"Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder ..."
Jesus über Kinder- und Erwachsenenwelt
Klaus Straßburg | 28/11/2023
Zwei graue Wohnblöcke nebeneinander. Zwei Eingänge pro Block, sechs Wohnungen pro Eingang. Das macht 24 Wohnungen. Einige bewohnt von alleinstehenden Frauen, wenige von kinderlosen Ehepaaren, die meisten von Ehepaaren mit mehreren Kindern.
Wenn es 15 Familien waren mit durchschnittlich zwei Kindern, dann waren wir 30 Kinder. Mädchen, Jungs, Evangelische, Katholische, Muslime. Die Eltern eines Mädchens waren Zeugen Jehovas. Sie spielte nur selten mit uns. Manchmal saß sie am Fenster und schaute uns sehnsüchtig beim Spielen zu. Ich fragte mich damals: Warum kommt sie nicht raus? Sperren ihre Eltern sie ein? Das wahrscheinlich nicht. Aber vielleicht durfte sie nicht mit uns spielen. Doch wenn sie es einmal durfte, war sie willkommen.
Die türkischen Mädchen gehörten selbstverständlich dazu,das war gar keine Frage
Wir spielten alle zusammen, egal welcher Religion oder Konfession wir angehörten. Mein bester Freund war katholisch. Die türkischen Mädchen gehörten selbstverständlich dazu, das war gar keine Frage. Niemand wäre auf die Idee gekommen, sie auszuschließen, weil sie Muslime waren.
Wir spielten Mädchen- und Jungenspiele und dachten uns nichts dabei: Seilspringen, Gummi-Twist, Himmel und Hölle, Cowboys und Indianer, Räuber und Gendarm, Völkerball, Rollschuhlaufen. Nur beim Fußball fehlten die Mädchen. Manchmal dachten wir uns Spiele aus, die es noch gar nicht gab. Der Phantasie waren keine Grenzen gesetzt.
Vor den beiden Wohnblöcken eine wilde Wiese, die nicht gemäht wurde. Manchmal sträunte ein Schäferhund durch die Wiese und machte uns Angst. Dann flohen wir in den Hauseingang. Einmal versteckte sich ein Älterer, ich weiß nicht, woher er kam, im hohen Gras und jagte uns Angst ein, indem er bedrohlich eine Sichel schwenkte. Das war gruselig. Aber wir hatten ja den Hauseingang als Zufluchtsort.
Die vielen Kinder, die Wiese, die Straße weit entfernt, die endlosen Spielideen – es war ein Kinderparadies.
Dann wurden zwei weitere Wohnblöcke gebaut, auf der wilden Wiese. Ich trauerte ein wenig um die Wiese, aber die Baustellen mit ihren Baggern waren auch interessant, und die hohen Berge von der ausgehobenen Erde waren ein dankbarer Spielort. Als die Wohnblöcke bezogen waren, kamen noch mehr Kinder dazu, wurden neue Freundschaften geschlossen.
Einmal stritten sich zwei,einer von ihnen zog plötzlich ein Messer
Natürlich gab es auch Konflikte. Einmal stritten sich zwei, einer von ihnen kam nicht aus unserer Siedlung. Er zog plötzlich ein Messer und bedrohte seinen Kontrahenten damit. Eine Minute später steckte er das Messer wieder weg. Aber dieser Ausbruch von Gewalt war ein Schock und hat sich mir eingeprägt.
Ein anderes Mal boxte mich jemand mit voller Kraft in den Magen. Das tat sehr weh, aber ich ließ mir nichts anmerken. Einige Tage später spielten wir wieder zusammen. Später rangen wir einmal miteinander, und ich konnte ihn flachlegen und mich auf ihn setzen. Das war mir Genugtuung. Wenig später war es vergessen, auch wenn er mir nie so recht sympathisch wurde.
Einmal hatten ein Spielkamerad und ich jeweils einen kurzen Ast in der Hand, mit dem wir Säbelfechten spielten. Dabei kam ich ihm etwas zu nah und schrammte seine Lippe auf. Er blutete. Ich war zutiefst erschrocken. Er aber wurde wütend und schlug auf mich ein. Ich flüchtete mich zur Haustür, und er schlug immer weiter auf meinen Rücken ein. Dann simulierte ich zu weinen. Das befriedigte ihn offenbar. Er ließ von mir ab und rannte nach Hause.
Nach der Schule griff mich einmal ein Klassenkamerad an, ich weiß nicht mehr, warum. Ich glaube, es war ein Missverständnis. Eigentlich verstand ich mich mit ihm ganz gut. Nachdem wir einige Minuten miteinander gerungen hatten, hatte ich keine Lust mehr und ließ mich extra fallen, ohne dass er meine Absicht bemerkte. Nun saß er auf mir. Ich sagte: "Du hast ja gewonnen." Das schien ihm auszureichen, und er ließ von mir ab. Ich hatte mein Ziel erreicht. Dann fuhren wir beide nach Hause, er mit dem Bus und ich mit dem Fahrrad. Ich fühlte mich erniedrigt, aber irgendwie doch als – Gewinner.
Die Sache war schnell vergessen, und wir verstanden uns wieder gut und hatten viel Spaß miteinander.
Grundsätzlich hasste ich es, mich zu prügeln. Ich konnte darin nie einen Sinn sehen, wäre auch nie auf die Idee gekommen, eine Rauferei von mir aus anzufangen.
Als ich zwölf war, zogen wir in einen anderen Stadtteil. Meine Eltern hatten ein Haus gebaut. Jetzt lernte ich die Einsamkeit kennen. Hin und wieder traf ich mich noch mit meinem besten Freund. Aber das Kinderparadies war für immer verloren.
Ich war auch kein Kind mehr. Mit dem Jugendalter kamen die Probleme. Früher gab es keine, weil die Eltern alle Probleme lösten. Jetzt, beim Erwachsen-werden, war ich selbst zuständig.
In der Schule lernten wir, alles zu hinterfragen. Nichts war mehr selbstverständlich. Alles konnte so oder auch anders verstanden werden. Die Klarheit und Eindeutigkeit war vorbei. Die Eltern als primäre Bezugspersonen traten in den Hintergrund, ohne dass es schon neue Bezugspersonen gab. Ich war auf mich allein gestellt.
Das neue Haus war schön. Aber es machte nicht glücklich. Später begriff ich: Kein Besitz oberhalb der Armutsgrenze macht glücklich. Glücklich machen uns geglückte Beziehungen.
Man muss ein Stück weit Kind sein,um am Reich Gottes teilzuhaben
In biblischen Zeiten galten Kinder als unmündig und unfertig. Sie waren noch auf dem Weg zum Erwachsensein. Sie konnten die Tora noch nicht einhalten und keine Verdienste vor Gott aufweisen. Sie konnten sich aber vertrauensvoll von Gott beschenken lassen.
Als Eltern ihre Kinder zu Jesus bringen wollten, damit er sie segnet, haben Jesu Jünger sie weggeschickt (Mk 10,13f; Lk 18,15f). Jesus ist für die Erwachsenen da, dachten sie wahrscheinlich, für diejenigen, die entscheiden konnten, was gut und böse ist und die von Jesus etwas lernen konnten. Kinder sind dazu noch zu unreif, ungebildet, unbedeutend.
Doch Jesus sah das anders und rief die Kinder zu sich. Dann sagte er ein Wort, das ihm besonders wichtig war und das er darum mit dem doppelten "Wahrlich" einleitete:
Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht annimmt wie ein Kind, wird nicht hineinkommen.
(Mk 10,15; Lk 18,17)
Damit kehrt Jesus die Erwartung der Jünger um: Die Kinder sind nicht jene, die vom Reich Gottes noch nichts wissen können, sondern im Gegenteil: Ihnen gehört das Reich Gottes (Mk 10,14; Lk 18,16; Mt 19,14). Warum? Weil man ein Stück weit Kind sein muss, um am Reich Gottes teilzuhaben.
Das Reich Gottes ist der Raum der Gegenwart Gottes, der Raum des Schalom, die Einflusssphäre Gottes, von der man in Beschlag genommen wird und in die man eintreten kann. Das Reich Gottes ist das Paradies für Kinder und Erwachsene – jetzt noch bestritten und bekämpft, im ewigen Leben aber umfassend und vollkommen.
Niemals wären wir auf die Idee gekommen,dass Jungs mehr wert sind als Mädchen,Christen mehr als Muslime
Wenn meine Kindheit so etwas wie ein Kinderparadies war, dann heißt das: Ich lebte im Vertrauen zu Gott, zu meinen Eltern und zu den anderen Kindern. Das Vertrauen zu den anderen Kindern wurde manchmal enttäuscht, aber immer neu aufgebaut. Alle waren abhängig von der Güte Gottes. Wir waren Gleiche unter Gleichen. Niemand hatte das Recht, sich hervorzuheben.
Wir Kinder sortierten die anderen nicht nach deren Religion ein. Keiner hatte mit seiner Religion dem anderen etwas voraus. Keiner stand vor Gott besser oder schlechter da (Mk 9,33-37; Mt 18,1-5; Lk 9,46-48). Es gab keine Privilegien, wir wohnten alle in einer Dreizimmerwohnung. Niemals wären wir auf die Idee gekommen, dass Jungs mehr wert sind als Mädchen, Evangelische mehr als Katholiken, Katholiken mehr als Zeugen Jehovas, Christen mehr als Muslime. Das Leben war ein Spiel, das mitzuspielen alle das gleiche Recht hatten.
Wer dieses Recht eines anderen mit Gewalt einzuschränken versuchte, jagte uns Angst ein und wurde gemieden. Wenn es doch einmal zum Konflikt kam, war er schnell wieder vergessen und vergeben, sofern der andere bereit war, sich wieder in die Ordnung einzufügen. In der Freude am gemeinsamen Spiel fanden wir wieder zusammen. Auch diejenigen, die zu Aggressionen neigten, fanden wieder einen Platz bei uns. Die Freude am Spiel siegte über ihre Lust am Streit.
Rache und Vergeltung kannten wir nicht. Sie waren keine Ideen, die das Spiel weiterführten, sondern es zerstörten. Und das Spiel musste weitergehen, denn es war unser Leben. Das Interessante am anderen, an seinen individuellen Spielideen, hatte größeren Wert als der andauernde Streit.
Bildlich gesprochen: Nach dem Streit umarmten wir uns wieder, so wie Jesus die Kinder umarmte. Wir suchten wieder die Nähe des anderen, der mit seiner Wesensart unser Leben bereicherte. Wir versuchten ihm entgegenzukommen und uns ihm zuzuneigen.
Wenn wir uns nicht auf ein Spiel einigen konnten, wurde so lange gesucht, bis alle einverstanden waren. Und wenn unser Spiel einmal an einen toten Punkt gekommen war, half uns unsere Phantasie, ihm neues Leben einzuhauchen. Wir erfanden neue Spiele, in denen für alle Platz war.
Und wenn einer sich partout nicht in diese Spielgemeinschaft einordnen wollte? Dann hatte er sich selbst aus ihr ausgeschlossen und musste ohne sie leben.
Legt eure Zukunft in die Hand dessen, der die Macht hat!Dann werdet ihr fähig zum Vertrauen, zum Kompromiss,zur Vergebung, zur Phantasie des Friedens
Jesus erinnerte an die Kinder, als er zu den Erwachsenen vom Reich Gottes sprach, vom göttlichen Schalom: Nur wer sich von diesem Schalom ergreifen lässt wie ein Kind, kann diesen Schalom erleben. Nur wer den göttlichen Schalom annimmt, wie ein Kind mit leuchtenden Augen ein großes Geschenk annimmt, kann diesen Schalom haben.
Die Erwachsenenwelt, wie wir sie gerade erleben, schafft es offensichtlich nicht, in diesem Schalom zu leben. Denn sie kennt niemanden, der das Spiel der Welt mit unsichtbarer Hand am Laufen hält. Deshalb setzt sie auf das eigene Vermögen, das in Macht, Misstrauen, Wehrhaftigkeit, Kampfbereitschaft und Vergeltung gründet.
Diese Erwachsenenwelt kann dem anderen keinen Vertrauensvorschuss gewähren, ohne den es keinen Schalom gibt. Sie setzt auf eigene Macht, die größer sein muss als die des anderen. Deshalb kann sie keinen Schritt zurückweichen aus Angst, etwas zu verlieren. Sie mag dem, der sich als gewalttätig erwiesen hat, nicht entgegenkommen, sondern legt ihn auf das Böse fest, das er getan hat. Sie beantwortet phantasie- und leblos Gewalt mit Gewalt.
Die Kinder wissen es besser, sagt Jesus. Und sie versuchen, wie gebrochen auch immer, diesen Schalom zu praktizieren.
Schaut euch die Kinder an, ruft uns Jesus zu, und lernt von ihnen! Lebt wie die Kinder: Nehmt euch nicht so wichtig, sondern nehmt den wichtig, der das Rad auch ohne euch am Laufen hält! Lasst euch doch befreien von der zerstörerischen Mühsal, mit der ihr eigenmächtig versucht, das Rad anzutreiben! Erkennt eure Machtlosigkeit an! Werdet euch eurer Abhängigkeit bewusst von dem, der euer Leben bewahrt! Legt eure Zukunft in die Hand dessen, der die Macht hat! Dann werdet ihr fähig zum Vertrauen, zum Kompromiss, zur Vergebung, zur Phantasie des Friedens. Dann werdet ihr frei von eurer todbringenden Zerstörungssucht. Und der göttliche Schalom wird euch umgreifen, das Reich Gottes, ein Stück des Paradieses auf Erden.
Ihr werdet es erleben, in aller irdischen Unvollkommenheit. Aber es wird in all seiner Unvollkommenheit tausendmal besser sein als das, was ihr eigenmächtig zustande bringt. Der Schalom Gottes ist da. Ihr müsst ihn nur ergreifen – wie die Kinder es tun.
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Foto: Alexa auf Pixabay.
Danke für deinen sehr offenen und auch sehr persönlichen Rückblick auf die Zeit der Kindheit. Eine Zeit, die nie wieder kommt , an die wir uns aber ein Leben lang immer wieder neu erinnern können...
Herzliche Grüsse
Michael
ja, die Erinnerungen ... Erst viel später ist mir bewusst geworden, dass ich eine ziemlich glückliche Kindheit hatte und wie wichtig das ist.
Viele Grüße
Klaus