Der "ungläubige" Thomas – ein aufgeklärter Mensch
Klaus Straßburg | 18/08/2023
Der Zweifel ist ein treuer Begleiter des Glaubens. Wir werden ihn kaum einmal los – auch dann nicht, wenn wir uns einbilden, wir hätten einen starken Glauben.
Dass der Zweifel uns nicht verlässt, muss uns aber nicht in Verzweiflung stürzen. Denn mit unserem Zweifel sind wir nicht allein. Die Bibel ist voll von zweifelnd Glaubenden – oder glaubend Zweifelnden. Und Gott hat seine eigene Gnadengeschichte mit jedem dieser Menschen.
Das ist wichtig zu wissen, wenn wir uns mit unserem Zweifel auseinandersetzen. Nichts kann uns von Gottes Liebe trennen (Röm 8,38f) – auch unser Zweifel nicht.
Ich möchte in einer Reihe von Artikeln Zweifler der Bibel vorstellen, und ich beginne mit dem wohl bekanntesten Zweifler: dem "ungläubigen" Thomas.
Thomas begegnet uns im Neuen Testament an einigen Stellen – aber ausschließlich im Johannesevangelium. Und er spielt dabei immer eine Sonderrolle. Er ist einer der Jünger Jesu, dessen wenige Bemerkungen zeigen, dass er ein unangepasster Jünger ist.
1. Thomas der Zwilling
Zum ersten Mal begegnet uns Thomas, als Jesus den Jüngern kundtut, dass sein Freund Lazarus gestorben ist (Joh 11,1-16). Jesus will zu ihm, obwohl er dort vor kurzem von den jüdischen Autoritäten mit dem Tod bedroht worden war. Die Jünger verstehen Jesu Entscheidung nicht. Doch Thomas sagt (Joh 11,16):
Lasst auch uns hingehen, damit wir mit ihm sterben.
Das ist ein denkwürdiger Satz. Thomas sieht, wie die anderen Jünger auch, die Gefahr – nicht nur für Jesus, sondern für die ganze Gruppe. Er sieht die Fakten, und die zählen für ihn. Die Fakten aber sprechen dafür, dass Jesus dort sterben wird – und vielleicht die Jünger mit ihm.
Ohne Jesus aber hat für Thomas das Leben keinen Sinn mehr. Zu sehr hat er sein Leben auf ihn aufgebaut, hat er all seine Hoffnung und Sehnsucht in ihn gelegt. Wenn Jesus stirbt, ist es wohl das Beste, wenn auch die Jünger sterben, meint Thomas. Auch darin ist Thomas knallhart realistisch.
Es ist bemerkenswert, dass Thomas nicht wegläuft vor dem Tod. Er lässt Jesus nicht los, sondern geht auch diesen letzten Weg mit ihm zusammen. Er bleibt in dieser hoffnungslosen Situation bei ihm, bleibt ihm treu. Vielleicht denkt er: "Wenn das schon das Ende ist, dann soll es das Ende zusammen mit Jesus sein. Wenigstens diesen Sinn will ich meinem letzten Schritt im Leben noch geben: dass ich bei Jesus geblieben bin."
Thomas ist eben nicht nur der Zweifler, sondern auch der treue Jünger, der Nachfolger Jesu. Bis in den Tod will er ihm nachfolgen. Dem Verfasser des Johannesevangeliums ist es offenbar wichtig, den Worten des Thomas hinzuzufügen, dass er auch "Zwilling" genannt wird (Joh 11,16; 20,24).
Wenn das nicht nur eine familiäre Bemerkung sein soll – und das glaube ich nicht –, dann beleuchtet die Bezeichnung "Zwilling" die innere Gefühlslage des Thomas: Da wohnen zwei Seelen in seiner Brust – so wie eineiige Zwillinge oft innerlich miteinander verbunden sind.
Weil man in der Antike nicht wusste, wie Zwillinge entstehen*, ging man nach mythologischem Verständnis meist von zwei Vätern der Zwillinge aus: entweder von einem göttlichen und einem menschlichen Vater oder von zwei menschlichen Vätern.Manchmal wurde auch eins der Zwillingskinder getötet. Oder die Mutter wurde samt den beiden Kindern aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Erst durch das Christentum, das aus dem Judentum die Bejahung jedes Menschen und das Tötungsverbot übernommen hatte, setzte sich das Lebensrecht der Zwillinge durch.
Thomas, der auch Zwilling genannt wurde, hat zwei Seelen in seiner Brust, so wie ein Zwilling zwei Väter hat – vielleicht einen göttlichen und einen menschlichen. Die eine Seele sagt: "Ich möchte glauben, ich weiß, wie wichtig das ist, ich habe im Glauben den Sinn meines Lebens gefunden." Die andere Seele sagt: "Es spricht so vieles gegen den Glauben, die Fakten sprechen eine andere Sprache, sie widerlegen den Glauben, so wie der Tod des Freundes Jesu ihn widerlegt. Wenn der Tod noch regiert, wie kann dann Jesus die Macht haben? Wenn auch Jesus dem Tod entgegengeht, welchen Sinn hat dann der Glaube an ihn?" Und die erste Seele wiederum antwortet: "Und dennoch kann ich nicht von ihm lassen, dennoch muss ich auch den Weg in den Tod mit ihm gehen."
Thomas ist einer von uns. Wir tragen alle zwei Seelen in unserer Brust, sind gespalten zwischen Glaube und Zweifel. Wir können den Zwiespalt nicht überwinden. Wenn uns jemand in die Lage versetzt, den Zwiespalt zu verringern, dann ist das Jesus. Aber dazu später mehr.
2. Thomas der Bekenner
Es kommt, wie es kommen musste: Jesus wird erneut angefeindet. Man trachtet ihm nach dem Leben. Jesus weiß, was ihm blüht. Und er kündigt seinen Jüngern zum Abschied an, dass er sie verlassen und wiederkommen wird, um sie dorthin zu holen, wo er ihnen einen Ort zum Leben bereitet hat. Dann fügt er hinzu (Joh 14,4f):
"Ihr kennt den Weg dorthin, wohin ich gehe." Thomas sagt zu ihm: "Herr, wir wissen [noch] nicht [einmal], wohin du gehst. Wie können wir [dann] den Weg [dorthin] kennen?"
Thomas wird hier zum Sprecher der Jünger. Während die anderen noch rätseln, was Jesus meinte, aber sich nicht trauen, es auszusprechen, nimmt Thomas kein Blatt vor den Mund: Sie kennen das Ziel nicht und kennen darum auch den Weg zum Ziel nicht. Etwa drei Jahre lang sind sie Schüler des Rabbi Jesus gewesen, und sie wissen – so gut wie nichts.
Thomas drückt hier eine Lebenserfahrung aus, die auch Christinnen und Christen nicht erspart bleibt. Es ist die Erfahrung, dass die Zukunft hinter einem Schleier der Ungewissheit liegt. "Was wird aus uns werden? Wohin geht der Weg? Was nützt uns eigentlich unser Glaube, wenn die Zukunft im Dunklen liegt? Wir müssen ja schließlich von allem Abschied nehmen, so wie Jesus Abschied nahm. Dem Tod entgeht niemand. Und niemand ist aus dem Tod auf die Erde zurückgekommen. Müssen wir dann nicht auch von jeder Hoffnung Abschied nehmen? Wenn das Ziel unsicher wird, dann ist auch der Weg zum Ziel, der Glaube und die Hoffnung, überflüssig."
Sicher wussten die Jünger Jesu um die Vorstellung von der Auferstehung der Toten, die damals von vielen Juden geteilt wurde. Die Jünger hatten ja sogar erlebt, wie Jesus den toten Lazarus zum Leben erweckt hatte. Aber es bleibt der Zweifel, ob nicht doch am Ende der Tod steht; ob nicht alles ein großer Irrtum ist, eine schöne Illusion. Vielleicht ist Lazarus ja gar nicht wirklich tot gewesen. Es ist noch kein Toter zurückgekommen ...
Thomas zeichnet sich dadurch aus, dass er ausspricht, was die anderen denken und fühlen: diese quälende Unsicherheit, die den Glauben zu zermalmen droht.
Es ist gut, die Zweifel auszusprechen. Sie verschwinden nicht dadurch, dass man sie verschweigt oder verdrängt. Jesus nimmt den Jüngern ihre Zweifel auch nicht mit einem Schlag weg. Aber er steht zu seinen zweifelnden Jüngern. Er gibt sie nicht auf, sondern erklärt ihnen, was er gemeint hat. Er wirbt um ihren Glauben und versucht, ihn zu stärken, indem er weiter mit ihnen redet und ihnen Trost spendet in dieser Situation des Abschieds.
Wir sollten auch über unsere Zweifel reden – mit Menschen unseres Vertrauens. Und es ist ein großer Mangel, wenn in einer Gemeinde keine Zweifel zugelassen oder sie unter den Tisch gekehrt werden. Zweifel begleiten jeden Menschen, der glaubt. Darüber sollten wir uns keine Illusion machen. Dass die Zweifel den Glauben begleiten, macht sie nicht zu etwas Positivem. Aber absolut positiv ist, dass Jesus die Zweifelnden nicht verwirft, sondern sich ihrer annimmt.
Weil Thomas seine Zweifel offen vor Jesus ausgesprochen hat, erlebt er es, dass Jesus ihn nicht von sich weist. Wir können das auch erleben, wenn wir unsere Zweifel vor Gott bekennen – und gerade so an ihm festhalten.
3. Die zweifelnden Jünger
Die bekannteste Stelle, an der Thomas auftritt, ist Joh 20,24-29. Der "Zwilling" war nicht dabei, als der gekreuzigte Jesus seinen Jüngern erschienen war (Joh 20,19-23). Er hat also nicht erlebt, was die anderen Jünger erlebt haben.
So ein Gefühl kann man auch heute manchmal bekommen, wenn andere Christen von ihren wunderbaren Erlebnissen mit Jesus erzählen. Und es kann einen traurig machen, dass man solche Erfahrungen nicht gemacht hat. Aber lassen wir uns nicht blenden.
Die anderen Jünger erzählen Thomas von ihrem Erlebnis (Joh 20,25):
"Wir haben den Herrn gesehen." Er aber sagte zu ihnen: "Wenn ich an seinen Händen nicht die Nägelmale sehe und meinen Finger nicht in die Nägelmale lege und meine Hand nicht in seine Seite [mit der Wunde] lege, dann werde ich es nicht glauben."
Man beachte: Die Jünger rufen nicht voller Begeisterung: "Jesus lebt! Stell dir vor, er ist auferstanden!" Sie stellen vielmehr ohne Emotionen ganz sachlich fest: "Wir haben den Herrn gesehen." Das klingt nicht gerade begeistert und vor Freude sprühend, sondern eher blass und zaghaft. Es klingt wie: "Wir haben eine Erscheinung gehabt, ein Erlebnis mit Jesus. Aber wir wissen nicht, ob er es wirklich war ..." Thomas reagiert darauf mit seinem Zweifel: "Nun mal langsam! Ich will ihn erst sehen und spüren, bevor ich glaube, dass er wirklich lebt."
Danach vergehen acht Tage. Was werden die Jünger in diesen acht Tagen gemacht haben? Worüber werden sie endlos diskutiert haben? Haben sie darauf gewartet, Jesus erneut zu sehen? Haben sie erwogen, seine Erscheinung sei vielleicht doch eine Einbildung gewesen? Haben sie sich unruhig im Schlaf gewälzt, hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Verzweiflung?
Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass acht Tage lang von Jesus keine Spur war. Acht Tage – das kann eine unendlich lange Zeit sein. So wie es uns als eine unendlich lange Zeit erscheinen kann, wenn wir von Jesus nichts spüren, nichts mit ihm erleben. Wenn wir uns sehnen nach einer Erfahrung, die unseren Glauben stärkt – aber nichts dergleichen geschieht. Die Tage vergehen – und von Gott keine Spur.
Die erste Erscheinung des auferstandenen Jesus scheint für die Jünger keine nachhaltige Erfahrung gewesen zu sein. Es hat sie offenbar nicht verändert. Obwohl Jesus ihnen seinen Frieden zugesprochen, sie in die Welt gesandt, ihnen seinen Geist gegeben und sie zur Sündenvergebung aufgerufen hatte (Joh 20,21-23). Doch die Ermutigung durch Jesu Erscheinung scheint die Jünger schnell wieder verlassen zu haben.
Denn auch nach den acht Tagen haben sie die Türen aus Angst vor Verfolgung verschlossen (Joh 20,19.26). Wieder kommt Jesus durch die verschlossenen Türen und spricht den Friedensgruß. Ich denke, mit den verschlossenen Türen sind nicht nur die Haustüren gemeint. Dann würde dieses Detail nur bedeuten, dass Jesus das übernatürliche Mirakel tun kann, durch verschlossene Türen zu gehen.
Ich denke vielmehr, dass mit den verschlossenen Türen auch die Herzenstüren gemeint sind. Die Jünger hatten sich in sich selbst zurückgezogen. Von der Umwelt abgeschottet, waren sie in die innere Emigration gegangen. Ihre Herzenstüren waren noch vor der Hoffnung und Freude verschlossen. Angst und Verzweiflung regierten noch in ihnen. Schließlich war mit Jesu Tod eine Welt in ihnen zusammengebrochen. Daran hatten auch das leere Grab und die Erscheinung Jesu vor Maria Magdalena nichts geändert (Joh 20,3-8.18).
Es geht also nicht darum, dass Jesus durch Wände gehen konnte, es geht nicht um Science Fiction, Fantasy oder Zauberei, sondern darum, dass Jesus "in die Mitte trat" – in den Mittelpunkt ihres Lebens, ihres Denkens und Fühlens, in die Mitte ihres Herzens (Joh 20,19.26). Mit dem Friedensgruß "Friede sei mit euch" bringt er ihnen den Frieden, den sie in sich selbst nicht gefunden haben.
Nach Jesu erster Erscheinung haben die Jünger ihre Herzenstüren offenbar noch nicht geöffnet. Darum erscheint Jesus ihnen nochmals – diesmal ist auch Thomas dabei. Wird es Jesus jetzt gelingen, den Zweifel der Jünger zu durchbrechen?
4. Der fehlende Faktencheck
Es ist bemerkenswert, dass sich Jesus zum zweiten Mal in die Mitte dieser Zweiflergemeinde begibt. Jesus kommt in die abgeschottete Gemeinde und in die verschlossenen Herzen. Er kommt wieder mit dem Friedensgruß, der auch dem Zweifler Thomas gilt.
Jesus geht sofort auf Thomas zu, ohne darauf zu warten, dass Thomas auf ihn zugeht. Kein erhobener Zeigefinger, kein beredtes Abwarten Jesu (na, wird er wohl zu mir kommen?), kein noch so leichter Vorwurf. Auch keine theologische Belehrung über die Verwerflichkeit des Zweifelns. Jesus weiß um des Thomas, um unsere Zweifel, um unsere Sehnsucht, einen Beleg zu haben, etwas Handfestes zu sehen, zu fühlen und zu erfahren. Darum geht Jesus auf Thomas ein, geht hinab in die Tiefe seines Denkens und Fühlens, lässt sich auf seinen Zweifel ein.
Zweifel sind nichts Angenehmes – für den Zweifelnden nicht und für den Bezweifelten auch nicht. Aber das muss man dem Zweifelnden nicht gleich unter die Nase reiben.
Thomas will Jesus nicht nur sehen, sondern auch fühlen. Das ist radikaler Zweifel, der sich auf das verlässt, was er wahrnimmt – so, wie wir es alle tun. Thomas ist ein moderner Mensch: Es ist nichts zu sehen von einer Überwindung des Todes, von einer erneuerten, friedlichen Welt ohne Leiden und Sterben, nichts zu sehen vom Reich Gottes – wie soll Jesus dann der Retter sein?
Der Zweifel des Thomas verlangt nach Fakten, es ist ein faktenbasierter Zweifel. Dieser Zweifel weiß aber dennoch um den großen Wert des Glaubens, des Festhaltens an Jesus. Es ist ein Zweifel, der sich nach erfülltem Leben sehnt. Es ist kein Zweifel, der vor Selbstsicherheit nur so strotzt, kein Zweifel, der nur unverbindlich diskutieren will, ohne selbst wirklich betroffen zu sein und sich auf die Fraglichkeit des Lebens einzulassen. Der Zweifel des Thomas ist ein sehnsüchtiger, nach Wahrheit suchender Zweifel.
Jesus wendet sich sogleich Thomas zu und sagt zu ihm (Joh 20,27-29):
"Reiche deinen Finger hierher [in die Nägelmale] und schau meine Hände an, reiche deine Hand hierher und lege sie in meine Seite [mit der Wunde], und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!" Thomas antwortete und sagte zu ihm: "Mein Herr und mein Gott!" Jesus sagt zu ihm: "Du hast geglaubt, weil du mich gesehen hast. Selig sind, die nicht gesehen haben und dennoch glauben."
Jesus geht komplett auf die Wünsche des Thomas ein. Er bietet ihm den definitiven Faktencheck an. Doch nun fällt auf, dass im Text gar nichts davon steht, dass Thomas den Faktencheck auch durchführt. Thomas sagt auch nicht: "Es ist wirklich wahr!" oder "Du bist es tatsächlich!". Nach der Anrede durch Jesus spricht er einfach das Bekenntnis: "Mein Herr und mein Gott!"
Das Wunder, das Mirakel, dass der am Kreuz gestorbene Jesus ziemlich lebendig vor ihm steht, scheint gar nicht mehr wichtig zu sein. Wichtig ist, dass Jesus zu Thomas gekommen ist, ihn angesprochen hat und auf seine Wünsche eingegangen ist. Er hat sich ihm, dem Zweifler, zugewendet. Das reichte schon aus dafür, dass Thomas sich zu ihm bekennt. Jesu unauslöschliche Liebe hat ihn überwältigt und seine Herzenstür geöffnet. Das Wunder, dass der Tote lebendig vor ihm stand, trat demgegenüber ganz in den Hintergrund.
Die Liebe, mit der Jesus uns, den Zweiflern, begegnet, erweckt den Glauben in uns. Wenn wir Jesu Liebe erfahren, brauchen wir kein Wunder mehr. Denn Jesu Liebe ist das Wunder.
5. Vertrauen ohne Garantieschein
Nun gibt es aber ein Problem: Jesu Liebe ist nicht immer offensichtlich. Man kann durchaus an ihr zweifeln. Denn es gibt sehr viel Leid auf der Welt, und wir haben keine Garantie, davon verschont zu bleiben. Wo aber ist dann Jesu Liebe? Ist es nicht verständlich, dass wir sie nicht nur glauben, sondern auch erfahren wollen?
Ich finde das völlig verständlich. Und ich denke, Jesus hat auch Verständnis dafür. Er hat sich ja auch für den Erfahrungshunger des Thomas geöffnet. Ich glaube, dass Jesus uns deshalb immer wieder Erfahrungen seiner Liebe machen lässt. Diese Erfahrungen sind nur kein Dauerzustand. Es gibt auch immer wieder gegenteilige Erfahrungen, die wir nicht mit Jesu Liebe zusammenbringen können.
Wir leben eben nicht mehr im Paradies. Und wir leben noch nicht im himmlischen Reich Gottes. Wir leben in dieser Welt, in der es Leid und Tod gibt. In dieser Welt gibt es nicht nur Gottes Liebe, sondern auch Hass, Gewalt, Krankheit und Tod. Damit müssen wir leben.
Darum müssen wir auch damit leben, dass uns Gottes Liebe nicht beständig vor Augen ist. Sie ist zwar da, aber nicht immer sichtbar und spürbar. Sie kann uns lange Zeit verborgen sein. Im Glauben kommt es darauf an, dann nicht aufzugeben.
Es kommt auch darauf an, dass wir uns nicht ständig auf das Negative konzentrieren. Das tun wir sehr gern. Und wir werden schnell unzufrieden und zweifeln an Gottes Liebe, wenn nicht alles so läuft, wie wir es uns wünschen. Dann sagen wir: "Warum merke ich jetzt nichts von Gottes Liebe?"
Für die Liebe gibt es aber gar keinen Faktencheck. Wer garantiert mir, dass mein Partner oder meine Partnerin mich wirklich liebt? Dass er oder sie mich dauerhaft liebt? Wer garantiert mir, dass nicht alles nur Schein ist – auch wenn noch so viele Fakten für die Liebe sprechen?
Liebe lebt immer vom Vertrauen. Alle Beziehungen zwischen Menschen leben vom Vertrauen, Fakten sind dabei nur eine Krücke. Dennoch brauchen wir diese Krücke, um Vertrauen entwickeln und behalten zu können.
Jesus weiß das. Darum wendet er sich Thomas zu und ermöglicht ihm so das Vertrauen. Er wird es bei uns genauso machen. Und er sagt uns:
"Selig wirst du sein, geborgen wirst du dich fühlen, wenn du in Zeiten, in denen du meine Liebe nicht spürst, dennoch darauf vertraust, dass sie da ist."
6. Wer war Thomas?
Ich fasse kurz zusammen.
Erstens: Thomas war der Mensch mit den zwei Seelen in seiner Brust, der die zweifelnde Seele in seiner Brust nicht verdrängt hat. Auch wir müssen mit zwei Seelen in unserer Brust leben. Gut ist es, wenn wir unsere Zweifel nicht verdrängen, sondern zu ihnen stehen und sie vor Gott aussprechen. Wir brauchen keine Angst zu haben, wegen unserer Zweifel Gottes Liebe zu verlieren. Wenn wir ihn aufrichtig suchen, wird er trotz unserer Zweifel zu uns stehen.
Zweitens: Thomas war der moderne Mensch, der sich nicht auf bloße Aussagen verließ, sondern nach harten Fakten fragte. Als aufgeklärte Menschen fragen auch wir nach den Fakten und wollen sie möglichst durch Erfahrungen belegt haben. Das ist dort, wo Erfahrungsbeweise möglich sind, gut so. Liebe aber kann letztlich nicht bewiesen werden. Vertrauen ist daher immer mit einem Restrisiko verbunden. Darum sollten wir nicht das Unmögliche verlangen, einen Beweis für Gottes Liebe zu erhalten. Wir können uns aber über jede Erfahrung der Liebe Gottes freuen und unser Vertrauen zu ihm dadurch stärken lassen.
Drittens: Thomas ließ sich von Jesu Zuwendung und Liebe überzeugen und konnte dann sogar auf die harten Fakten verzichten. Nicht der Beweis für ein Wunder überwand seine Zweifel, sondern die Erfahrung, dass Jesus dem Zweifler mit Liebe begegnet.
Solche Erfahrungen der Liebe Jesu können wir auch machen. Und wir können uns durch solche Erfahrungen stärken lassen für Zeiten, in denen diese Erfahrungen ausbleiben. Solche schweren Zeiten werden kommen. Dann bleibt uns nur das Vertrauen, dass Jesus mit seiner Liebe bei uns ist, auch wenn wir nichts davon spüren. Wenn wir darauf vertrauen, werden wir auch schwere Zeiten gut überstehen – in einem Gefühl der seligen Geborgenheit.
* * * * *
* Siehe hierzu Wikipedia: Zwillinge > Anschauungen über Zwillinge in der Antike.
Verwendete Literatur: Helmut Thielicke: Ich glaube. Das Bekenntnis der Christen. Quell-Verlag, Stuttgart 1965. S. 222-239.
Grafik: Gerd Altmann auf Pixabay.
danke für diese Einblicke in die Dimensionen des Zweiflers Thomas.
Dazu meine Frage: Wie unterschiedlich hat denn eigentlich die evangelische Theologie diesen modernen Jünger bewertet? Ist Thomas heute vielleicht so etwas wie eine Vorzeigefigur für evangelische TheologInnen? Das wäre jedenfalls meine Vermutung.
Mit Dank für deine Aufklärung und herzlichem Gruss
Michael
danke für deine Rückmeldung. Leider kann ich dir die Frage nicht beantworten, wie die evangelische Theologie durch die Geschichte hindurch den Jünger Thomas beurteilt hat. Traditionell ist Thomas aber als der "ungläubige Thomas" bekannt, was darauf hindeutet, dass der Verstehensakzent auf seinem Unglauben lag. Andererseits gibt es antike Legenden darüber, dass Thomas später das nordsyrische Christentum begründet hat. Er wird wohl bis heute dort geschätzt. Außerdem gibt es ein Thomasevangelium, das aber nicht in den biblischen Kanon aufgenommen wurde. Ich denke, dass man sein Bekenntnis "Mein Herr und mein Gott" hochschätzte, nicht aber seine vorangehenden Zweifel. Zweifel und Begriffsstutzigkeit gibt es aber zuhauf unter Jesu Jüngern, das hat man schon immer gewusst, ohne diese Eigenschaften unbedingt positiv zu bewerten. Auch als Vorzeigefigur für evangelische Theologinnen und Theologen oder für Glaubende überhaupt dient Thomas nicht - dann würde der Zweifel ja als etwas Vorzeigenswertes erscheinen. So ist Thomas in der Gemeindefrömmigkeit heute immer noch als der "ungläubige Thomas" bekannt, und Zweifel werden leider vielerorts noch unter den Teppich gekehrt, als gäbe es sie nicht.
Mir geht es darum, auf die Ambivalenz des menschlichen Glaubens hinzuweisen, und dafür sprechen noch viele andere biblische Gestalten, die ich in Zukunft darstellen möchte.
Viele Grüße
Klaus
danke für diesen ausführlichen Beitrag zu meinem Namenspatron Thomas. Die allegorische Bedeutung seiner Bezeichnung als Zwilling war mir bisher nicht bekannt.
Dass er seine Überprüfung vielleicht gar nicht in dem von Jesus angebotenen Umfang ausgeführt hat, war mir bisher auch nicht aufgefallen. Vielleicht liegt das an den diversen künstlerischen Umsetzungen, bei denen er sehr wohl hinfasst.
Ich finde es jedenfalls gut, dass es auch in der Antike schon Menschen gegeben hat, die es genauer wissen wollten.
Der Unterschied zwischen dem modernen Menschen und diesem Thomas ist wohl, dass der moderne Mensch keine Möglichkeit zur empirischen Überprüfung hat. Dafür hat er ein viel weiter entwickeltes und gut bewährtes Wissen über die Natur, das m. E. sinnvoll zur Überprüfung aus der Antike berichteter Vorgänge verwendet werden kann, auch wenn sich Theologen noch so sehr und aus guten Gründen dagegen sträuben.
Viele Grüße
Thomas
danke für deine Rückmeldung. Die künstlerischen Umsetzungen der Szene scheinen das als selbstverständlich vorauszusetzen, was der biblische Text gar nicht sagt. Man kann zwar nicht immer aus dem, was nicht erzählt wird, schließen, dass es nicht stattgefunden hat, aber in dieser entscheidenden Szene denke ich schon, dass die Berührung von Johannes hätte erzählt werden müssen, wenn sie der Auslöser des Thomas-Bekenntnisses gewesen sein sollte. Die Verfasser der neutestamentlichen Schriften - und vor allem auch Johannes - waren ja nicht einfach Berichterstatter dessen, was gewesen ist, sondern "theologische Autoren", die etwas verkündigen wollten.
Ich weiß nicht, ob unsere Situation sich von der des Thomas wirklich so stark unterscheidet. Sicher, Jesus begegnet uns nicht leiblich-materiell und wir können ihn deshalb nicht mit unseren Sinnen (Tastsinn, Sehsinn) identifizieren. Ich vermute aber, dass die meisten Menschen auch heute, wenn Jesus leiblich unter uns auftreten würde und nach seiner Hinrichtung plötzlich wieder da wäre, anderen Erklärungsmustern als einer Auferweckung von den Toten den Vorzug geben würden. Wir sind ja sehr findig darin, rationale Erklärungen für das zu finden, was wir nicht wahrhaben wollen. Im Fall eines auferstandenen Jesus könnte man so rationalisieren: Es wurde ein anderer hingerichtet, er war gar nicht wirklich tot, er hat einen Doppelgänger, die Hinrichtung war nur ein von langer Hand geplanter Fake etc. An Verschwörungstheorien fehlt es ja auch heute nicht.
Viele Grüße
Klaus