Das Leben ist eine Langstreckenwanderung
Klaus Straßburg | 10/05/2023
Christine Thürmer ist 55 Jahre alt und Langstreckenwanderin. Vor 19 Jahren verlor sie ihren Management-Job. Danach begann sie, Langstrecken zu wandern: mehrere tausend Kilometer, einige Monate pro Strecke, mit mindestens fünfeinhalb Kilo Gepäck. Ihr erster Weg war der über 4000 Kilometer lange Pacific Crest Trail von Mexiko nach Kanada. Mittlerweile schreibt sie auch Bücher über ihre Wanderungen.
Thürmer hat in einem Interview der ZEIT über ihre Erfahrungen berichtet (Nr. 9 vom 23.02.2023, S. 60f). Einige davon gebe ich hier wieder.
1. Kein Zuhause
Die Extremwanderin erwähnt ihren Fußmarsch über den Oregon Trail. Dieser Weg führt 3500 Kilometer von Ost nach West über die Rocky Mountains. Es ist der Weg, auf dem im 19. Jahrhundert die Siedler im Osten und in der Mitte der Vereinigten Staaten in den noch unbesiedelten Westen zogen. Thürmer sagt über ihre Wanderung:
Im letzten Jahr bin ich den Oregon Trail gewandert, unter widrigsten Wetterbedingungen. Fast den ganzen Mai lief ich durch Schneestürme, konnte manchmal wegen des Windes mein Zelt nicht aufstellen, da kamen einige harte Prüfungen auf mich zu.
Bei diesen Sätzen dachte ich an unsere Lebenswanderung. Sie führt uns wahrlich nicht immer bequeme Wege auf ebenen Strecken, sondern oft über Berge, die kaum zu bezwingen sind, oder durch finstere Täler, die kein Sonnenstrahl erreicht. Wir müssen durch Unwetter und Stürme und glauben manchmal, es nicht zu schaffen. Wir verzweifeln, weil es keinen Platz auf Erden zu geben scheint, an dem wir unser Zelt aufschlagen können, so dass wir geschützt sind, uns sicher fühlen und ruhig schlafen können.
Dann fühlen wir uns so, wie auch Jesus sich auf Erden fühlte:
Die Füchse haben Gruben und die Vögel des Himmels haben Nester. Der Menschensohn dagegen hat nicht, wo er sein Haupt hinlegen kann.
(Mt 8,20)
Jesus hatte keinen Ort in dieser Welt, keine Geborgenheit, keine Sicherheit. Dennoch hat Gott ihn durch alles Leid und sogar durch den Tod hindurch zum Leben an seiner Seite geführt. Darum gibt es für jeden Menschen Hoffnung, der keinen Ort in dieser Welt hat: für die Kranken, Armen und Verzweifelten, für die Außenseiter und Gemobbten, für die, die anders sind als die Masse und deshalb verspottet werden. Gott sieht ihr Leid und steht zu ihnen. Wenn die Außenstehenden auch keinen Ort in der Welt haben, so bietet der Herr der Welt ihnen doch einen Wohnort bei sich an (Joh 14,2).
2. Selbsthilfe
Doch was können wir tun, wenn die Berge uns über den Kopf wachsen oder die Täler uns jedes Licht nehmen? Christine Thürmer berichtet, was sie in solchen Situationen auf ihren Wanderungen gemacht hat:
Wenn sich wirklich mal ein echtes Tief nähert, mental oder körperlich, dann erkenne ich das in der Regel rechtzeitig. Ich tue mir dann etwas Gutes, in Form von Essen etwa, oder verlasse sogar den Trail und lege einen Extra-Ruhetag ein. Bei meinen ersten Touren habe ich mich noch oft überanstrengt. Da stand ich dann manchmal heulend am Wegesrand und habe mit meinen Trekkingstöcken vor Wut auf Bäume eingeschlagen oder die Berge angebrüllt.
Das ist echte Lebensweisheit. Es gehört wohl zu unserem Größenwahn, dass wir uns regelmäßig überfordern. Besonders für diejenigen, deren Herz für eine Sache brennt, ist das eine Gefahr. Pfarrerinnen und Pfarrer stehen mit an der Spitze, wenn es um Überforderung geht. Obwohl sie doch wissen sollten, dass das Heil nicht durch sie selbst in die Welt kommt.
Wir wollen mehr, als wir leisten können, und wollen es schneller, als es uns möglich ist. Wir wollen besser sein als die anderen und streben nach Anerkennung und Erfolg. Wir hasten dem Ruhm hinterher, werden von anderen getrieben und haben nicht die Kraft, aus dem Hamsterrad zu springen. Einige ziehen die Reißleine und steigen aus. Wichtig ist, das rechtzeitig zu tun – noch bevor Körper und Geist in den Generalstreik treten. Dann geht gar nichts mehr, und es ist extrem mühsam, wieder den Normalzustand zu erreichen.
Der Schöpfer hat nach seiner Schöpfung einen Ruhetag eingelegt (Gen/1Mo 2,2f) und uns empfohlen, es ihm gleichzutun (Ex/2 Mo 20,8-11). Aber ein Ruhetag reicht manchmal nicht aus. Dann ist ein Extra-Ruhetag gefordert – eine Auszeit für Körper und Seele. Manche, denen es möglich ist, machen sogar ein Sabbatjahr daraus.
Die Psychologie rät, in Krisenzeiten sich selbst etwas Gutes zu tun. Was das ist, muss jeder Mensch für sich selbst entscheiden. Es sind keine aufwendigen Aktionen, sondern alltägliche: einen Spaziergang machen; eine Dusche oder ein Bad nehmen; sich ein gutes Essen genehmigen; die Lieblingsmusik hören; den Frust rauslassen, und sei es, dass man die Wände anschreit; den Tränen freien Lauf lassen; einen Extra-Ruhetag einlegen, wenn es möglich ist. Wichtig ist, wie gesagt, das rechtzeitig zu tun. Denn wenn der Generalstreik begonnen hat, ist selbst das nicht mehr möglich.
3. Die Entdeckung Gottes
Man muss keinen christlichen Glauben haben, um sich die nötige Ruhe zu gönnen. Die nötige Ruhe kann aber dazu führen, dass man den christlichen Glauben wiederentdeckt:
Ich schlafe unterwegs jede Nacht auf meiner Isomatte und finde am Wegesrand oft nicht einmal Bäche oder Flüsse, in denen ich mich etwas waschen könnte. Wenn ich dann an meinem wöchentlichen Ruhetag im Hotelzimmer dusche – das warme Wasser, das duftende Duschgel, der Dreck verschwindet im Abfluss: Darauf kann ich mich tagelang freuen! Ich freue mich unterwegs sehr oft an sehr einfachen Dingen. Dann liege ich nachts im Zelt und denke: Danke! Danke! Danke! Und weil man sich ja immer bei jemandem bedankt, kam irgendwann das "Danke, lieber Gott!" zurück. Ich habe so ein tolles Leben, da muss doch irgendwer schuld sein.
Was für eine Erfahrung! Ich beobachte an mir selbst, wir schwer es mir fällt, mich am Alltäglichen zu erfreuen. Das, was ich täglich habe und mir das Leben schön macht, scheint kein Grund zur Freude zu sein. Freude erweckt nur das Besondere, Außergewöhnliche. Weil aber Besonderes und Außergewöhnliches eher selten geschieht, bleibt auch die Freude oft aus.
Ich denke, dass wir das Gute, das uns täglich widerfährt, oft erst dann zu schätzen wissen, wenn es uns abhanden kommt. Wenn man sich nicht mehr waschen kann, wenn das Laufen Schmerzen bereitet, wenn eine Krankheit uns aus der Bahn wirft, wenn wir die Arbeitsstelle verlieren und das Geld ausbleibt, dann erst wird uns bewusst, wie viel Gutes wir hatten. Und dann erst lernen wir, angesichts des Guten zu sagen: "Danke! Danke! Danke, lieber Gott!"
Viele denken an den lieben Gott, wenn ihnen das Leid der Welt bewusst wird. Dann lautet die Frage: "Wenn es wirklich einen lieben Gott gibt, warum lässt er es dann zu, dass Menschen so sehr leiden müssen?" Kaum jemand denkt im Alltag: "Ich habe so ein tolles Leben, dafür will ich dem lieben Gott danken!" Es kann deshalb eine Chance der Krise sein, zum "Danke, lieber Gott!" zurückzufinden – so, wie es Christine Thürmer auf ihren Wanderungen offenbar ergangen ist. Sie ist, wie sie sagt, "durch das Wandern wieder zu einem gläubigen Menschen geworden".
Die Langstreckenwanderin hat Gott entdeckt und darin sich selbst gefunden:
Selbstfindung passiert – aber nicht so, wie Sie sich das vorstellen. Sie kommt durch dieses tiefe Glück, das Sie abends im Zelt empfinden. Weil Sie einen Bach gefunden haben, in dem Sie sich waschen konnten. Oder weil Sie irgendwo ein Eis kaufen konnten. All das führt zu tiefer Dankbarkeit. Und die ist dann die Selbsterkenntnis.
Es ist tatsächlich so: Wenn man Gott findet, findet man sich selbst. Man entdeckt sich als geliebtes Geschöpf Gottes. Man irrt nicht mehr oder weniger sinn- und ziellos durchs Leben, sondern weiß sich trotz aller Irrungen und Wirrungen auf dem Weg zu einem großen Ziel. Man erlebt die Freude darüber, unverlierbar geliebt zu sein. Man erlebt die Freiheit, die diese Liebe auslöst, und man erfährt die Vorfreude auf das große Ziel, das durch nichts auf der Welt verloren gehen kann.
Das klingt nach selbstzentrierter Religiosität. Doch wer sich in diesem Sinne selbst findet, findet auch seine Mitmenschen.
4. Zeit für andere
Ich habe, wie praktisch alle Langstreckenwanderer, mein eigenes Tempo, von dem ich ungern abweiche. Deshalb bin ich meistens allein unterwegs. Aber alles andere als einsam. Viele meiner Freunde und Bekannten haben inzwischen erkannt: Die Frau kann man immer anrufen – mit Liebeskummer, bei Jobproblemen ... Während ich Rumänien durchquerte, habe ich bestimmt 40 Stunden mit einem Bekannten telefoniert, der gerade jemanden brauchte, um die Schwierigkeiten beim Aufbau seines Start-ups zu besprechen.
"Tempo" ist ein zentrales Thema unserer modernen und digitalen Welt. Viele Menschen erleben sich als Getriebene. Oft treiben wir uns selbst an: noch mehr schaffen in noch weniger Zeit. Wenn wir etwas geschafft haben, steht bereits die nächste Aufgabe vor uns. Es scheint, als jagten wir ständig einem Ziel nach, das wir nie erreichen – obwohl wir Gottes Ziel für uns erreichen könnten, ohne ihm nachjagen zu müssen.
Wenn wir es Gott überlassen, uns seinem Ziel entgegenzuführen, werden wir befreit davon, uns durch ein übertriebenes Lebenstempo auszupowern. Das heißt nicht, dass wir nicht auch mal unser Lebenstempo erhöhen und unsere Ziele zu erreichen versuchen. Es ist gut, sich Ziele zu setzen, und es ist eine Freude, Herausforderungen zu bestehen. Die Frage ist aber, welchen Stellenwert diese Ziele für uns haben: Verfolgen wir sie mit unaufgebbarem Ernst und erbarmungsloser Strenge oder können wir sie auch zurückstellen? Haben sie absolute Gültigkeit für uns oder können wir sie zugunsten anderer Aspekte unseres Lebens relativieren? Gönnen wir uns mehr Zeit, um unsere Ziele zu erreichen? Bestimmen sie gnadenlos unser Lebenstempo oder finden wir Ruhe in der Gnade Gottes?
Nur wer in sich selbst oder in Gott ruht, kann ein Ruhepol für andere sein. Nur wer Zeit für sich selbst oder für Gott hat, hat auch Zeit für andere. Der christliche Glaube ist niemals ein Seelenwohlstand nur für den einzelnen Menschen. Er hat immer eine Offenheit für das Wohlergehen der anderen. Denn wer glaubt, hat Zeit, weil er seine Lebenszeit mit allen irdischen Zielen und dem letzen großen Ziel in Gottes Händen bestens aufgehoben weiß.
5. Unfälle auf dem Weg
Das alles bedeutet nicht, dass das Leben immer in ruhigen Bahnen verläuft. Ein solches Leben gibt es auf Erden nicht, auch wenn wir es uns noch so sehr wünschen. Auch Glaubende verlieren manchmal den Boden unter den Füßen. Christine Thürmer erzählt:
Langstreckenwandern ist prinzipiell ein risikoarmes Unterfangen. Ich mache ja keine Expeditionen in die Wildnis, sondern bin meistens auf Wegen unterwegs. Und da fühle ich mich sicherer als auf einer deutschen Autobahn. Aber ich hatte auch schon einen schlimmen Unfall. Im australischen Outback tat sich plötzlich, wie in der Bibel, unter mir der Erdboden auf. Ich stürzte in eine Höhle, die vom starken Regen der vergangenen Tage ausgespült worden war, und landete in derart tiefem Schlamm, dass ich darin versank wie in einem Moor. [...] Ich konnte mich an einer alten Baumwurzel aus dem Schlamm ziehen. Dann sah ich in der Nähe eine Farm und bat die Farmersfrau, ob ich mich kurz abspülen könne, ich müsse weiter. Die sagte nur: Du gehst heute nirgendwo mehr hin, du bleibst hier im Gästezimmer! Sie hatte sofort gemerkt, dass ich unter Schock stand. Und tatsächlich bin ich wenig später erst mal komplett zusammengeklappt.
Wie aus dem Nichts heraus kann uns der Boden unter den Füßen weggezogen werden. Gestern verlief das Leben noch in den gewohnten und von uns geplanten Bahnen – heute haben wir jeden Halt verloren. Wir stecken im Schlamm, der Schrecken ist groß, und vielleicht können wir das Schlimmste verhindern. Aber der Schlamm klebt an uns. Dann benötigen wir die Hilfe anderer. Wir brauchen einen Menschen, der uns sagt, wo es langgeht, weil wir selbst jeden Halt verloren haben.
Das kann auch Glaubenden so gehen. Sie sind vor keinem Unglück gefeit. Das einzugestehen ist wichtig, um Enttäuschungen zu vermeiden oder zumindest zu begrenzen. Wer meint, im Glauben könne ihm nichts passieren, Gott werde schon auf ihn aufpassen, irrt sich. Auch im Glauben kann uns viel passieren. Gott bewahrt uns nicht vor allem Unglück. Dann brauchen wir die Unterstützung anderer – Christen oder Nichtchristen, Menschen unseres Vertrauens. Menschen, die uns sagen, was als nächstes zu tun ist.
Der christliche Glaube ist kein Garantieschein für die Bewahrung vor Unglück. Er ist aber die Fahrkarte durch das Unglück hindurch dem Ziel Gottes entgegen.
6. Wachsender Glaube
Ein Großteil des Glücksgefühls beim Langstreckenwandern kommt daher, dass man sich Schwierigkeiten stellt und sie bewältigt. Dadurch gewinnt man Selbstvertrauen. [...] Wenn ich zurückdenke an Wanderungen, dann vor allem an Situationen, in denen es so richtig scheiße war und ich mich trotzdem durchgebissen habe. In 30 Jahren, wenn ich im Schaukelstuhl sitze, werde ich denken: Wie geil war das denn? Der Mensch, der den leichten Weg wählt, verbaut sich diese tolle Erinnerung.
Wir wachsen an Problemen, die wir bewältigen. Für den christlichen Glauben gilt: Wir wachsen im Vertrauen zu Gott, indem wir die Erfahrung machen, dass er ein verlässlicher Partner ist: Mit seiner Hilfe haben sich Probleme gelöst.
Der Gedanke liegt nah, dass es uns Wohlstands-Menschen zu gut geht, als dass wir das Gute wirklich zu schätzen wüssten. Wir wissen es erst zu schätzen, nachdem wir tief im Schlammassel gesteckt haben und ihm entkommen sind. Entsprechend könnten Christinnen und Christen sagen: Wir wissen Gottes Zuwendung erst zu schätzen, nachdem er uns aus dem Schlammassel hat entkommen lassen. Dann können wir staunend sagen: "Wie wunderbar war das denn?"
Hier gilt dann auch der Satz: "Der Mensch, der den leichten Weg wählt, verbaut sich diese tolle Erinnerung." Wer das Unglück scheut und es, wenn es dennoch eintritt, sogar Gott vorwirft, nimmt Gottes Rettung nicht wahr – auch dann nicht, wenn er das Unglück übersteht. Die Erinnerung an das überstandene Unglück lässt den Glauben wachsen, wenn wir die Rettung aus dem Unglück nicht allein uns zuschreiben, sondern mit Gott in Verbindung bringen.
Christine Thürmer hat mich mit ihren Wandererfahrungen zu Gedanken über unsere Lebenswanderung inspiriert. Ich gebe zu, dass ich selbst auch gern wandere. Deshalb war ich von Beginn an offen für Thürmers Erfahrungen und empfand eine unmittelbare Nähe zu ihnen.
Es gibt sicher noch viele weitere Gedanken über unsere Lebenswanderung, die man beim Lesen der Erfahrungen Christine Thürmers bekommen kann. Wenn dir noch andere Gedanken gekommen sind, kannst du sie mir gerne als Kommentar zu diesem Artikel mitteilen. Ich bin gespannt!
Natürlich wandere ich keine Langstrecken. Aber ich gehe bei meinen Wanderungen auch gern an meine Grenzen, und es ist für mich ein befriedigendes Gefühl, Herausforderungen bewältigt zu haben. Was Thürmer sagt, ist auch meine Erfahrung: Die schweren Erlebnisse prägen sich ein. Man erinnert sich an die Herausforderungen, die man bewältigt hat. Andererseits entdecke ich auf meinen Wanderungen auch immer wieder die Güte Gottes in den Wundern der Natur.
Manches Mal dachte ich schon: Muss nicht der Gott, der so Wunderbares geschaffen hat, ein gütiger, liebevoller Gott sein? Auch solche Erfahrungen bleiben der Erinneung über lange Zeit erhalten.
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