stimme Gottes gedeutet.
Gründe für den Aufbruch nennt der Bibeltext nicht. Doch es kann immer Entwicklungen geben, die uns dazu treiben, einen Neuanfang zu machen. Abram macht sich im Vertrauen zu Gott auf den Weg. Das Ziel ist noch unklar. Aber Abram setzt auf das Geleit seines Gottes, und in diesem Vertrauen geht er das Risiko ein.
Es muss ihm gewiss geworden sein, dass er mit dem Segen und unter dem Schutz Gottes geht. Er soll, obwohl kinderlos, zum Stammvater eines großen Volkes werden. Er soll ein Segen für alle Völker sein. Er soll vor bösen Menschen bewahrt werden, weil Gott über sie einen Fluch sprechen wird. Das heißt: Sie werden keine Macht über Abraham gewinnen und ihre bösen Absichten nicht umsetzen können.
Mit solchen Verheißungen in der Tasche kann man wohl einen Neuanfang wagen. Hinzu kommt, dass Gott seine Verheißungen ständig wiederholt. Er scheint zu wissen, dass einmal bei uns Menschen nicht ausreicht. Wir brauchen beständig Auffrischungen unseres Glaubens, brauchen das Wort, das uns immer wieder im Glauben bestärkt.
So verheißt Gott dem Abraham mehrmals zahllose Nachkommen (13,16; 15,5; 17,5f), verspricht ihnen ein Land, in dem sie leben können (12,7; 15,18; 17,8) und schließt einen ewigen Bund mit Abraham und seinen Nachkommen (15,18; 17,2.7). So ist Gott mit Abraham auf dem Weg, erinnert ihn immer wieder an seine Verheißungen und macht ihm dadurch Mut, den nicht immer einfachen Weg weiterzugehen.
Die theologische Forschung führt diese häufigen Wiederholungen darauf zurück, dass verschiedene Überlieferungen zu dem Bibeltext, der uns jetzt vorliegt, zusammengefügt wurden. Deshalb dürfen wir den Text nicht wie einen historischen Reisebericht lesen. Das ändert aber nichts daran, dass der Text irgendwann mit all diesen Wiederholungen aufgeschrieben wurde, ohne dass sich jemand daran gestört hat. Also müssen wir uns auch nicht daran stören. Wir können jedenfalls festhalten, dass Gott Abraham seine Treue, sein Geleit und seinen Segen deutlich verheißen hat, möglicherweise sogar mehrmals und immer wieder.
Unser Glaube wäre wohl schnell am Ende, wenn Gott uns nicht immer wieder ansprechen würde. In den täglichen Herausforderungen und Kämpfen des Lebens verliert der Glaube schnell seine Kraft. Darum brauchen wir immer aufs Neue das mutmachende Wort von außen, ein Wort, das wir uns nicht selber sagen können.
Gott weiß das und lässt uns nicht auf Dauer ohne sein Wort allein. Auch Abraham hat das erfahren. Aber wie hat er darauf reagiert?
2. Abrahams Glaube
Abraham vertraute Gottes Verheißung und verließ seine Heimat (12,1-4). Er ließ sich auf die innere Stimme ein, die er vernahm, und deutete sie als Stimme Gottes. Auf dem Weg vernimmt er immer wieder diese Stimme. Er vertraut ihr (15,6), baut Gott mehrfach Altäre und opfert auf ihnen (12,7f; 13,18; 15,9).
Im Bau eines Altars und in einer Opferung drückt sich die Gottesbeziehung aus. Niemand wird einem Gott opfern, zu dem er keine Beziehung hat. Zuerst ist also die Beziehung da, dann baut man einen Altar und opfert auf ihm. Man ehrt Gott damit und pflegt die Beziehung zu ihm oder bittet um eine Wiederherstellung der Beziehung, wenn sie gestört ist.
Abraham war also ein frommer Mann, der seine Beziehung zu Gott pflegte. Dankbarkeit spielte dabei sicher auch eine Rolle. Es gab zwar auf der Reise immer wieder Probleme, aber jedes Mal wendete sich alles wieder zum Guten. Gottes Segens- und Schutzverheißungen schienen sich zu erfüllen.
Wenn es so gut läuft, ist es leicht, fromm zu sein und Gott zu vertrauen. Die biblischen Verheißungen und Zusagen Gottes bewahrheiten sich. Wir erleben es am eigenen Leib, dass sie wahr sind. Also glauben wir, dass Gott gut und gnädig ist, dass er unsere Gebete erhört und uns vor Unheil schützt, dass er uns durch unser Leben geleitet. Wir glauben es, weil wir es erleben.
Aber was, wenn wir es nicht mehr erleben? Was, wenn die biblischen Aussagen sich nicht in unserem Leben bestätigen und wenn unsere Gebete nicht mehr erhört werden? Dann droht unsere Überzeugung, dass die biblischen Aussagen wahr sind, zu zerbrechen. Es zeigt sich, dass unser Glaube nur ein theoretischer Glaube war, ein Gedankenkonstrukt, das uns nichts kostet. Jetzt aber, da es nicht mehr gut läuft, wird der Glaube mühsam. Jetzt gilt es, gegen unsere Erfahrungen an Gott festzuhalten. Jetzt hilft kein Gedankenkonstrukt mehr, sondern nur noch der Trotz des Glaubens, der zu Gott sagt: "Dennoch bleibe ich stets bei dir" (Ps 73,23).
Der Glaube verliert seine Selbstverständlichkeit. Die Erfahrungen des Lebens nagen erbarmungslos am Gottvertrauen. Es ist nichts mehr mit der selbstgewissen Gottesbeziehung. Wir machen nur noch Trippelschritte im Glauben. Das musste auch Abraham erleben.
3. Abrahams Todesangst
Nun zeigt sich die andere Seite in Abrahams Frömmigkeit. Die schöne Glaubenswelt bekommt Risse. Selbst der Frömmste kommt an seine Grenzen, wenn alle Erfahrungen dem Glauben widersprechen. Das gilt auch heute noch.
Wie ich schon sagte, war der Weg, auf den Gott Abraham gestellt hatte, nicht ohne Probleme. Gleich zu Beginn wird berichtet, dass Abraham, nachdem er im Land Kanaan, in das Gott ihn geführt hatte, angekommen war, gleich wieder von dort fliehen musste, weil eine Hungersnot ausbrach. Also zieht er nach Ägypten, wo in den fruchtbaren Nilebenen offenbar genug geerntet werden konnte. Doch mit der Flucht in die Fremde kommt auch die Angst.
Flüchtlinge waren schon damals mit dem Tod bedroht. Darum mahnt das Alte Testament um Gottes Willen immer wieder, die Fremden, die Ausländer im Land nicht zu unterdrücken (z.B. 2Mo/Ex 22,20; 4Mo/Num 15,15; 5Mo/Dtn 10,18f).
Die Angst Abrahams ist schnell erzählt (12,10-20): Seine Frau Sara war offenbar eine Schönheit. Abraham musste fürchten, dass die ägyptischen Machthaber sich über sie hermachen und ihren Ehemann kurzerhand ermorden. Darum verabreden Abraham und Sara, sich als Geschwister auszugeben. Tatsächlich wird Sara in den Palast des Pharao geholt und muss ihm zu Willen sein. Abraham aber wird nicht umgebracht, sondern als mutmaßlicher Bruder Saras reich beschenkt und geehrt.
Doch Gott lässt den Pharao nicht gewähren, sondern weist ihn mit allerlei Unheil in seine Grenzen. Dem Pharao bleibt nicht verborgen, dass das Unheil von dem Gott kommt, an den Abraham glaubt. Der ägyptische Herrscher ist entsetzt und wirft Abraham vor, ihn belogen und dadurch dem Unheil ausgeliefert zu haben. Hätte er die Wahrheit gesagt, dann hätte er sich Sara nicht zu eigen gemacht. Um das Unheil loszuwerden, wirft er Abraham und Sara aus dem Land. Sie bekommen sogar noch militärisches Geleit bis an die Grenze Ägyptens.
Was war geschehen? Abraham, dem Gott Nachkommenschaft, Schutz und Segen verheißen hatte, wird in Ägypten von Todesangst geplagt. Mit anderen Worten: Er vertraut nicht mehr auf Gottes Verheißungen. Deshalb ergreift er die Eigeninitiative und liefert Sara mit einer Lüge dem Pharao aus, um seine eigene Haut zu retten. Am Ende kommt heraus, dass das Ganze vollkommen unnötig war. Denn der Pharao hätte Sara nicht angerührt, wenn Abraham ehrlich gesagt hätte, dass sie seine Frau ist.
Der fromme Abraham wird also zum Lügner, der seine Frau der sexuellen Gewalt des Pharaos aussetzt. Was für ein Widerspruch des ach so Frommen! In der Todesangst bleibt nichts von seinem Gottvertrauen. Und das mangelnde Gottvertrauen stürzt die eigene Frau ins Elend. Der Glaube Abrahams war offenbar ein theoretisches Gedankengebäude, das so lange als religiöse Praxis funktionierte, wie es ihn nichts kostete.
Das ist die Gefahr jeder Frömmigkeit: dass sie keinen Eingang ins Leben findet, sondern nur in frommen Gedanken und Gefühlen besteht, vielleicht auch in einer "richtigen Dogmatik". Fromme Gedanken und Gefühle machen aber noch keine Gottesbeziehung. Und eine Dogmatik erst recht nicht.
Eine andere Version derselben Geschichte, die an anderem Ort und zu anderer Zeit spielt, wird übrigens in 1Mo/Gen 20 erzählt. Die biblischen Textsammler und Schreiber waren sich nicht zu schade, diese peinliche Geschichte zweimal in den Text aufzunehmen. Hier wird nichts verschwiegen und nichts beschönigt. Das "Vorbild des Glaubens" Abraham wird in seiner ganzen Zwiespältigkeit dargestellt. Alle Welt soll wissen, dass auch die Frömmsten an ihrem Misstrauen Gott gegenüber scheitern. Es ist befreiend, dass die Bibel so realistisch ist und uns keine Supermänner des Glaubens vorgaukelt, die es nicht gibt.
4. Abrahams Misstrauen
Das Misstrauen Abrahams setzte sich fort. Eine nächtliche Szene wird beschrieben: Abraham hat – vielleicht im Traum – eine Vision, in der Gott zu ihm spricht und ihm erneut seinen Schutz zusagt (15,1). Doch Abraham beklagt sich darüber, dass er kinderlos sterben wird (15,2b). Daraufhin lässt Gott Abraham in den Sternenhimmel blicken und verheißt ihm so viele Nachkommen, wie Sterne am Himmel stehen – und Abraham glaubt es ihm.
In der nächsten Szene dieser Vision zeigt Gott Abraham das Land, das er ihm und seinen Nachkommen geben will. Doch Abraham fragt (15,8):
Herr, mein Gott! Woran kann ich erkennen, dass ich es besitzen werde?
Daraufhin vollzieht Gott eine rituelle Handlung (15,9f.17): In der Gestalt von Feuer und Rauch geht er durch zerteilte Tiere hindurch, die auf dem Erdboden liegen. Wer das tut, zieht – nach einem alten orientalischen Brauch – das Schicksal dieser Tiere auf sich, wenn er seine Zusage nicht einhält. Gott nutzt hier diesen Brauch, um Abraham seiner Zusage gewiss zu machen. Einmal mehr ist sich Gott nicht zu schade, sich in die Welt menschlicher Vorstellungen zu begeben, um dem Menschen seine Vertrauenswürdigkeit zu erweisen.
Der Zweifel Abrahams an dieser Vertrauenswürdigkeit ist offensichtlich. Und offensichtlich ist auch Gottes Eingehen auf diesen Zweifel, und zwar nicht im Zorn und mit erhobenem Zeigefinger, sondern durch ein Sprechen mit Abraham in einer Symbolik, die dieser versteht: die unzähligen Sterne am Himmel und das Ritual, mit dem Gott sich auf menschliche Weise dazu verpflichtet, seine Zusage einzuhalten. Kann ein Gott sich liebevoller auf menschliche Gegebenheiten einlassen?
Doch die Zeit verrinnt, Abraham und Sara werden älter, und die Verheißung, dass sie einen Sohn bekommen sollen, erfüllt sich nicht. Der Zahn der Zeit nagt am Gottvertrauen. Wie soll man an Veränderung glauben, wenn nichts sich verändert? Wie soll man Gottes Verheißung ernst nehmen, wenn die Erfüllung ausbleibt?
Kinderlosigkeit war im Altertum ein schweres Los, weil die kinderlose Frau geringgeschätzt wurde und weil das eigene Leben der Menschen sich in ihren Nachkommen fortsetzte. Wenn eine Ehe kinderlos blieb, konnte die Ehefrau ihrem Mann ihre persönliche Sklavin anbieten, um mit ihr ein Kind zu zeugen. Das Kind galt dann als Kind der Ehefrau – für die Sklavin ein grausamer Brauch, aber damals durchaus üblich.
Sara bietet Abraham diese "Lösung" des Problems an. Vielleicht will Gott ja auf diese Weise seine Verheißung erfüllen. Man kann ja auf diese Weise ein wenig nachhelfen. Abraham willigt ein, und die Sklavin Hagar wird von ihm schwanger. Nun entsteht ein heftiger Konflikt zwischen beiden Frauen: Hagar blickt, weil sie schwanger ist, verächtlich auf die kinderlose Sara herab, und Sara behandelt sie mit dem Einverständnis Abrahams offenbar so schlecht, dass der schwangeren Hagar nur die Flucht bleibt (16,1-6).
Abraham und Sara versuchen also, der Verheißung Gottes nachzuhelfen. Doch daraus entstehen nur neue Probleme. Es ist merkwürdig: Sobald wir Gott eigenmächtig ins Handwerk pfuschen, wird es unmenschlich. In dieser Situation greift Gott ein: Er sieht das Elend Hagars und verheißt ihr unzählige Nachkommen durch ihren Sohn Ismael. Und er fordert sie auf, zu Abraham und Sara zurückzukehren. So wurde Abraham zum Vater Ismaels, der den Muslimen bis heute als ihr Stammvater gilt (16,7-16; 25,12-16).
5. Abrahams Zynismus
Weitere Jahre vergehen, ohne dass Sara schwanger wird. Wahrscheinlich haben beide resigniert. Doch Gott lässt sie nicht los. Er erscheint Abraham erneut, schließt einen Bund mit ihm, verheißt ihm zahllose Nachkommen vom Sohn Saras, die im Land Kanaan leben werden (17,1-8.15-17). Abraham reagiert so (17,17-21):
Da warf sich Abraham zu Boden und lachte. Im Stillen dachte er: "Ich bin fast hundert Jahre alt. Kann mir da noch ein Sohn geboren werden? Sara ist schon neunzig. Soll sie da noch ein Kind bekommen?" Abraham sagte zu Gott: "Erfüll doch deine Verheißung an meinem Sohn Ismael!" Aber Gott erwiderte: "Nein, deine Frau Sara wird dir einen Sohn schenken. Den sollst du Isaak nennen. Mit ihm und seinen Nachkommen werde ich einen Bund schließen. Dieser Bund gilt für immer. Auch deine Bitte für Ismael will ich erfüllen. Ich will ihn segnen, dass er fruchtbar ist und sich über alle Maßen vermehrt. Er wird zwölf Stammesführer zeugen, und seine Nachkommen werden zu einem großen Volk. Aber meinen Bund schließe ich mit Isaak. Nächstes Jahr um diese Zeit wird Sara ihn zur Welt bringen."
Abraham ist im Gespräch mit Gott. Er kann über Gottes Verheißung jetzt nur noch zynisch lachen. Er diskutiert mit Gott, indem er das vorschlägt, was ihm allein noch glaubwürdig erscheint: "Erfüll doch deine Verheißung an Ismael!" Aber Gott bleibt bei seiner Verheißung, dass Sara einen Sohn bekommen wird. Dennoch will er auch Abrahams Bitte für Ismael erhören und ihn segnen.
Was für ein Gott! Kein Wort des Zorns, kein Tadel, kein Vorwurf, von Strafe ganz zu schweigen. Im Gegenteil: unendliche Geduld, unendliche Liebe zum Zweifler, und die Bitte für Ismael, mit der Abraham der Verheißung Gottes widerspricht – die Bitte für Ismael soll auch noch erfüllt werden.
Ich kürze ab: Sara bekommt schließlich den verheißenen Sohn (21,1f). Doch der Konflikt zwischen Sara und Hagar schwelt offenbar weiter. Abraham wirft Hagar und Ismael auf Bitten Saras aus dem Haus, doch Gott sorgt für die Sklavin und ihren Sohn, so dass seine Verheißung an Ismael sich erfüllt (21,9-21).
Die ganze Geschichte wirkt wie ein endloses Hin und Her zwischen göttlicher Verheißung, menschlicher Frömmigkeit und menschlichem Zweifel. Der Glaube Abrahams, der im Neuen Testament gelobt wird (Röm 4,3; Hebr 11,8f.17), war jedenfalls kein vorbildlicher Glaube. Er war vielmehr ein ständiges Schwanken zwischen Glaube und Zweifel, zwischen Frommsein und Scheitern, zwischen tiefem Vertrauen auf Gott und zynischem Lachen über Gott. Das ist der Stammvater Israels und Jesu.
Weil Abraham unser aller Stammvater im Glauben ist, darum erzählt seine Geschichte auch etwas über unseren Glauben. Und sie erzählt vor allem etwas über die unendliche Geduld Gottes mit den Zweifelnden und seine unendliche Liebe zu ihnen.
6. Eine biblische Religionskritik
Die Zeit nagt unaufhörlich an unserem Glauben. Die scheinbare Abwesenheit Gottes, sein scheinbares Nichtstun und Schweigen untergraben unser Gottvertrauen. Von Erfüllungen ist nichts zu sehen, denken wir, und brauchen doch nur Geduld. Gott hat Zeit, seine Verheißungen zu erfüllen. Nur wir haben sie nicht. Denn der Tod sitzt uns im Nacken. Und wir sind blind für die Erfüllungen, die sich täglich ereignen.
Denn wir wollen etwas sehen, und zwar sofort. Wir wollen Segen für unser Leben und Rettung vor dem Bösen sofort. Wir wollen nicht warten, wollen die tödlichen Mächte sofort aus der Welt verbannen, wollen das himmlische Leben jetzt und nicht erst später. Wir geben keine Ruhe, weil wir unersättlich sind nach dem Leben, das wir noch nicht haben.
Darum nehmen wir selber in die Hand, was Gott hinauszögert. Unsere Ungeduld ist verständlich, aber sie hilft nicht weiter, sondern schafft neue Probleme. Wo wir zu tun versuchen, was nur Gott schaffen kann, wo wir uns das himmlische Leben eigenmächtig zu verschaffen suchen, wo wir uns an Gottes Stelle setzen, da wird es unmenschlich.
Das ist das Problem menschlicher Religion: Der Mensch will Gott vorgreifen, will ihn sich gefügig machen, ihm den eigenen Rhythmus aufzwingen anstatt im Rhythmus Gottes zu leben. Das ist Misstrauen, das ist Zweifel an Gottes Kompetenz und Verlässlichkeit. Gerade der fromme Mensch will es oft besser wissen und besser machen als Gott.
Die biblische Religionskritik, die auch in der Abrahamgeschichte deutlich wird, warnt uns davor, uns vom Eigenen leiten zu lassen. Dagegen hilft nur permanente Selbstkritik – eine Selbstkritik, die auf Gottes Wort hört anstatt ihm ins Wort zu fallen, die sich zufrieden gibt mit Gottes Schweigen anstatt dagegen aufzubegehren, die Gottes Handeln in seine Nichtstun, sein Reden in seinem Schweigen glaubt anstatt sein Handeln und Reden erzwingen zu wollen.
Und biblische Religionskritik sagt: Der Glaube besteht nicht in frommen Übungen oder religiösem Aktivismus, nicht im Bauen von Altären und Kirchen, nicht im frommen Praktizieren religiöser Bräuche. Sondern der Glaube besteht im geduldigen, vertrauensvollen Warten auf die Zeit, in der Gott handelt. Es geht im Glauben nicht um dogmatisch einwandfreies Denken, sondern um eine Gottesbeziehung, die von Vertrauen geprägt ist und darum Gottes Rhythmus zum eigenen macht. Es geht nicht um eigene Erkenntnisse und Fähigkeiten, überhaupt um nichts Eigenes, sondern um das, was Gott uns je und je schenkt.
Frömmigkeit kann eine perfekte religiöse Theorie und Praxis sein; der tatsächliche Glaube ist etwas anderes.
Abraham musste lernen, dass Gott allein schafft Leben – zu seiner Zeit. Gottes Verheißungen übertreffen all unser Erleben, Fühlen und Denken – denn Unmögliches soll geschehen: Leben wird entstehen, wo Leiber schon tot sind, wo jedes Leben von uns gewichen ist. Hoffnung ist möglich, wo wir jede Hoffnung fahren lassen müssen. Gott wird Leben erstehen lassen, wo wir Tod über die Welt bringen. Er wird Leben retten, wo all unsere Vorhersagen und Statistiken nur Tod prophezeien können. Er wird das von ihm geschaffene Leben segnen, wo wir nur Unheil am Werk sehen.
Wie wird heute Leben möglich in einer Welt, in der der Tod regiert? Es wird so möglich, dass wir Gott in unser Leben Einzug halten lassen, dass wir gelassen, befreit und zuversichtlich aus seinen Verheißungen leben und uns von ihm zu Worten und Taten bewegen lassen – und das alles aus seiner Leben schaffenden Kraft und zu seiner mit Leben erfüllten Zeit.
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Verwendete Literatur:
- Alle Bibelzitate aus der BasisBibel, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2021.
- Stuttgarter Erklärungsbibel, mit Einführungen und Erklärungen, Deutsche Bibelgesellschaft, 2. Aufl. Stuttgart 1992.
Foto: Michael Knoll auf Pixabay.
naja biblische "Supermänner" gibt es doch eigentlich gar nicht, es sei denn man schaut ins Buch Tobit. Aber ein Glaubensbeispiel mit allen entsetzlichen Brüchen, die das Leben schreibt, ist m. E.
jene von Horatio G. Spafford (1828-1888) und seiner Frau Anna. Der erfolgreiche Anwalt verliert in den USA durch einen Brand das meiste seines Besitzes. Seine Frau und alle Kinder erleiden bei der Überfahrt nach Europa Schiffbruch, nur die Frau überlebt und telegraphiert "Saved alone, what shall I do?" -- in ihrer Gemeinde stoßen sie daraufhin auf großes Misstrauen, sie beschließen in Jerusalem neu anzufangen und gründen dort die American Colony, aus dem das heute noch existierende und berühmte American Colony Hotel hervorgeht, sie haben weitere Kinder. Wie spricht Gott zu den Spaffords? Ist es entsetzlicher, keine Kinder zu haben, oder alle Kinder zu verlieren? Horatio, der nach dem Schiffbruch das Lied "It is well with my soul" schreibt, ist schon einer, der nicht resigniert und (wie Abraham?) die Sachen selbst in die Hand nimmt. Gleichzeitig hat er aber auch einen unerschütterlichen (frommen?) Glauben. Das sind Dinge, die sich eigentlich doch gar nicht ausschließen. Jedenfalls definiert sich daraus eine Vorwärtsrichtung, die viele Menschen nie hatten. Ich seh nicht so ganz was daran verkehrt sein soll und zieh davor eher meinen Hut (bzw. setz den Hut auf, z. B. wenn ich auf einem jüdischen Friedhof bin).
viele Grüße, J.
ja, da sprichst du gleich den entscheidenden Punkt an. Man kann ihn auch als Fragen formulieren: Ist ein unerschütterlicher Glaube nicht etwas Positives? Und muss man in solchem Glauben nicht auch die Dinge in die Hand nehmen, eben weil man nicht resigniert? Darauf gibt es nur sehr differenzierte Antworten.
Natürlich ist ein unerschütterlicher Glaube etwas Wunderbares. Aber einen solchen Glauben gibt es eben menschlicherseits gar nicht. Der Glaube ist vielmehr ein Geschenk Gottes und eben darum ein Wunder. Er ist nichts, was ein Mensch aus sich selbst hervorbringen kann. Natürlich ist es immer der Mensch, der glaubt, der möglicherweise glauben will und eine "Entscheidung" für den Glauben trifft, der um das Geschenk des Glaubens bittet. Aber gerade der so bittende Mensch weiß doch gar nicht, was er beten soll, wie es sich gebührt, sondern wird vom Geist Gottes vertreten, der seiner Schwachheit aufhilft (Röm 8,26). Und sein Glaube ist vom Geist Gottes gewirkt und nicht vom menschlichen Willen (1Kor 1,30; 12,3b.9a) – "was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und keinem Menschen ins Herz emporgestiegen ist, was alles Gott denen bereitet hat, die ihn lieben" (1Kor 2,9).
Der Glaube ist also nichts eigenständig vom Menschen Gewirktes. Eben darum kann der Mensch Dinge in rechter Weise in die Hand nehmen nur dann, wenn es Gottes Geist in ihm wirkt. Gegen solchen Glauben und solches Handeln ist natürlich nichts zu sagen. Aber menschliche Religion ist eben nicht einfach nur das, was Gottes Geist wirkt. Da gibt es vieles, was sich Menschen ausgedacht haben, was von irgendwoher "dem Menschen ins Herz emporgestiegen ist", was sich als fromm und gläubig ausgibt und selbst so fühlt, was aber in Wahrheit etwas ganz anderes ist. Ich denke, dafür gibt es endlose Beispiele. Das sollte uns bewusst sein, und von daher gehört zum Christsein immer eine gute Portion Selbstkritik. Ich würde soweit gehen zu sagen: Nichts, was ich fühle, denke und tue ist von sich aus gut (Jesus: "Gut ist nur einer"; Mt 19,17); denn gut ist nur das von Gott in mir Gewirkte. Wie Paulus über das Leben des Christen schrieb: "Ich lebe; aber nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir" (Gal 2,20). Man könnte ergänzen: "Ich glaube; aber nicht ich, sondern Christus glaubt in mir"; "Ich tue Gutes; aber nicht ich, sondern Christus tut es in mir."
Was ich mit Religionskritik meine, ist, dass wir uns der Unzulänglichkeit und Gottlosigkeit all dessen, was aus uns selbst kommt, bewusst sind. Und das gilt für jeden Menschen, auch für einen noch so frommen Christen. Es galt ja auch für Abraham, wie die ehrliche Schilderung seiner Geschichte zeigt. Und es gilt sicher auch für Spafford, der auch seine Schwächen im Glauben und Handeln gehabt haben wird. Solches wird nur oft nicht überliefert, um das Bild des Glaubensvorbilds nicht zu trüben. Umso ehrlicher und realistischer finde ich es, dass die biblischen Schriften hier einen anderen Weg gehen.
Man kann jetzt natürlich fragen, woran man denn erkennt, dass der eigene Glaube und das eigene Handeln von Gott gewirkt sind. Meine Antwort wäre: Man kann nur darum bitten und für seine Irrtümer um Vergebung bitten. Man kann nur versuchen, so gut es geht immer wieder auf Gottes Wort zu hören und von daher sich selbst zu hinterfragen. Auch dann wird es den vollkommenen Glaubenden nicht geben, weil wir alle unsere Grenzen haben. Aber in seiner Vergebung und seiner unendlichen Geduld und Gnade mit uns (siehe Abraham) wird Gott uns immer wieder geleiten, wann und wo er es will. Darauf zu vertrauen und dennoch – nein, gerade deshalb, weil Gott das tut, hörend, lernbereit und selbstkritisch zu bleiben, gehört zu unserem Glauben.
vielen Dank für deine positive Rückmeldung und deinen Hinweis auf Gottes Schweigen, das wir nur mit seiner Kraft aushalten können.
hier noch ein Link mit der Geschichte einer Frau mit unerschütterlichem Glauben, auch wenn es diesen angeblich gar nicht gibt. Das eine ist wohl die Theorie, das andere leider die Praxis.
https://www.israelheute.com/erfahren/die-kraft-des-glaubens/
danke für deine Ergänzung. Ich bin nicht der Ansicht, dass es einen unerschütterlichen Glauben nicht gibt, sondern dass es ihn menschlicherseits nicht gibt, wie ich geschrieben habe (siehe oben meine Antwort auf deinen Kommentar). Das heißt, ein unerschütterlicher Glaube ist niemals vom Menschen hervorgebracht, sondern gründet immer in der Kraft Gottes, die in einem Menschen wirkt, wann und wo Gott es will. Deshalb kann auch allein Gott wissen, wie und wo unerschütterlicher Glaube sich vollzieht. Was wir auf Erden sehen, sind doch lediglich geschichtliche Äußerungen, die immer mehrdeutig sind. So wie Jesus selbst sagte, dass man dem "Siehe, hier ist der Christus" nicht glauben soll, weil auch die falschen Christusse und falschen Propheten große Zeichen und Wunder tun können (Mt 24,23f).