Befreiung statt Freiheit
Klaus Straßburg | 13/01/2022
Die Bibel erzählt Befreiungsgeschichten: Israel wird aus der Sklaverei in Ägypten befreit und aus der Versklavung an Götzen. Jesus befreit Menschen von religiöser Verirrung, von Ausgrenzung und Einsamkeit, von Besessenheit, Krankheit und Tod. Paulus kämpft um die Befreiung der Menschen von ihren vergeblichen Versuchen, sich vor Gott zu rechtfertigen.
Es ist ein erlösendes Geschenk, befreit zu werden von inneren und äußeren Unfreiheiten. Und es ist eine Selbstüberschätzung, die uns an unsere eigenen Kraftanstrengungen bindet, wenn wir uns selbst befreien wollen, ohne es zu können.
Freiheit ist nichts, was uns die Natur mitgegeben hat. Von Natur aus wollen wir frei wie Gott sein und sind doch abhängig von Trieben, Bindungen, Einflüssen, Ereignissen, Notwendigkeiten, Ängsten ...
Freiheit ist deshalb ein erlösender Gnadenakt: Gott versetzt uns in einen Freiraum, in den Liebesraum des Reiches Gottes, in dem sein Geist uns leitet und tröstet.
Wir können uns dieser Befreiung verweigern und die Unfreiheit wählen. Wir bleiben dann in einem Raum gefangen, in dem wir uns selbst, unseren Nächsten und der Schöpfung Lebensmöglichkeiten rauben. Statt für das Leben, entscheiden wir uns für den Tod. Es ist die Entscheidung eines zutiefst gestörten Menschseins, das sich für frei hält, Leben zu fördern, aber nicht anders kann, als Leben zu vernichten.
Noch leben wir zwischen den Befreiungsakten Gottes und den Zerstörungsakten dieser Welt. Manchmal sind wir auch nur insoweit frei, als wir über alle Unfreiheiten hinausblicken auf das ewige, umfassende und vollkommene Reich der Freiheit. Doch allein dieser Blick ist schon befreiend.
Es ist gut, sich immer wieder klarzumachen, dass wir nach christlichem Verständnis nicht frei sind, sondern befreit werden. Das ist ein Unterschied, über den nachzudenken sich lohnt.
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im Gebet Jesu, dass uns als komprimierte Orientierung fürs Leben dienen soll, dem "Vater-uns", sollten wir darum bitten, ... befreie uns von dem Bösen und hilf uns damit wir nicht zu dem Bösen verführt werden. Das Böse. Das Böse als illegale und ungerechte Überschreitung von Grenzen in endlichen Strukturen. Das sich aneignen von Freiheiten, die anderen gehören. Ein egoistischer und rücksichtsloser Diebstahl von Freiheiten, die andere versklavt und einschränkt. Wie schön wird es sein, wenn Lebewesen es gelernt haben mit Unterscheidungsvermögen und Weisheit sich selbst zu beschränken, so dass die Freiheiten aller ausbalanciert zum Segen und Glück aller werden.
"Diebstahl von Freiheiten, der andere versklavt und einschränkt" - das ist schön gesagt und trifft auf so viele Bereiche zu: von täglichen Kaufentscheidungen über die Weigerung, andere vor einer Infektion zu schützen, bis hin zu scheinbar hilfreicher religiöser Machtausübung. Überall ist das Böse in uns am Werk. Gelobt sei Gott, dass er uns seinen guten Geist gibt, der uns davon erlösen will!
deine kurze Meditation über Freiheit und Befreiung hat mich in seiner offenen Problematik sehr angesprochen. Trotzdem möchte ich etwas dagegen setzen: Du schreibst: "Gott versetzt uns in einen Freiraum.... . " Mit Niklas Luhmann möchte ich ergänzen und entgegnen: "Die Gegenwart versetzt uns in den Freiraum der permanenten Kommunikation...." Diese Form der "kommunikativen Freiheit" scheint etwas Unheilvolles (Fake News etc.) zu besitzen: Ich kann heute gar nicht anders als immer wieder neu zu kommunizieren. Ich bin im grunde also ein Sklave meines Kommunizierenmüssens. Wie kann ich dann aber trotzdem den Freiraum Gottes wahrnehmen? Kann ich deshalb so tun, als ob ich in zwei Welten leben würde, die jede für sich einen Sinn ergibt: die göttlichen Freiheit als Gnadengeschenk und die kommunikativen Unfreiheit, die wir der Technik zu "verdanken" haben? Oder ist diese Unterscheidung etwa zu abstrakt/theoretisch?
Ich finde: diesem Dilemma müssen wir uns stellen. Aber was folgt dann daraus?
vielen Dank für deine Stellungnahme mit wichtigen Fragen. Das ist in der Tat auch eine theologisch relevante Frage, ob wir in „zwei Welten" – ich würde sagen „zwei Wirklichkeiten" leben: einer irdischen und einer göttlichen Wirklichkeit. Die theologische Antwort ist: Nein. Es gibt nur eine einzige Wirklichkeit, die aber 1. in sich höchst spannungsvoll ist und die 2. auch noch von uns unterschiedlichen Menschen höchst unterschiedlich wahrgenommen und erlebt wird.
Der erste Punkt ist jetzt der wichtigere: Was Niklas Luhmann geschrieben hat, ist richtig, und was ich über den Freiraum, in den Gott uns versetzen möchte, geschrieben habe, ist auch richtig. Luhmann beschreibt sehr vielsagend die „Freiheit", die uns zum Kommunizieren zwingt, so dass hier, wenn ich es recht verstehe, Freiheit und Unfreiheit innander liegen: Ich bin gezwungen zu kommunizieren, und gerade dieser Zwang eröffnet mir gewisse Freiheiten. Es handelt sich also um eine Freiheit innerhalb der Unfreiheit des Kommunizieren-Müssens. Ich hoffe, Luhmann so richtig verstanden zu haben, sonst korrigiere mich bitte.
Das Kommunizieren-Müssen gehört sozusagen zu den Grundgegebenheiten unseres Daseins. Ebenso wie wir beispielsweise an Raum und Zeit gebunden sind, so sind wir auch an die Kommunikation gebunden. Nun ereignet sich Gottes Freiraum (man könnte auch mit dem biblischen Begriff sagen: Gottes Reich) ebenfalls innerhalb der Grundgegebenheiten unseres Daseins und damit auch innerhalb dieser Wirklichkeit des Kommunizieren-Müssens. Zugleich aber eröffnet sich denjenigen, die diesen Freiraum betreten (den Glaubenden), eine ihnen bisher unbekannte Dimension der Wirklichkeit, nämlich dass zu dieser Wirklichkeit eine transzendente Dimension (Gott) und das Ereignis seines Freiraums (seines Reiches) gehören. Damit ist ihnen eine neue, bisher unbekannte Existenzmöglichkeit und eine neue Perspektive auf die Grundgegebenheiten ihres Daseins gegeben.
Wenn ein Mensch diese neue Existenzmöglichkeit ergreift, bleibt er dennoch ein Mensch in der irdischen Welt mit ihren Grundgegebenheiten, die ihn begrenzen: Der Mensch muss kommunizieren, muss sich entscheiden, muss altern, muss sterben etc. Wir sind als begrenzte Menschen geschaffen, und das ist gut so. Alles dieses Müssen enthält aber, vom Freiraum Gottes aus gesehen, auch sehr viel Positives: Es ist eine Gnade, kommunizieren zu dürfen, sich entscheiden zu können, ja, auch zu altern und zu sterben (Man stelle sich nur einmal vor, man würde ewig ein Teenie bleiben oder man wüsste, dass man niemals sterben kann. Die unzähligen Vampirfilme demonstrieren ja in diesen unglücklichen Gestalten die Tragik, die darin besteht, niemals sterben zu können.).
Wenn ein Mensch nun unter dem Eindruck steht, dass zu seiner Wirklichkeit auch eine transzendente Dimension gehört, verändert sich, wie er kommuniziert, wie er sich entscheidet, wie er zu seinem Altern steht und wie er stirbt. Die neue Existenzmöglichkeit, die er ergreift bzw. von der er ergriffen wird, der Freiraum Gottes, in dem er nun existiert, verändert den Menschen nicht nur innerlich in seinem Denken und Wahrnehmen, sondern auch in seinem Handeln. Er wird dann, um in deinem Beispiel zu bleiben, keine Fake News mehr in die Welt streuen, er wird liebevoller, offener, respektvoller kommunizieren, er wird das Geschenk der Kommunikation nicht dazu missbrauchen, andere zu unterdrücken, zu verletzen, zu täuschen usw., sondern im Gegenteil um zu helfen, zu verstehen, zu trösten usw. Der Mensch ist dann befreit von allem, was Leben zerstört – nicht in Vollkommenheit, denn er wird immer wieder auch in zerstörerische Verhaltensweisen zurückfallen. Aber er wird dann, wenn er die Befreiung, die er von Gott her erfahren hat, für sich gelten lässt, wenn er sein Lebensrecht bei Gott aufgehoben weiß, also wenn er glaubt, aktuell anders handeln als in Situationen, in denen er nicht glaubt.
Kurz gesagt: Die eine Wirklichkeit, in der wir alle leben, wird unter dem Eindruck der Befreiung, die von Gott ausgeht, anders wahrgenommen, und wir fühlen, denken und handeln unter diesem Eindruck anders. Insofern werden die Begrenzungen unseres Daseins, die uns an das Lebensfeindliche binden (z.B. Fake News), aufgehoben und wir werden zum Lebensförderlichen befreit – jedenfalls immer dann, wenn wir Gottes Befreiung für uns gelten lassen und nicht wieder in die Unfreiheit zurückfallen.
Übrigens beruht auch die von Gott ausgehende Befreiung auf Kommunikation: das uns anredende Wort Gottes und unser Hören dieses Wortes und Reden mit Gott, Gottes Reagieren auf unser Reden mit ihm, das Wirken seines Geistes in uns und unser Zulassen dieses Wirkens.
Ich hoffe, dass meine Antwort auf deine Fragen verständlich war. Wenn etwas unklar geblieben ist oder du noch Einwände hast, lass es mich wissen.
das, was Du Michael antwortest, verstehe ich gut, und es gefällt mir sehr.
Danke und viele Grüße
Hans-Jürgen
vielen Dank für deine Rückmeldung. Es freut mich, dass du meine Gedanken verstehst und Gefallen daran findest.
Viele Grüße
Klaus
Danke für deine Anregungen zum Weiterdenken!
Vielleicht ist deine Formulierung "Freiheit in der Unfreiheit" noch so zu erweitern:
Die G n a d e Gottes befreit uns Menschen dazu diese Freiheit als unsere, veränderte Form von Freiheit, als Befreiung zum Leben, zu erkennen. Die Systemtheorie sieht den aktuellen Umgang mit Freiheit im Hinblick von O r d n u n g, einem Moment von Macht, die Freiheitsgrade einerseits einschränkt und Ordnung andererseits auch dann akzeptiert wird, wenn sie durch Handeln jetzt gestört und so verändert wird. Gnade ermöglicht Befreiung; Ordnung ermöglicht (auch) Veränderung. In beiden Fällen geht es um ein sich selbst und andere aktivierendes Leben mit Einschränkungen u n d Ermöglichungen...
vielen Dank für deine Ergänzung. Leider kann ich zur Systemtheorie gar nichts sagen. Die Befreiung durch Gott verstehe ich so, dass sie, wenn wir auf die den Glaubenden verheißene Zukunft blicken, aus allen weltlichen Bindungen befreit - im Blick auf ein ewiges Leben sogar vom Tod.
Zum Thema "Ordnung" fällt mir der Satz des Paulus ein: "Gott ist nicht ein Gott der Unordnung, sondern des Friedens" (1Kor 14,33). Paulus war offenbar ein Freund der Ordnung, aber nicht jeder beliebigen, sondern einer "anständigen" und friedlichen (1Kor 14,40).
besteht die Kommunikation nicht auch darin, wortlos zu handeln und mit den geistigen Worte eine materielle Realität zu prägen? Mit einem Stempel und einer Handschrift, die Wohlgefallen im Himmel auslöst. Jedes Objekt kommuniziert und das soll es auch. Der Austausch ist notwendig, damit ein Teilen möglich wird. Und all das Teilen aller Objekte, insbesondere des Guten, spiegelt ein Bild, nämlich das Wesen und die Persönlichkeit Gottes, wider. Das Ende davon ist, wir selbst sind eine Information, ein Gedanke, ein Wort, ... um so schöner, wenn ein herrliches und tröstendes Wort Gottes. Ein Wort der Freiheit zur Befreiung von Lieblosigkeiten gegenüber dem Guten.
Sie haben völlig recht: buchstäblich alles kommuniziert, wird dadurch für uns lebendig und fähig zur Anteilnahme. Doch so wie uns durch Gott ein Wort zur Befreiung erreichen kann, wird natürlich von weltlichen Mächten auch in einer Weise kommuniziert, die allein mit Begriffen Hass, Zorn und Wut erzeugen kann. Daraus folgt für uns Menschen diese menschen-gemachte gewalttätige Kommunilation durchschaubar zu machen ubd zu entwerten - und die befreienden Worte Gottes zu erkennen und anzunehmen. Ich bin dankbar, wenn es mir auch manchmal gelingt und ich mit mir selbst und anderen in ein Gespräch kommen kann.